ergopraxis 2018; 11(06): 36-39
DOI: 10.1055/a-0587-8570
Ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Foto-Coaching in der stationären Psychiatrie – Virtueller Hausbesuch

Rebecca Lang

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Publication Date:
08 June 2018 (online)

 

Ergotherapeutische Aktivitäten sollten für den Klienten bedeutsam und alltagsrelevant sein sowie in natürlicher Umwelt stattfinden. Aber wie lässt sich das in der stationären Psychiatrie ohne Möglichkeit auf Hausbesuch realisieren? Zum Beispiel mit dem Smartphone, wenn der Klient bereits übers Wochenende nach Hause darf.


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Rebecca Lang, Ergotherapeutin seit 1996, leitet die ergotherapeutische Abteilung einer akutpsychiatrischen Klinik im Kreis Mettmann. Seit 2006 ist sie Dozentin an Berufsfachschulen für Ergotherapie. Seit 2016 absolviert sie den Studiengang „Bachelor of Science in Occupational Therapy“ an der Zuyd Hogeschool, Heerlen (NL).

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ABB. 1 Wenn ein Hausbesuch nicht möglich ist, helfen Fotos dabei, den Bezug zum individuellen Alltag des Klienten herzustellen.
Abb.: Sven Roethig/adobe.stock.com; guteksk7/shutterstock.com (nachgestellte Situation)

Im ergotherapeutischen Erstgespräch auf einer akutpsychiatrischen Station schildert mein Klient Herr Sonntag[*] unzufrieden seine derzeitige Wohnsituation. Er könne das Wohnzimmer schon länger nicht mehr betreten, da es voller CDs, Schallplatten, Zeitschriften und Bücher läge. Das würde der 45-Jährige gerne ändern, findet jedoch keinen Anfang. Er fühlt sich vom Ausmaß der Unordnung total überfordert. Bei seinem Belastungserprobungs-Wochenende hat er sich über seine Wohnung erschrocken. Alle Wege waren verstellt. Warum? Statt aufzuräumen, hatte er in der letzten Zeit nach der Arbeit vermehrt Alkohol konsumiert, um sich zu betäuben und möglichst schnell schlafen zu können.

Im COPM bewertet Herr Sonntag sowohl Performanz als auch Zufriedenheit der Betätigung „Wohnung aufräumen“ mit einer 3 ([ABB. 2]). Eigentlich ein Fall für einen Hausbesuch. Organisatorisch ist das in der Einrichtung jedoch nicht möglich. Wie bekomme ich dennoch eine Vorstellung von der Unordnung und berücksichtige das vorrangige Ziel des Klienten? Mit welchen betätigungsorientierten Interventionen stelle ich den Bezug zum Alltag her?

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ABB. 2 Anhand des COPM wird deutlich, dass der Klient Performanz und Zufriedenheit für die Betätigung „Wohnung aufräumen“ von 3 auf 8 steigern konnte.
Abb.: R. Lang

Aktivitäten mit der individuellen Lebenswirklichkeit verknüpfen

Grundsätzlich wird die moderne Ergotherapie als klientenzentriertes, betätigungsorientiertes Vorgehen und gewinnbringend für Klienten und Ergotherapeuten beschrieben [1]. Ergotherapeuten schärfen ihre berufliche Identität und erleben eine höhere Arbeitszufriedenheit [3]. Klienten schätzen die individuelle Behandlung, die Beteiligung am Prozess, Information und Vorbereitung auf die Zeit nach der Entlassung [2]. Auch eine höhere Klientenzufriedenheit lässt sich in einem klientenzentrierten, betätigungsorientierten Vorgehen erheben – mithilfe des Canadian Occupational Performance Measure (COPM) [4].

Die berufspolitische Notwendigkeit, nach modernen Grundsätzen zu arbeiten, beschreibt Brandt und bezeichnet den betätigungsorientierten Ansatz als „Mittel der Wahl“, um die Generalisierbarkeit von Fertigkeiten, also den Übertrag in verschiedene Alltagssituationen, zu ermöglichen [5]. Ein wichtiges Kriterium für die Effektivität und Nachhaltigkeit von ergotherapeutischen Behandlungen.

