ergopraxis 2019; 12(06): 40-42
DOI: 10.1055/a-0883-2226
Perspektiven
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

„Ich liebe diesen Beruf so sehr, dass ich dafür kämpfen werde“ – Rieke Guhl

Rieke Guhl
,
Madita van Hülsen

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Publication Date:
07 June 2019 (online)

 

    Wenn sie über ihren Beruf spricht, fangen Rieke Guhls Augen an zu leuchten. Und sie kämpft für das, was sie liebt: Ergotherapie! Denn die Hamburgerin möchte dringend etwas an den Arbeitsbedingungen von Heilmittelerbringern verändern. Den Anfang machte sie 2018 mit der Kreideaktion, die durch alle Medien ging. Warum sie trotzdem über eine berufliche Pause nachdenkt, hat sie ergopraxis im Interview erzählt.


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    Abb.: F. Quandt [rerif]

    Rieke, was bedeutet dir dein Beruf?

    Ergotherapeutin zu sein ist für mich ein absoluter Traumberuf, weil ich Menschen ein Stück auf ihrem Lebensweg begleiten darf. Es ist wirklich ein Geschenk, meine Klienten unterstützen zu können. Ich bekomme von ihnen unglaublich viel Wertschätzung zurück.

    Weiß der Otto Normalverbraucher eigentlich, was Ergotherapie ist?

    Wenn ich Menschen erzähle, dass ich Ergotherapeutin bin, fragen einige: „Das ist doch so was mit Massieren, oder? Wie Physiotherapie, nur anders, richtig?“ Die meisten haben aber keine Idee. Deshalb habe ich vor zwei Jahren bei Instagram das Profil „ergotherapie_to_go“ eingerichtet. Hier möchte ich Aufklärungsarbeit leisten und erklären, was Ergotherapeuten genau machen, welche Möglichkeiten es gibt, um Menschen zu helfen, und welcher Sinn hinter der Ergotherapie steckt. Dadurch den Blick der Öffentlichkeit auf uns Ergotherapeuten zu verändern ist mir sehr wichtig geworden.

    Hast du eine ganz besondere Geschichte mit deinen Klienten erlebt, die du gerne teilen möchtest?

    Ich baue zu jedem Klienten eine besondere Bindung auf, aber ich würde gerne von einer 83-jährigen Dame erzählen. Sie hatte vor acht Jahren einen Verkehrsunfall, bei dem sie eine schwere Kopfverletzung erlitt. Daraufhin lag sie monatelang im künstlichen Koma. Zurück blieben starke motorische und kognitive Einschränkungen, sodass sie seitdem auf ergo- und physiotherapeutische Behandlung im häuslichen Umfeld angewiesen ist. Als ich sie vor einem Jahr kennenlernte, fielen mir direkt die wunderschönen Bilder an ihren hohen Wänden auf, die sie selbst gemalt hatte. Als ich sie fragte, ob sie nach ihrem Unfall noch zeichnen würde, antwortete sie sofort: „Nein, das kann und will ich nicht mehr.“

    Nun hatte ich es gewagt, sie mit ihrem alten, künstlerischen Leben zu konfrontieren. Dabei hatte ich zwar ein mulmiges Gefühl, wir beide sind aber mit der Zeit zusammengewachsen, und ich habe gespürt, wie viel ihr das Malen bedeutet. Wie durch einen Zufall gab es ein Bild in ihrer Wohnung, das sie damals nicht fertiggestellt hatte. Ich habe es vergrößern lassen, damit der erste Malversuch möglichst ein Erfolg wird. Natürlich wusste ich, dass sie nicht sofort wieder so zeichnen kann wie früher. Mein Gedanke war aber: Wenn sie es schafft, ihr altes Bild nach acht Jahren auszumalen, dann ist das ein Riesenerfolg für uns beide!

    Als ich das Bild mitbrachte, schaute die Klientin erst einmal recht zögerlich. Dann nahm sie ihre Stifte in die Hand, und alles ging wie von allein. Das war einer der berührendsten Momente meiner beruflichen Laufbahn!

    Was ist an deiner Arbeit so besonders?

