Pneumologie 2019; 73(06): 374-376
DOI: 10.1055/a-0768-9197
Historisches Kaleidoskop
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein Pionier der Anatomie – Der Marburger Arzt und Ordinarius Dryander (1500 –1560) und die anatomische Darstellung der Lunge

A Pioneer of Anatomy – Dryander of Marburg (1500 –1560) and the Anatomic Illustration of the Lung
U. Koehler
Klinik für Innere Medizin, SP Pneumologie, Intensiv- und Schlafmedizin, Philipps-Universität, Marburg
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Ulrich Koehler
Klinik für Innere Medizin
SP Pneumologie, Intensiv- und Schlafmedizin
Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH
Baldingerstraße 1
35033 Marburg

Publication History

eingereicht 22 October 2018

akzeptiert 23 October 2018

Publication Date:
07 December 2018 (online)

 

Noch heute umfasst die medizinische Ausbildung die Zergliederung (Sektion) menschlicher Körper. Erst mit der Eröffnung des toten Körpers konnten und können wahre Erkenntnisse über das „Innenleben“ des Organismus erworben werden. Sektionen menschlicher Leichen waren im Mittelalter keinesfalls durchgängig verboten, wurden jedoch vergleichsweise selten durchgeführt. Das klassische Sektionsszenario zu damaliger Zeit war streng nach der Lehrmeinung Galens ausgerichtet. Nicht etwa Erkenntnisgewinn und eine eigene differenzierte Betrachtung haben im Vordergrund gestanden, sondern die Reproduktion und Bestätigung des Vorgegebenen. Der Hochschullehrer zitierte Galen, der Prosektor zergliederte nach dessen Anweisung und die Studenten vernahmen das gesprochene Wort. Eine Vielzahl anatomischer Irrtümer der nicht anzuzweifelnden Autorität des Galen wurde somit konsequent fortgeführt. Exakte Kenntnisse der menschlichen Anatomie lassen sich bei Galen nicht finden. Erst mit dem anatomischen Werk des Flamen Andreas Vesalius (1414 – 1564) wurde die Anatomie revolutioniert und die dogmatische Theorie des Galen ins Wanken gebracht.

Die Philipps-Universität in Marburg, die älteste protestantische Universität Deutschlands, wurde von Landgraf Philipp dem Großmütigen 1527 gegründet. Sie beherbergte die medizinische, juristische, theologische und philosophische Fakultät. Der erste Ordinarius der Medizinischen Fakultät war Euricius Cordus, mit deutschem Namen Heinrich Hallenberger (1486 – 1535). Der Ruhm des Marburger Medizingelehrten Dryanders ist v. a. durch seine Tätigkeit als Anatom und medizinischer Praktiker begründet. Dryander, mit bürgerlichem Namen Johannes Eichmann (1500 – 1560), war einer der ersten Anatomen, der seine Lehrschriften mit Illustrationen versehen hat ([Abb. 1]). Mithilfe bildlicher Darstellung hat er versucht, den Verlauf der menschlichen Zergliederung (Sektion) für seine Studenten nachzustellen.

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Abb. 1 Dryander (1500 –1560).

Johannes Eichmann wurde am 27. Juni 1500 in Wetter, nicht weit von Marburg entfernt, geboren und ging auch dort zur Schule. Er studierte an den Universitäten Erfurt, Bourges und Paris Medizin und Mathematik und erlangte 1533 die medizinische Doktorwürde an der Universität Mainz. Im Anschluss an die Promotion wurde Dryander Leibarzt des Erzbischofs Johannes von Metzhausen in Koblenz und Trier. Nach der Ordinariatszeit von Euricius Cordus hatte sich der Kanzler des Landgrafen Philipp darum bemüht, Dryander als Nachfolger von Euricius Cordus für die vakante Stelle in Marburg zu gewinnen. Johannes Meckbach (1495 – 1555), Leibarzt von Landgraf Philipp, wurde Dryander jedoch vorgezogen. Nach Johannes Meckbach wurde Dryander jedoch 1535 als Professor für Medizin und Mathematik an die Universität von Marburg berufen. Dryander war in Erfurt Famulus von Euricius Cordus gewesen. Er trat für eine Medizinalreform der Landgrafschaft Hessen-Kassel ein und führte 1539 die Leprosenschau ein. Neben der Medizin interessierte er sich v. a. für die Mathematik, die Geografie und die Astronomie. Er war Verfasser verschiedenster Lehrbücher und Schriften.

