Gesundheitswesen 2019; 81(07): 525-526
DOI: 10.1055/a-0951-9397
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vorhang auf!

Manfred Wildner
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim

Publication History

Publication Date:
05 August 2019 (online)

 

„Vorhang auf!“–Dieser Zuruf öffnet Bühnen und Arenen für mannigfaltige Darbietungen: für Komödien, Tragödien und anderweitige Dramen, für die Darbietungen von Heldentenören und Chören und auch für diverse Zirkuskunststücke. Im Zentrum stehen dabei die jeweiligen Akteure (engl. actors): die in den verschiedenen Rollen Handelnden, welche in vielfachen Interaktionen Heiterkeit und Betroffenheit, Ergriffenheit und innere Bewegung, bisweilen auch begeisterte Bewunderung hervorrufen. So werden die Bühnen zu Orten, wo das Wechselspiel der Akteure, wenn ihre Rollen und Persönlichkeiten verstanden sind, kleine Welten und große Geschichten entstehen lassen.


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Manfred Wildner

Kleine Welten – auch das Gesundheitswesen ist so eine, gar nicht so kleine Welt, deren Akteure und Rollenzuschreibungen verstanden werden wollen, um wiederum zu verstehen, „was gespielt wird“. Mit einem Zehntel der gesamtwirtschaftlichen Produktivität ist es sogar der größte Wirtschaftssektor, was eine Vielzahl an Akteuren und eine erhebliche Komplexität der Interaktionen erahnen lässt. In einem Versuch der verständigen Beschreibung seiner Akteure wird in einer ersten Näherung oft von einem „Akteursdreieck“ gesprochen: den Nutzern in Gestalt der Patienten/innen bzw. (un)versicherten Personen („patients/people“), den Financiers in Gestalt der gesetzlichen und privaten Versicherungen („payors“) und den diversen Leistungserbringern („provider“). Bei näherer Betrachtung dieser 3 „P“ werden rasch auch differenziertere Akteursrollen deutlich. Bei den Nutzern, also den Patienten und gesunden Personen, ist dabei im Zeitverlauf ein zunehmender Zuwachs an Autonomie zu beobachten. Im Gesundheitswesen werden ihnen mit Patientenrechten, Patientenfürsprechern, Patientenbeauftragten und politischen Rollen, z. B. in den Gremien der Selbstverwaltung einschließlich des Gemeinsamen Bundesausschusses, neue Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Exit, voice und choice sind dabei zentrale Elemente wirksamer Interessenswahrnehmung [1] [2]. Damit ist zum einen die Möglichkeit gemeint, bestehende gegenseitige Leistungsbeziehungen zur Disposition zu stellen („exit“), zum anderen die Möglichkeit, eigene Positionen in Aushandlungsprozessen zu formulieren und zu Gehör zu bringen („voice“) und durch Wahlmöglichkeiten letztlich auch autonome Entscheidungen wirksam zu treffen („choice“)–und damit auch menschliche Würde zu verwirklichen. Dass die verschiedenen Rollen des Individuums, als Patient bzw. als gesunder Versicherter, als Angehöriger oder politisch bewusster und handelnder Staatsbürger, auch zu Rollenkonflikten führen können, z. B. hinsichtlich der zu finanzierenden Leistungskatalogs einer Versichertengemeinschaft, soll nicht unerwähnt bleiben.

Bei den gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen lohnt sich für eine differenzierte Rollenwahrnehmung zunächst ein Blick auf die unterschiedlichen „Geschäftsmodelle“. Im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist die Finanzierung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch gesetzliche Vorgaben verpflichtend gestaltet. Die zahlenden Gruppen erhalten im Gegenzug erhebliche, weitgehend paritätische Mitwirkungs- und Selbstverwaltungsrechte, welche für die versicherten Arbeitnehmer unter anderem über Sozialwahlen ausgeübt werden. Leitprinzipien sind Solidarität und Bedarf, welche in der Umsetzung zu erheblichen Umverteilungen führen. Bei einer – inzwischen ebenfalls alternativ verpflichtenden – Absicherung in einer privaten Krankenversicherung (PKV) werden dem gegenüber individualisierte Risikokategorien mit differenzierter Prämienkalkulation als prospektive Schätzung gebildet: eine Art Wette auf die Zukunft. Welche Auswirkungen hierauf die sich herausbildende personalisierte Präzisionsmedizin mit einer auch (epi)genetischen Risikoprädiktion haben wird, bleibt abzuwarten. Bedeutsam ist allerdings eine bewusste semantische Differenzierung des Risikobegriffs: neben das zu kalkulierende gesundheitliche Risiko auf Seiten der Versicherten durch die Erkrankung tritt in Zukunft noch stärker als bisher das finanzielle Risiko für den Versicherer als Folge noch schwer abschätzbarer, absehbar kostspieliger innovativer, hoch individualisierter Therapieoptionen einer sich rasant entwickelnden Präzisionsmedizin. Auch hier wird das Thema soziale Gerechtigkeit („equity“) eine Rolle spielen und im Vertrauen der Versicherten in die Teilhabe an einer bestmöglichen Versorgung eine Nagelprobe erfahren.