    In meinem Beruf als Ergotherapeutin betrachte ich den Menschen vor mir und nicht nur die Person, die schwer krank ist. Ich verlasse mich oft auf mein Bauchgefühl und mache auch mal Sachen, die vielleicht nicht ganz normal sind. Wenn man eigene Ideen hat, kann man als Ergotherapeutin seinen Joballtag wirklich sehr schön gestalten. Und ich habe gemerkt, dass die Dinge, die ich neu ausprobiere, einen feinen Unterschied machen, weil sie den Klienten intrinsisch motivieren und ihm so wirklich helfen.

    Ich versuche immer, mich in die Lage der Person vor mir hineinzuversetzen, und stelle mir Fragen wie „Wenn ich jetzt an seiner Stelle wäre, was würde ich mir wünschen?“, oder „Was ist es, das ihn im Innersten bewegt und antreibt?“. Und das ist sehr individuell. Jeder Klient hat andere Ziele, und es gilt diese herauszufinden und zu respektieren.

    Wenn du einen Wunsch frei hättest, was wäre das?

    Das ist eine große Frage. Wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich im Moment eher bei der Frage „Was mache ich hier eigentlich?“. Diese Frage stellen sich wohl viele Therapeuten gelegentlich. Ich stellte sie mir in den vergangenen Monaten tatsächlich öfter.

    Ich kann mir mein Leben mit 26 Jahren nicht leisten, und ich lebe bestimmt nicht auf großem Fuß. In drei Jahren Ausbildung habe ich 13.000 Euro bezahlt. Danach habe ich Fortbildungen für 8.000 Euro gemacht, von denen ich nur 4.000 Euro selbst übernommen habe, da ich von meinen Arbeitgebern Unterstützung erhalten habe. Diese Fortbildungen habe ich mitunter in meinem Urlaub gemacht, da die fünf Tage Bildungsurlaub nicht genügen. Wenn ich das alles betrachte und befürchten muss, dass mir die Altersarmut bevorsteht, frage ich mich ernsthaft: „Was mache ich hier? Ist das der Dank dafür, dass ich mich dafür entschieden habe, Menschen zu helfen und eine kompetente Ergotherapeutin zu sein?“

    Welche Antwort hast du auf diese Frage – was fehlt dir?

    Mir fehlt die finanzielle Wertschätzung für meinen Beruf seitens der Politik und der Krankenkassen. Wir haben täglich so viel Verantwortung und sorgen dafür, dass große und kleine Menschen wieder am Leben teilnehmen können, dass sie wieder arbeiten und weiterhin in ihrem häuslichen Umfeld leben können.

    Um etwas zu verändern, steht für mich an erster Stelle die Erhöhung der Vergütung durch die Krankenkassen um 30 Prozent, die bereits von mehreren Politikern gefordert wurde. Als Zweites wünsche ich mir die deutschlandweite Umsetzung der Schulgeldfreiheit und Reformierung der Ausbildung, auch im Hinblick auf die Akademisierung.

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    „Um etwas zu verändern, müssen wir auf die Straße gehen und laut sein“
    Abb.: F. Quandt [rerif]

    Hast du im Moment überhaupt noch Lust, als Ergotherapeutin zu arbeiten?

    Früher hat mir der Beruf wirklich sehr viel gegeben, auch wenn er sehr intensiv ist. Ich konnte mir gar nichts anderes vorstellen, als Ergotherapeutin zu sein. Ich war glücklich und zufrieden, und das Positive hat überwogen. Im Moment hält es sich die Waage. Das ist mir persönlich zu wenig. Ich bin jetzt Mitte zwanzig und seit fünf Jahren Ergotherapeutin. Ich brenne für diesen Beruf. Es kann und darf einfach nicht wahr sein, dass ich nach dieser kurzen Zeit schon an meinem Traumjob zweifle. Darüber muss ich erst einmal in Ruhe nachdenken.

    Daher mache ich dieses Jahr eine berufliche Pause. Die ganzen tollen Momente mit meinen Klienten sind zwar wundervoll. Aber ich bin zurzeit an einem Punkt angekommen, wo die positiven Erlebnisse einfach nicht mehr ausreichen. Das macht mich sehr traurig, und das muss ich erst einmal verarbeiten.

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    Ergotherapeutin Rieke Guhl ermöglichte es einer Klientin, nach vielen Jahren wieder ihrer Leidenschaft zum Zeichnen nachzugehen.
    Abb.: R. Guhl

    Was stört dich an der jetzigen Situation am meisten?