Im Mittelalter wurden Sektionen menschlicher Leichen vergleichsweise selten durchgeführt, sie waren von der Kirche nicht gewollt. Die Zergliederungen menschlicher Körper durch Dryander gehören zu den frühesten, die in Deutschland bekannt geworden sind. Zwischen 1535 und 1558 gab es in Marburg 4 öffentliche Sektionen (Anatomia publica), die von Dryander durchgeführt wurden. Entsprechend einer Vorgabe des Landgrafen Philipp war es erlaubt, jährlich ein- bis zweimal Leichname von Verbrechern zu zergliedern.

Der anatomische Unterricht in Marburg fand in einem Raum des Collegium medicum im ehemaligen Franziskanerkloster am Barfüßertor statt. Die Franziskaner mussten ihr Kloster nach Einführung der Reformation in Marburg 1528 verlassen. Die medizinische Fakultät blieb an diesem Ort für annähernd 250 Jahre. Dryander hat sich in seiner Marburger Amtszeit engagiert für die Verbesserung der medizinischen Lehre sowie eine Reform des Medizinstudiums eingesetzt und sich um Verbesserungen des Medizinalwesens bemüht. Er verlangte eine praktische Ausbildung der Studenten. Diese war ihm ebenso wichtig wie das Lernen aus alten Schriften. Dryander hat keine Gelegenheit versäumt, medizinische Scharlatane und Kurpfuscher in die Schranken zu weisen, „die unerfarnen Kaelberaerzte, Landstreicher und Leudbescheißer!“ Unter seinen Kollegen hat er großes Ansehen genossen und wurde mehrfach zum Rektor der Universität gewählt. Bis zu seinem Tode am 20.12.1560 hat er in Marburg gelehrt. Dryander praktizierte und lehrte nicht nur an der medizinischen Fakultät in Marburg, sondern auch an den Landesspitälern Kloster Haina und Merxhausen.

Dryander ist somit durchaus ein Pionier in der Geschichte der anatomischen Abbildung. Seine anatomischen Drucke waren ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Etablierung der anatomischen Illustration. Die in Holzstiche umgesetzten Zeichnungen wurden von Georg Thomas von Basel angefertigt. Thomas war ein lokaler Maler, Kupferstecher und Bildhauer, der nahezu alle Stiche und Drucke für Dryander angefertigt hat. In der 1. Ausgabe „Anatomia capitis humani“ (1536) wurden vorwiegend anatomische Drucke des Schädels und des Gehirns veröffentlicht. In der 2. Ausgabe „Anatomia, hoc est corporis humani dissectionis pars prior“ (1937) wurde das Buch um Abbildungen des Brustkorbs, des Herzens, der Lunge etc. erweitert. Die den Text illustrierenden Holzschnitte gelten als Zeugnisse der beginnenden exakten anatomischen Darstellung. Auf [Abb. 2] erkennt man die Trachea, die Lunge und das Bronchialsystem. „INEVITABILE FATUM“ bedeutet „unvermeidliches Schicksal“ und ist ein Wahlspruch Dryanders gewesen. Im 16. Jahrhundert war es üblich, anatomischen Abbildungen Leitsätze beizufügen, die an die Hinfälligkeit des Lebens erinnern sollten.

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Abb. 2 Darstellung der Atmungsorgane (Holzschnitt); Ansicht von posteriorA = Trachea mit KnorpelspangenB = Ösophagus (oberer Anteil)C und D = rechter und linker HauptbronchusE = BronchialsystemF = unterer HerzanteilG = AortaH = PericardI = unterer Ösophagus, zieht durch das DiaphragmaK = DiaphragmaL = Ösophagus (mittlerer Anteil)M,N,O = Blutgefäße

Als einer der ersten hat der Arzt und Anatom Mondino de Luzzi (1275 – 1326), der in Bologna Medizin lehrte, Lehrsektionen durchgeführt und darüber Schriften verfasst. Er war wohl auch der erste Anatom in Europa, der den systematischen Anatomieunterricht unter Einbeziehung von Lehrsektionen in die Ausbildung einführte. Mondino veröffentlichte 1316 sein Werk Anathomia, eine Sammlung praktischer Sezierübungen, welches unter dem Titel „Anathomia Mondini“ zuerst 1475 in Padua gedruckt wurde.