Betätigungsorientierte ergotherapeutische Interventionen sollten individuelle Bedeutung für den Klienten und einen Bezug zum Klientenalltag besitzen. Wie bereits Studien aus den 1980er Jahren zeigen, führt In-vivo-Training als Generalisierungsstrategie zu effektiveren ergotherapeutischen Interventionen [6–8]. Das heißt, in natürlicher Umgebung Gelerntes wird als zweckdienlicher empfunden [9] und besitzt mehr Nachhaltigkeit [5].


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Stationäre Rahmenbedingungen überwinden

In Deutschland setzt sich vor allem im akutpsychiatrischen Kliniksetting der betätigungsorientierte Ansatz erst allmählich durch. Das hat mehrere Gründe. Erstens mangelt es an der Kenntnis konzeptioneller ergotherapeutischer Modelle. Zweitens fehlt es an Wissen und Gebrauch der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), mithilfe derer eine betätigungsorientierte Zielsetzung und Dokumentation erfolgen könnte. Und drittens erschweren strukturelle Rahmenbedingungen eine betätigungsorientierte Intervention [10, 11].

Ergotherapie erfolgt im psychiatrischen Kliniksetting in erster Linie in Gruppen. Für Einzelgespräche fehlen vielerorts die Zeit [12] und geeignete räumliche Voraussetzungen wie Besprechungsräume in neutraler, also nicht handwerklich geprägter, Umgebung. In vielen Kliniken existiert die tradierte Vorstellung, die Begleitung von Patienten zu Außenterminen sei Aufgabe anderer Berufsgruppen, zum Beispiel des Sozialdienstes. Da derartige Aktivitäten in der Regel im Klinik- bzw. Abteilungskonzept nicht vorgesehen sind, werden sie in einigen Einrichtungen nicht oder nur mit viel bürokratischem Aufwand unfall- und haftpflichtversichert.

Wenn aber der klientenzentrierte, betätigungsorientierte Ansatz eine effiziente und zufriedenstellende Behandlung ermöglicht, sollten wir uns den Herausforderungen stellen, klinischen Rahmenbedingungen trotzen, kreative Ideen entwickeln und neue Wege beschreiten!


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Enablement Skills nutzen

Aufgrund dieser Problematik entwickelte ich eine Behandlungsstrategie mithilfe des Enablement Skills „Coaching“ aus dem Canadian Model of Client-Centred Enablement (CMCE) ([ABB. 3], S. 37) [13]. Darin wird Coaching als Dialogpartnerschaft definiert, die Betätigungsveränderungen ermöglicht. Sie hilft Klienten dabei, zu klären, was für sie wichtig ist, auf ihre Stärken, Ressourcen und Kreativität zurückzugreifen, Ziele zu wählen sowie einen Handlungsplan zu entwerfen und zu befolgen. Der Coach ermutigt dazu, negative Betätigungsroutinen zu beenden oder zu verändern und Verantwortung für sich zu übernehmen. Er gibt Feedback zur Betätigungsdurchführung, um die Entwicklung individuell bedeutsamer Betätigungen zu unterstützen. Eine direkte physische Begleitung der Klienten kann erfolgen, ist jedoch nicht erforderlich.

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ABB. 3 Occupational Therapy Enablement Skills nach dem Canadian Model of Client-Centred Enablement (CMCE)

Auf dieser theoretischen Grundlage entwickelte ich die Idee, mithilfe gemeinsamer Zielsetzungen, Handlungsplanungen sowie unterstützender Rückmeldungen ein Coaching im häuslichen Umfeld ohne direkte Begleitung durchzuführen. Neue Medien sollten die Kluft zwischen Klinik und häuslichem Umfeld schließen.


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Coaching + Smartphone = Foto-Coaching

Ich dachte an ein Foto-Coaching und schlug Herrn Sonntag vor, er solle am folgenden Wochenende mit seinem Smartphone Fotos von seinem Wohnzimmer machen. So könnte ich mir seine Wohnsituation besser vorstellen und gemeinsam mit ihm das Aufräumen planen. Herr Sonntag war begeistert von der Idee und hoch motiviert, mir die Fotos beim nächsten Gespräch auf seinem Smartphone zu zeigen. Da diese Geräte mittlerweile zu ständigen Begleitern geworden sind, über gute Kameras verfügen und unmittelbar zur Verfügung stehen, nutzte ich also das Smartphone des Klienten als therapeutisches Mittel. Neue Medien wie Smartphones oder Apps therapeutisch zu nutzen, findet sich auch zunehmend in der Literatur [14, 15].