    Ich versuche wirklich gerne, aus eigener Kraft etwas zu verändern, und trotzdem glaube ich, dass wir Ergotherapeuten dringend mehr Unterstützung brauchen. Manchmal habe ich das Gefühl, die Krankenkassen und die Politik verstehen gar nicht, dass sie mit uns Ergotherapeuten richtig viel Geld einsparen können. Wir können Pflege verhindern! Wir machen die Menschen wieder arbeitsfähig! Wir sorgen dafür, dass sie keine oder weniger Medikamente benötigen! Hier spart man einfach am komplett falschen Ende.

    Seit April 2019 gibt es in Hamburg die kostenfreie Ausbildung. Das haben wir auch dir zu verdanken. Wie hast du das geschafft?

    Zunächst war ich im November 2018 in Schleswig-Holstein auf der Demo für Schulgeldfreiheit vor dem Landtag in Kiel. Dort habe ich das erste Mal als Aktivistin in der Öffentlichkeit gesprochen, und es wurde die Schulgeldfreiheit für Schleswig-Holstein erwirkt. Das war natürlich ein Riesenerfolg! Als ich dann zurück nach Hamburg kam, merkte ich plötzlich, dass ein richtiger Sturm losgetreten worden war. Mein Telefon stand nicht mehr still, und ich war auf einmal für die Berufsfachschulen in Hamburg die Ansprechpartnerin in Sachen Schulgeldfreiheit.

    „Schon nach 5 Jahren am Beruf zweifeln – das darf nicht sein.“

    Ich dachte mir, bevor wir in Hamburg auf die Straße gehen, rufe ich erst mal die Politiker an, frage, wie weit sie sind, und erzähle ihnen, dass die Luft in Hamburg brennt. Dann habe ich auf der einen Seite mit den Politikern und auf der anderen Seite mit den Schulen zusammengearbeitet. Und all das neben meinem Vollzeitjob – das war wirklich eine krasse Zeit.

    Was können die Therapeuten tun, um dazu beizutragen, dass sich etwas ändert?

    Die Ergotherapeuten müssen laut bleiben! Das ist wahnsinnig wichtig. Jeder Einzelne muss sich mit der Berufspolitik auseinandersetzen und sich fragen: „Was kann ich als Einzelperson dafür tun, dass sich etwas verändert?“ Denn wenn du nicht weißt, was die Politik beschließt, kannst du auch nicht aktiv werden. Wir müssen weiterhin auf die Straße gehen, sonst verändert sich nichts.

    Wie bist du zu dieser mutigen Kämpferin geworden?

    Ich habe eine Dyskalkulie, das ist eine Rechenschwäche. In meiner Schulzeit war ich der Unwissenheit und dem Unverständnis meiner Lehrer ausgeliefert. Es war keine schöne Zeit, aber meine Eltern waren immer für mich da und haben mich sehr unterstützt. Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass die Verwaltungsvorschriften für Legasthenie und Dyskalkulie zum Vorteil für die betroffenen Kinder in der Schule angepasst wurden. Zusätzlich setzte sie sich erfolgreich für die Sanierung der Grundschule ein, die ich besuchte. Ich glaube, diese kämpferische Seite habe ich von ihr, denn sie lässt auch erst locker, wenn sie ihr Ziel erreicht hat. Und auch ich kann und will einige Dinge nicht hinnehmen, deshalb versuche ich etwas zu bewegen und zu verändern.

    Wenn ich heute auf meine Schulzeit mit der Dyskalkulie zurückblicke, kann ich sagen, dass mich diese sehr geprägt hat. Alle negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit sind in den Jahren zu einem unfassbar großen Schatz geworden, den ich in mir trage. Diese Zeit hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin, und darüber bin ich sehr froh.

    Woher nimmst du deine ganze Kraft?

    Aus der Liebe zu meinem Beruf. Ich liebe diesen Beruf so sehr, dass ich dafür kämpfen werde.

    Das Gespräch führte Madita van Hülsen.


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    Abb.: F. Quandt [rerif]
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    „Um etwas zu verändern, müssen wir auf die Straße gehen und laut sein“
    Abb.: F. Quandt [rerif]
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    Ergotherapeutin Rieke Guhl ermöglichte es einer Klientin, nach vielen Jahren wieder ihrer Leidenschaft zum Zeichnen nachzugehen.
    Abb.: R. Guhl