1541 haben Dryander und sein Verleger Christian Egenolph das Buch „Anathomia Mondini“ von Mondino de Luzzi übersetzt und eigene Holzschnitte zur Illustration eingebunden ([Abb. 3]). Die Tatsache, dass auch Drucke von Berengario und Phrysen sowie Tafeln der „Tabulae anatomiae sex“ des Andreas Vesalius in das Buch übernommen wurden, hat Dryander den Vorwurf der Plagiierung eingebracht. Bis zur Veröffentlichung von Vesals „De humani corporis fabrica“ war die „Anathomia Mondini“ das maßgebliche Lehrbuch auf dem Gebiet der Anatomie. Im Vergleich zu der übersetzten und erweiterten Ausgabe „Anatomia Mundini“ von Dryander (1541) gab es jedoch noch keine Illustrationen im originären Manuskript. Dies ist der besondere Verdienst des Marburger Arztes und Anatomen gewesen.

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Abb. 3 Die „Anatomia Mundini“ nach Dryander (Marburg 1541; Verleger Christian Egenolph).

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Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Mein besonderer Dank gilt Herrn Fritz-Dieter Söhn, Marburg, für die freundliche Unterstützung bei der Literatur- und Bildrecherche.

  • Literatur

  • 1 Hanigan WC, Ragen W, Foster R. Dryander of Marburg and the First Textbook of Neuroanatomy. Neurosurgery 1990; 26: 489-498
  • 2 Allwork SP. Dryander of Marburg’s woodcut (The oldest transposition). Eur J Cardiology 1976; 4: 105-107
  • 3 Di Matteo B, Filardo G, Presti ML. et al. Art in Science: Mondino de’ Liuzzi: The Restorer of Anatomy. Clin Orthop Relat Res 2017; 475: 1791-1795
  • 4 Rengachary SS, Colen C, Dass K. et al. Development Of Anatomic Science In The Late Middle Ages: The Roles Played by Mondino De Liuzzi And Guido Da Vigevano. Neurosurgery 2009; 65: 787-793
  • 5 Roberts KB, Tomlinson JDW. The Fabric of the Body. European Traditions of Anatomical Illustration. Clarendon Press; 1992
  • 6 Dryander, Johannes. Deutsches Biographisches Archiv (DBA).
  • 7 Anatomia capitis humani. Marburg: 1536
  • 8 Anatomiae, hoc est, corporis humani dissectionis pars prior. Marburg: 1537

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Ulrich Koehler
Klinik für Innere Medizin
SP Pneumologie, Intensiv- und Schlafmedizin
Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH
Baldingerstraße 1
35033 Marburg

  • Literatur

  • 1 Hanigan WC, Ragen W, Foster R. Dryander of Marburg and the First Textbook of Neuroanatomy. Neurosurgery 1990; 26: 489-498
  • 2 Allwork SP. Dryander of Marburg’s woodcut (The oldest transposition). Eur J Cardiology 1976; 4: 105-107
  • 3 Di Matteo B, Filardo G, Presti ML. et al. Art in Science: Mondino de’ Liuzzi: The Restorer of Anatomy. Clin Orthop Relat Res 2017; 475: 1791-1795
  • 4 Rengachary SS, Colen C, Dass K. et al. Development Of Anatomic Science In The Late Middle Ages: The Roles Played by Mondino De Liuzzi And Guido Da Vigevano. Neurosurgery 2009; 65: 787-793
  • 5 Roberts KB, Tomlinson JDW. The Fabric of the Body. European Traditions of Anatomical Illustration. Clarendon Press; 1992
  • 6 Dryander, Johannes. Deutsches Biographisches Archiv (DBA).
  • 7 Anatomia capitis humani. Marburg: 1536
  • 8 Anatomiae, hoc est, corporis humani dissectionis pars prior. Marburg: 1537

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Abb. 1 Dryander (1500 –1560).
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Abb. 2 Darstellung der Atmungsorgane (Holzschnitt); Ansicht von posteriorA = Trachea mit KnorpelspangenB = Ösophagus (oberer Anteil)C und D = rechter und linker HauptbronchusE = BronchialsystemF = unterer HerzanteilG = AortaH = PericardI = unterer Ösophagus, zieht durch das DiaphragmaK = DiaphragmaL = Ösophagus (mittlerer Anteil)M,N,O = Blutgefäße
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Abb. 3 Die „Anatomia Mundini“ nach Dryander (Marburg 1541; Verleger Christian Egenolph).