Als dritte Akteursgruppe verbleiben die Leistungserbringer in ihrer ausgeprägten Pluralität. Der Chor aus Ärztinnen und Ärzten bzw. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Krankenhäusern und Praxen, aus Pflegenden, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden und vielen anderen spezialisierten Heil- und Hilfsberufen im ambulanten und stationären Bereich, bald auch erweitert durch neue Berufsgruppen einer digitalen (Tele)Medizin, will wohl orchestriert sein. Dass hier auch professionelle und institutionelle Interessenskonflikte insbesondere an den jeweiligen Schnittstellen der Patientenversorgung erhebliche Herausforderungen stellen, ist nicht nur vom Sachverständigenrat der Begutachtung im Gesundheitswesen in diversen Gutachten, sondern auch literarisch aufgegriffen worden [3] [4]. Nicht zu vergessen sind auch die industriellen und handwerklichen Leistungserbringer, welche erst in zweiter Linie auf der Bühne der Interaktion mit den Patienten/innen mit „Nebenrollen“ erscheinen, oder aber „Backstage“ sind: von der pharmazeutischen und Medizinprodukte-Industrie bis zum Lieferanten für Laborgerätebedarf, dem Sanitätshaus und dem orthopädischen Schuhmacher.

Last but not least ist auch eine vierte Akteursgruppe zu beachten: die politischen und administrativen Entscheidungsträger („policy maker“), allgemeiner die für eine „gute Stewardship“ im Gesundheitswesen Verantwortlichen [5] [6]. Hier stellen sich auch die zentralen Fragen von nachhaltiger und sozial angemessener Finanzierung, von bestmöglicher Ressourcenzuordnung unter Beachtung von technischer und allokativer Effizienz im Dienst an der Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit eines „gesunden Gesundheitswesens“ (so §70 SGB V für die GKV). Hierzu gehört eine ausgewogene Verteilung von Lasten und Ressourcen, wie sie z. B. eine auf soziale Gerechtigkeit abzielende Umverteilung anstrebt. In Deutschland ist das u. a. der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich zwischen Kassen, in anderen Ländern Europas werden auch anderweitige Umverteilungen zugunsten vulnerabler Gruppen und Regionen vorgenommen. Klug abzuwägende Handlungsalternativen betreffen dabei auch die Zuordnung der Ressourcen zu proaktiven Handlungsfeldern wie Gesundheitsschutz, Krankheits- bzw. Risikofaktorprävention und Gesundheitsförderung gegenüber den auf bereits eingetretene Krankheiten und Funktionseinschränkungen reagierenden Handlungsfeldern von Therapie und Pflege im stationären und ambulanten Bereich sowie Maßnahmen der Rehabilitation [7]. Dass kluge Entscheidungen nicht immer leicht sind, weiß jeder in Entscheidungsverantwortungen Stehender: „Entscheiden Sie wie Sie wollen, aber entscheiden Sie richtig…!“ ist die oft unausgesprochene Erwartung. Die Akteursgruppen im Gesundheitswesen sind damit besser „dreidimensional“ in der vierstelligen Beziehungskonstellation einer Akteurs-Pyramide abzubilden und mnemotechnisch als patient, payor, provider und policy maker zu vergegenwärtigen denn als Akteursdreieck. Allerdings kann auch dies nur eine Annäherung in einem komplexen Zusammenspiel sein – im Konkreten ist eine sorgfältige, den Fragestellungen in ihrer Komplexität jeweils angemessen differenzierte Analyse angezeigt.

Solche Analysen will auch im Zusammenhang mit konkreten Fragestellungen diese Ausgabe unserer Zeitschrift beisteuern, mit den Themen Qualitätsindikatoren für Primary-Health-Care-Einrichtungen in Österreich, Horizon Scanning im Gesundheitswesen in Deutschland, intragenerationale Mobilität und subjektive Gesundheit (SOEP) von 1992–2012, einem Review zur Krankheitslast durch Campylobacter spp., ethischen Perspektiven der Impfungen von Kindern gegen die saisonale Influenza, Aspekten der Notfall-Kontrazeption in Albanien, einer Übersicht über die Organisation des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienstes in Deutschland, einer qualitativen Studie zu Versorgungsungleichheiten aus Patientensicht und einem Beitrag zu Perspektiven einer evidenzbasierten Klinischen Sozialarbeit.