Ich bot Herrn Sonntag vier Wochen lang jeweils ein 25-minütiges Einzelgespräch und unstandardisierte Kurzkontakte an. Die Wochenend-Belastungstrainings im häuslichen Umfeld nutzten wir als Interventionszeitpunkte, in denen der Klient den im Vorfeld besprochenen Handlungsplan in Eigenverantwortung umsetzte. Wöchentlich überprüften wir gemeinsam die Ziele, und ich gab Herrn Sonntag Feedback, um ihm seine Ressourcen zu verdeutlichen, ihn zu bestätigen oder ihn zu ermutigen.

Mithilfe
eines Smartphones können Klienten ihre Therapieerfolge dokumentieren und sie anderen zeigen.

Woche 1: Therapieziel formulieren

In der ersten Woche zeigte mir Herr Sonntag die Fotos seines Wohnzimmers. Ich forderte ihn auf, Ideen zu entwickeln, wie er den Raum schrittweise aufräumen könnte. Unterstützend schlug ich vor, anhand der Fotos eine Stelle im Raum auszusuchen, mit der er beginnen könnte. Er wählte die rechte Raumseite, in der eine Couch steht. Den Weg zu dieser Couch und die Couch selbst wollte er gerne freiräumen ([ABB. 4]). Nachdem ich ihn gebeten hatte, „freiräumen“ zu definieren – zur Seite schieben, aussortieren oder wegwerfen –, erklärte Herr Sonntag, in dieser Ecke lägen Bildbände und historische Bücher. Im Regal an der Wand seien Bücher zu diesen Themen eingeräumt. Er wollte das Regal auffüllen. Bücher, die nicht in diese Kategorien fallen, wollte er neben der Couch stapeln. Gemeinsam formulierten wir das Therapieziel: „Am kommenden Samstagnachmittag räume ich ab 15 Uhr für ca. 2 Stunden die Bildbände und historischen Bücher ins Regal ein, sodass meine Couch frei wird. Bücher zu anderen Themen stapele ich neben der Couch.“ Um später Feedback geben zu können, bat ich um Fotos des Raumes nach Umsetzung seiner Planung.

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ABB. 4 UND 5 Vorher/nachher: Anhand von Fotos seiner Wohnung formuliert der Klient das Ziel, Regal und Sofa aufzuräumen. Anschließend dokumentiert er die Umsetzung seines Plans.
Abb.: R. Lang; vivat/fotolia.com
Abb.: R. Lang; vivat/fotolia.com

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Woche 2: Erfolgserlebnis

In der darauffolgenden Woche berichtete Herr Sonntag, den Plan umgesetzt zu haben, und zeigte stolz die neuen Fotos (ABB. 5). Er hatte mehr aufgeräumt als gedacht und war motiviert, neue Ziele für kommenden Samstag zu besprechen. Anhand weiterer Fotos deutete er auf CD- und Schallplattenstapel vor einem offenen Schrank auf der linken Raumseite. Er formulierte eigenständig das Ziel: „Am kommenden Samstagnachmittag sortiere ich die CDs und Schallplatten auf der linken Seite des Raumes. Anschließend räume ich sie in den Schrank.“

Auch dieses Mal bat ich ihn darum, seine Arbeit zu fotografieren, um Fortschritte in der kommenden Woche gemeinsam beurteilen und sichtbar machen zu können. Er stellte fest: „Ich habe Lust, etwas aus dem Raum zu machen!“ Und: „Die Wohnung muss wohnlich sein, sonst gehe ich dort vor die Hunde.“

Neue Medien
sind eine zeitgemäße Bereicherung der Ergotherapie.


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Woche 3: Trotz Rückfall den Mut nicht verlieren

Herr Sonntag erlitt zu Hause einen Alkoholrückfall. Er war am Wochenende vorzeitig in die Klinik zurückgekehrt und hatte das Aufräumen nicht verfolgt. Er war enttäuscht und entmutigt. Ich bestätigte, dass seine jetzige Lebenssituation eine Herausforderung sei und ermutigte ihn, sich nicht beirren zu lassen. Ich erinnerte ihn an sein Vorhaben, etwas aus seinem Wohnraum machen zu wollen, und seine Erkenntnis, dass er in einem vernachlässigten Wohnumfeld kaum Selbstwert aufbauen könne und weiterhin in den Alkoholkonsum flüchten würde. Herr Sonntag entschied am Ende des Gespräches, im nächsten Belastungstraining das Ziel der Vorwoche erneut in Angriff zu nehmen.


