retten! 2019; 8(02): 140-145
DOI: 10.1055/a-0631-4084
Schritt für Schritt
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schlüssellochrettung aus dem PKW (S.IE.G.E.R-Konzept) – Schritt für Schritt

Jens Tiesmeier
,
Rolf Südmersen
,
Bernd Bachmann-Mennenga
,
Thomas Jakob
Further Information

Korrespondenzadresse

Dr. med. Jens Tiesmeier
Institut für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin
Krankenhaus Lübbecke-Rahden
Virchowstraße 65
32312 Lübbecke
Phone: ++ 49/57 41/35 17 00   

Publication History

Publication Date:
15 April 2019 (online)

 

Im Straßenverkehr kommt es jährlich zu etwa 390 000 Unfallverletzten in Deutschland. Allein 2015 starben 3633 Menschen an den Folgen eines Verkehrsunfalls [1]. Bei (potenziell schwerverletzten) Patienten, die zur weiteren medizinischen Versorgung mit professioneller Hilfe aus ihrem PKW befreit werden, gibt es einige Besonderheiten zu beachten.


#

Einführung

Häufig sind Verletzte nach Verkehrsunfällen nicht frei zugänglich – etwa, weil sie im Fahrzeug eingeklemmt sind oder Türen sich nicht öffnen lassen. Diese Situationen erfordern ein Gesamtkonzept, das medizinische, technische und taktische Aspekte berücksichtigt. Dazu bedarf es an der Nahtstelle von Rettungsdienst, Feuerwehr und ggf. Polizei der kollegialen Absprache. Gemeinsame Ziele sind der Zugang zum und die Befreiung des Patienten, die Erstbehandlung und der Transport in die Klinik unter Vermeidung weitere Schädigungen ([Abb. 1]).

Zoom Image
Abb. 1 Aspekte der patientengerechten Versorgung nach PKW-Unfällen.

#

Das S.IE.G.E.R.-Konzept

Da jeder PKW-Unfall und seine Begleitumstände (Patientenzustand, Lage des PKW, Umgebungsbedingungen etc.) einmalig sind, müssen Sie verschiedene Methoden der technischen Rettung beherrschen. Eine Option ist das S.IE.G.E.R-Konzept (S -spricht der Patient?, IE – innere Erkundung, G – genaue Absprache mit der Feuerwehr, E – Entklemmen, R – Rettungsöffnung) für eine schnelle, achsengerechte Rettung. Die einzelnen Schritte können – je nach Situation – auch parallel oder in modifizierter Reihenfolge durchgeführt werden.


#

Schritt 1: Scene Survey – Beurteilung der Situation bei Eintreffen

Beim Scene Survey verschaffen Sie sich einen Überblick über die Gesamtlage. Im Fokus des Rettungsdienstes stehen die (angenommene) Unfallkinematik, das Schadensmuster und die Zahl der Verletzten.

Ergänzend beurteilt die technische Rettung der Feuerwehr Gefahrenquellen (z. B. Verkehrsabsicherung, Brandgefahr durch auslaufende Betriebsstoffe, Sicherung des Fahrzeugs gegen Wegrollen oder Absturz, muss ein bestehender Brand gelöscht werden?). Dazu gehört das vollständige Anlegen der persönlichen Schutzausrüstung inklusive Helm, um gegen Splitter, Kanten oder Schlageinwirkungen geschützt zu sein.


#

Schritt 2: S – spricht der Patient? und „Traumahand“

Um Kontakt aufzunehmen und eine erste Beurteilung des Zustands des Patienten durchzuführen, nähern Sie sich dem Patienten mit ausgestreckter Hand von vorn und sprechen ihn dabei an. Der Patient soll Ihre Hand fixieren, um unbeabsichtigte Drehungen der Halswirbelsäule zu vermeiden.

Die zentrale Frage lautet: „Spricht der Patient – ja oder nein?“ Wenn ja, sind Atmung und Kreislauf (noch) möglich und vorhanden. Sie können nun gezielt nach Schmerzen oder Einklemmung fragen und den Patienten betreuen, indem Sie ihm die nachfolgenden Schritte erklären (z. B. „Die Feuerwehr arbeitet am Fahrzeug“, „Das Fahrzeug wird geöffnet“, „Die Kollegen kommen gleich zu Ihnen ins Fahrzeug“).