Um am Ende zum Anfang zurückzukommen: „Vorhang auf!“–diese Aufforderung gilt im Gesundheitswesen in einem doppelten Sinn. Gemeint ist hier auch die Schaffung von Transparenz in verschiedener Hinsicht: bezogen auf die Qualität der Leistungserbringung hinsichtlich Wirksamkeit in der realen Versorgung, ihren Risiken und Kosten, bezogen auch auf die Rollen der Akteure, ihre Zuständigkeiten und ihre Fähigkeit, über Zuständigkeiten hinaus zum Gesamtspiel beizutragen, bezogen auch auf Lobbyarbeit und Einflussnahmen auf Entscheidungsprozesse auf der Mikroebene der individuellen Versorgung wie auch auf der Meso- und Makroebene der institutionellen und politisch-administrativen Entscheidungen. Und nicht zuletzt ist damit auch die Transparenz für die Patientinnen und Patienten, Versicherten und Bürger selbst gemeint–vor dem real wohl immer nur partiell eingelösten Anspruch, dass deren Leben, Gesundheit und Würde als gesellschaftliche Höchstwerte unserer geltenden Verfassung(en) Ziel, Mitte und Maß allen Handelns sind [8] [9].


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  • Literatur

  • 1 Hirschman AO. Exit, Voice and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations and States. Harvard University Press; Cambridge MA: 1970
  • 2 Wildner M, den Exter AP, van der Kraan W. The changing role of the individual in social health insurance. Figueras J, Busse R, Saltmann R. (eds.) Social Health Insurance. Buckingham: Open University Press; 2004: 248-263
  • 3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Gutachten 2018: Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. URL https://www.svr-gesundheit.de/fileadmin/user_upload/Gutachten/2018/SVR-Gutachten_2018_WEBSEITE.pdf download 04.07.2019
  • 4 Hürlimann T. Meine Reise ins eigene Innere. https://www.nzz.ch/feuilleton/thomas-huerlimann-ueber-seine-krebserkrankung-eine-spital-odyssee-ld.1476904 download 25.06.2019
  • 5 Saltman RB, Ferroussier-Davis O. The concept of stewardship in health policy. Bulletin World Health Org 2000; 78: 732-739
  • 6 World Health Organization. Stewardship. URL https://www.who.int/ healthsystems/stewardship/en/ Zugang 2019/06/28
  • 7 Konsens der länderoffenen Arbeitsgruppe zu einem Leitbild für einen modernen Öffentlichen Gesundheitsdienst – Leitbild für einen modernen Öffentlichen Gesundheitsdienst: Zuständigkeiten. Ziele. Zukunft. Gesundheitswesen 2018; 80: 679-681
  • 8 Wildner M, Zöllner H. Ethik staatlichen Handelns im Dienst der Bevölkerungsgesundheit. In: Schröder-Bäck P, Kuhn J. (Hrsg.) Ethik in den Gesundheitswissenschaften – Eine Einführung. Landsberg, BeltzJuventa. 2016: 147-164
  • 9 Deutscher Ethikrat . Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung. Berlin: Deutscher Ethikrat; 2011

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Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim

  • Literatur

  • 1 Hirschman AO. Exit, Voice and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations and States. Harvard University Press; Cambridge MA: 1970
  • 2 Wildner M, den Exter AP, van der Kraan W. The changing role of the individual in social health insurance. Figueras J, Busse R, Saltmann R. (eds.) Social Health Insurance. Buckingham: Open University Press; 2004: 248-263
  • 3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Gutachten 2018: Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. URL https://www.svr-gesundheit.de/fileadmin/user_upload/Gutachten/2018/SVR-Gutachten_2018_WEBSEITE.pdf download 04.07.2019
  • 4 Hürlimann T. Meine Reise ins eigene Innere. https://www.nzz.ch/feuilleton/thomas-huerlimann-ueber-seine-krebserkrankung-eine-spital-odyssee-ld.1476904 download 25.06.2019
  • 5 Saltman RB, Ferroussier-Davis O. The concept of stewardship in health policy. Bulletin World Health Org 2000; 78: 732-739
  • 6 World Health Organization. Stewardship. URL https://www.who.int/ healthsystems/stewardship/en/ Zugang 2019/06/28
  • 7 Konsens der länderoffenen Arbeitsgruppe zu einem Leitbild für einen modernen Öffentlichen Gesundheitsdienst – Leitbild für einen modernen Öffentlichen Gesundheitsdienst: Zuständigkeiten. Ziele. Zukunft. Gesundheitswesen 2018; 80: 679-681
  • 8 Wildner M, Zöllner H. Ethik staatlichen Handelns im Dienst der Bevölkerungsgesundheit. In: Schröder-Bäck P, Kuhn J. (Hrsg.) Ethik in den Gesundheitswissenschaften – Eine Einführung. Landsberg, BeltzJuventa. 2016: 147-164
  • 9 Deutscher Ethikrat . Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung. Berlin: Deutscher Ethikrat; 2011

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