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Woche 4: Erfolge sichtbar machen

In der Folgewoche berichtete Herr Sonntag, er habe am Wochenende den gesamten Wohnraum aufgeräumt. Seit langem habe er sich zum ersten mal wieder wohl in seiner Wohnung gefühlt und sogar die Initiative ergriffen, einen Badezimmerspiegel zu kaufen. Das habe er seit Monaten vermieden, um sich „nicht selbst ins Gesicht sehen zu müssen“. Jetzt freue er sich über den Spiegel und denke über eine angemessene Badezimmerbeleuchtung nach.

Im Abschlussgespräch verglichen wir die ursprünglichen Performanz- und Zufriedenheitswerte mit denen am Ende der Behandlung. Die Werte waren auf der 10-stufigen Skala jeweils von 3 auf 8 gestiegen ([ABB. 2], S. 37). Um die Erfolge auch physisch greifbar zu machen, schlug ich vor, die Fotos auszudrucken. Stolz zeigte Herr Sonntag sie seinen Mitpatienten und dem Pflegepersonal.

Die Kollegen im multiprofessionellen Team hatten bislang bezweifelt, dass Herr Sonntag langfristig abstinent bleiben und sich um eine eigenständige Lebensführung kümmern könne. Durch meine Berichte kamen sie jedoch zu dem Schluss, ihn mithilfe einer flankierenden ambulanten Suchtberatung entlassen zu können.


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Zeitgemäße Bereicherung

Ich ziehe aus dem Foto-Coaching eine positive Bilanz: Trotz organisatorischer Grenzen gelang es, in einer klientenzentrierten, betätigungsorientierten, lebensweltbezogenen Intervention den Wünschen des Klienten zu entsprechen. Erst im Nachhinein wurde deutlich, dass das Betätigungsproblem „Wohnung aufräumen“ mit einem einzelnen Hausbesuch nicht zu bewältigen gewesen wäre und somit die längerfristige Begleitung in Form eines Coachings effektiv und zielführend war. Durch den Coaching-Ansatz übertrug ich Herrn Sonntag viel Verantwortung, da er Ziele und Handlungsplanung weitgehend selbst bestimmte, ohne direkte Begleitung umsetzte und dokumentierte. Dadurch war er zu fast allen Zeitpunkten sehr motiviert.

Nicht durchgeführt werden kann dieser Ansatz mit Klienten, die (noch) nicht ins häusliche Umfeld dürfen oder die nicht absprachefähig sind. Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Motivation, die eigene Lebenssituation verändern zu wollen, sind Voraussetzungen. Ferner sollten wir bedenken, dass es Schamgefühle auslösen kann, das eigene vernachlässigte Lebensumfeld zu präsentieren. Dem müssen wir verständnisvoll und mit Respekt begegnen. Mangelnde Kenntnisse, ein Smartphone zu bedienen, kann zu Überforderungsgefühlen und in der Folge zu mangelnder Compliance führen.

Insgesamt überwiegen jedoch meine positiven Erfahrungen, sodass ich Kollegen im akutpsychiatrischen Setting ermutigen möchte, den institutionellen Rahmenbedingungen zu trotzen und neue Wege zu beschreiten, um die klientenzentrierte, betätigungsorientierte Ergotherapie auch im psychiatrischen Rahmen zu etablieren!


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* Namen von der Redaktion geändert




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ABB. 1 Wenn ein Hausbesuch nicht möglich ist, helfen Fotos dabei, den Bezug zum individuellen Alltag des Klienten herzustellen.
Abb.: Sven Roethig/adobe.stock.com; guteksk7/shutterstock.com (nachgestellte Situation)
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ABB. 2 Anhand des COPM wird deutlich, dass der Klient Performanz und Zufriedenheit für die Betätigung „Wohnung aufräumen“ von 3 auf 8 steigern konnte.
Abb.: R. Lang
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ABB. 3 Occupational Therapy Enablement Skills nach dem Canadian Model of Client-Centred Enablement (CMCE)
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ABB. 4 UND 5 Vorher/nachher: Anhand von Fotos seiner Wohnung formuliert der Klient das Ziel, Regal und Sofa aufzuräumen. Anschließend dokumentiert er die Umsetzung seines Plans.
Abb.: R. Lang; vivat/fotolia.com
Abb.: R. Lang; vivat/fotolia.com