Wenn nein, schließt sich die Entscheidung an, ob Sie auch ohne Sicherung des PKW direkt versuchen, zum Patienten zu gelangen. Ist die Tür neben dem Patienten blockiert, lässt sich stattdessen vielleicht eine der anderen PKW-Türen öffnen. Alternativ können Fenster oder Heckklappe zerstört werden ([Abb. 2]).

Zoom Image
Abb. 2 S – spricht der Patient? und „Traumahand“.

#

Schritt 3: Sicherung und Unterbauung des PKW

Für die Patientenversorgung im PKW muss die Einsatzstelle für Sie sicher sein. Erst nach der Bestätigung der Feuerwehr „Fahrzeug gesichert“ kann der Rettungsdienst in das Fahrzeug einsteigen.

Durch eine ergänzende Unterbauung des PKW werden die Federwege überbrückt. Das Fahrzeug liegt auf und kann nicht mehr schaukeln; ungewollte Patientenbewegungen werden vermieden. Die Unterbauung erfolgt unter den A-Säulen und vor der Hinterachse. Danach wird die Luft mit einem Ventilausheber aus den Reifen gelassen, und der PKW liegt sicher auf dem Unterbau auf ([Abb. 3]).

Zoom Image
Abb. 3 PKW-Sicherung/-Unterbauung

#

Schritt 4: IE – Innere Erkundung (Patientenzustand nach (c)-ABCDE und Fahrzeugtechnik)

Mit möglichst großem Abstand zu den Airbags werden gemäß (c)-ABCDE-Schema unmittelbar lebensgefährdende Zustände therapiert und der Zustand des Patienten wird als „kritisch“ oder „unkritisch“ eingestuft. Ergibt sich aus Unfallmechanismus und -folgen der Verdacht auf ein Polytrauma mit notwendiger Schockraumalarmierung, wird eine vollständige Immobilisierung des Patienten vorbereitet ([Tab. 1]).

Tab. 1

Arbeitsdiagnose Polytrauma/Schockraumalarmierung [2].

Bei diesen Verletzungen soll das Trauma-Schockraumteam aktiviert werden

Bei diesen zusätzlichen Kriterien sollte das Trauma-/Schockraumteam aktiviert werden

  • systolischer Blutdruck unter 90 mm Hg (altersadaptiert bei Kindern) nach Trauma

  • penetrierende Verletzungen der Rumpf-Hals-Region

  • Schussverletzungen der Rumpf-Hals-Region

  • GCS unter 9 nach Trauma

  • Atemstörungen/Intubationspflicht nach Trauma

  • Frakturen von mehr als 2 proximalen Knochen

  • instabiler Thorax

  • Beckenfrakturen

  • Amputationsverletzung proximal der Hände/Füße

  • Querschnittsverletzung

  • offene Schädelverletzungen

  • Verbrennungen > 20 % und Grad ≥ 2b

  • Sturz aus über 3 Metern Höhe

  • Frontalaufprall mit Intrusion von mehr als 50 – 75 cm

  • Geschwindigkeitsveränderung Δ > 30 km/h

  • Fußgänger-/Zweiradkollision

  • Tod eines Insassen

  • Ejektion eines Insassen aus dem Fahrzeug

Bereits initial fixiert ein zweiter innerer Retter den Kopf manuell, während die HWS-Orthese von vorne angelegt wird ([Abb. 4]).

Zoom Image
Abb. 4 Innere Erkundung und (c)-ABCDE-Schema.

Die Deformierung des Fahrzeuginnenraums gibt vor allem bei einem Frontalaufprall Hinweise auf die Verletzungsschwere. Ist das Lenkrad gebrochen, ist der Thorax möglicherweise darauf geprallt (und vielleicht eingeklemmt), im Fußraum könnten Extremitäten eingeklemmt sein. Hat ein Airbag ausgelöst und gibt es Anprallmarken des Gurtsystems?

Solange die Warnblinkanlage funktioniert, ist die Fahrzeugelektrik eine Gefahrenquelle (Airbags, Anlasser, Kurzschluss- und Feuergefahr). Nach dem Abklemmen der Batterie stehen aber elektrische Fensterheber, Sitze oder Lenkräder auch nicht mehr zur Verfügung.


#

Schritt 5: G – genaue Absprache mit der Feuerwehr

Richten Sie alle Maßnahmen des Rettungsdienstes und der Feuerwehr am Zustand des Patienten aus. Als nächstes muss der Rettungsweg geplant werden. Teilen Sie allen Beteiligten mit, ob die Rettung sofort, schnell oder schonend erfolgen soll ([Tab. 2]), ob der Patient eingeklemmt ist, welche Probleme bestehen und welcher Rettungsweg gewählt werden sollte ([Tab. 3]).

Tab. 2

Absprachen zum Zeitmanagement einer patientengerechten Rettung [3].

Sofortrettung

Schnelle Rettung

Schonende Rettung

Schnellstmögliche Rettung, weitere Schädigungen werden toleriert

Zeitfenster 20 – 30 Minuten, Beachtung medizinischer und einsatztaktischer Aspekte

Die Dauer der Rettung hat eine untergeordnete Priorität

Beispiele: Reanimation, massives A-Problem, brennender PKW

Beispiel: Patient ist stabil, achsengerechte Rettung geplant

Beispiel: Isoliertes Wirbelsäulentrauma ohne Neurologie

Tab. 3

Mögliche Rettungswege aus dem PKW.

Zur Seite

Nach oben

Nach hinten

Große Seitenöffnung, dritte Tür

Dach abnehmen oder abklappen, Dach einsägen (Fischdose)

Schlüssellochrettung

Die Feuerwehr muss den Rettungsweg planen, ggf. die Entklemmung durchführen oder einen Notausstieg öffnen, falls sich der Zustand des Patienten dramatisch verschlechtert. Um den Einsatzablauf zu optimieren, müssen alle Beteiligten über das Vorgehen informiert sein.


#

Schritt 6: R – Rettungsöffnung (Beispiel Schlüssellochrettung)

Die Schlüssellochrettung als achsengerechte Rettung auf dem Spineboard nutzt die Öffnung des Kofferraums, die eventuell nur minimal durch Spreizen oder Schneiden erweitert werden muss. Lässt sich die Heckklappe nicht öffnen, kann alternativ die Glasscheibe entfernt werden. Um Ihnen den Zugang zum Patienten zu erleichtern, werden noch intakte Scheiben durch Ankörnung gesplittert. Danach können die Splitter nach außen gedrückt werden. Eine Folie oder Decke dient als weicher Patientenschutz. Die inneren Retter sind dafür (mit-)verantwortlich ([Abb. 5]).

Zoom Image
Abb. 5 Weicher Patientenschutz beim Zersplittern von Glas zur Schaffung eines Zugangs.

Beim Schneiden oder Spreizen kommt zusätzlich ein harter Patientenschutz (z. B. Plexiglas) zum Einsatz. Sobald der Patient auch von außen zugänglich ist, senken Sie den Sitz nach hinten ab. Innere und äußere Retter stabilisieren die Wirbelsäule des noch sitzenden Patienten ([Abb. 6]).

Zoom Image
Abb. 6 Sitz absenken und manuelle Stabilisierung der Wirbelsäule.

Zeitgleich schieben Sie das Spineboard über die Hecköffnung in das Wageninnere und legen den Patienten möglichst ohne Bewegung der Wirbelsäule auf dem Rücken darauf ab ([Abb. 7], [8]).

Zoom Image
Abb. 7 Einschieben des Spineboards.
Zoom Image
Abb. 8 Ablegen des Patienten auf dem Spineboard.

Achten Sie dabei darauf, dass ein innerer Retter die Halswirbelsäule und den Kopf des Patienten zusätzlich ununterbrochen in Neutralstellung manuell fixiert ([Abb. 9]).

Zoom Image
Abb. 9 Bergung des Patienten aus dem Fahrzeug und HWS-Fixierung.

Um den Patienten achsengerecht auf das Spineboard ziehen und aus dem PKW bergen zu können, werden im Optimalfall 6 Helfer benötigt ([Abb. 10]).

Zoom Image
Abb. 10 Positionierung der Helfer zum Spineboard für die Bergung des Patienten aus dem PKW.

Wichtig ist eine koordinierte Vorgehensweise: Der Retter an der Kopfposition übernimmt die Führung und gibt die Kommandos. 4 Helfer positionieren sich an Hüfte und Schultern, 1 Helfer fixiert das Spineboard. Ein mögliches Kommando lautet: „Patient 30 cm auf das Spineboard – bei 3: 1 – 2 – 3.“ Danach wird der Patient gemeinsam und zeitgleich auf dem Spineboard hochgezogen und gehalten, bis die gewünschte Position erreicht wurde.

Wird der Patient auf dem Spineboard über das Heck aus dem PKW gezogen, muss eine Engstelle passiert werden. Damit der Patient keine Angst bekommt oder in Panik gerät, informieren Sie ihn vor dem Schritt „Tunneln“ und schützen sein Gesicht ([Abb. 11]).

Zoom Image
Abb. 11 „Tunneln“ des Patienten.

Zum Abschluss übernimmt ein äußerer Retter die manuelle Fixierung der Halswirbelsäule, bis Headblocks und das Gurtfixiersystem für Spineboards für den weiteren Transport angelegt wurden ([Abb. 12]).

Zoom Image
Abb. 12 Manuelle Fixierung der Halswirbelsäue beim Bergen des Patienten durch die Heckklappe.

#
#

Jens Tiesmeier

Zoom Image

Dr. med. Ärztlicher Leiter der Notarztstandorte Lübbecke-Rahden. Oberarzt am Institut für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin am Krankenhaus Lübbecke-Rahden der MKK-Mühlenkreiskliniken.

Rolf Südmersen

Zoom Image

Hauptbrandmeister und Rettungsassistent (Sachgebiet Ausbildung) an der Feuer- und Lehrrettungswache der Stadt Bad Oeynhausen.

Bernd Bachmann-Mennenga

Zoom Image

Prof. Dr. med. Direktor des Universitätsinstituts für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin am Johannes Wesling Klinikum Minden, MKK-Mühlenkreiskliniken. Fachvertreter des Querschnittsfachs Notfallmedizin der Ruhr-Universität Bochum am Medizin Campus OWL.

Thomas Jakob

Zoom Image

Dr. med. Ärztlicher Leiter Rettungsdienst im Kreis Herford. Oberarzt an der Universitätsklinik für Anästhesiologie, Operative Intensivmedizin, Rettungsmedizin, Schmerztherapie der Ruhr-Universität Bochum am Klinikum Herford.

No conflict of interest has been declared by the author(s).

Danksagungen

Wir danken dem TRT-Bad Oeynhausen und Jan Südmersen (Feuerwehrhandwerk) für die Unterstützung bei der Erstellung der Abbildungen und der fachlichen Beratung.


Korrespondenzadresse

Dr. med. Jens Tiesmeier
Institut für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin
Krankenhaus Lübbecke-Rahden
Virchowstraße 65
32312 Lübbecke
Phone: ++ 49/57 41/35 17 00   


Zoom Image
Zoom Image
Zoom Image
Zoom Image
Zoom Image
Abb. 1 Aspekte der patientengerechten Versorgung nach PKW-Unfällen.
Zoom Image
Abb. 2 S – spricht der Patient? und „Traumahand“.
Zoom Image
Abb. 3 PKW-Sicherung/-Unterbauung
Zoom Image
Abb. 4 Innere Erkundung und (c)-ABCDE-Schema.
Zoom Image
Abb. 5 Weicher Patientenschutz beim Zersplittern von Glas zur Schaffung eines Zugangs.
Zoom Image
Abb. 6 Sitz absenken und manuelle Stabilisierung der Wirbelsäule.
Zoom Image
Abb. 7 Einschieben des Spineboards.
Zoom Image
Abb. 8 Ablegen des Patienten auf dem Spineboard.
Zoom Image
Abb. 9 Bergung des Patienten aus dem Fahrzeug und HWS-Fixierung.
Zoom Image
Abb. 10 Positionierung der Helfer zum Spineboard für die Bergung des Patienten aus dem PKW.
Zoom Image
Abb. 11 „Tunneln“ des Patienten.
Zoom Image
Abb. 12 Manuelle Fixierung der Halswirbelsäue beim Bergen des Patienten durch die Heckklappe.