Suchttherapie 2019; 20(02): 68-75
DOI: 10.1055/a-0579-3889
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leistungssensible Suchttherapie: Vorstellung und Wirksamkeitsprüfung einer neuen Kurzintervention

Effort-Sensitive Addiction Treatment: Introduction and Effectiveness Evaluation of a New Short Intervention
Martin Fleckenstein*
1   Klinik im Hasel AG, Stationäre Therapie, Gontenschwil, Schweiz
,
Marlis Heer*
2   Klinik im Hasel AG, Ambulatorium, Lenzburg, Schweiz
3   Klinik im Hasel AG, Tagesklinik, Lenzburg, Schweiz
,
Susanne Leiberg
2   Klinik im Hasel AG, Ambulatorium, Lenzburg, Schweiz
,
Jenny Gex-Fabry
2   Klinik im Hasel AG, Ambulatorium, Lenzburg, Schweiz
,
Thomas Lüddeckens
1   Klinik im Hasel AG, Stationäre Therapie, Gontenschwil, Schweiz
2   Klinik im Hasel AG, Ambulatorium, Lenzburg, Schweiz
› Author Affiliations
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Korrespondenzadresse

Martin Fleckenstein
Klinik im Hasel AG
Hasel 837
5728 Gontenschwil

Publication History

Publication Date:
07 May 2018 (online)

 

Zusammenfassung

Ziel der Studie Abstinenz bei einer Abhängigkeitserkrankung ist nicht selbstverständlich, sondern eine zu erbringende Leistung. Die vorgestellte Intervention, „Leistungssensible Suchttherapie“ (LST), hat zum Ziel, eine solche leistungssensible, von Stolz und Ehrlichkeit geprägte Haltung gegenüber der eigenen Erkrankung zu fördern und damit Rückfällen vorzubeugen.

Methodik 55 von 140 Patienten mit einer Abhängigkeitserkrankung nahmen zusätzlich zum regulären Therapieprogramm an der LST teil. Rückfallhäufigkeit während des Klinikaufenthalts, Veränderungen hinsichtlich Scham- und Schuldgefühlen, Lebenszufriedenheit und emotionalen Kompetenzen sowie psychische Belastung wurden erhoben.

Ergebnisse Die Interventionsgruppe wies während der Behandlungsdauer eine signifikant tiefere Rückfallhäufigkeit auf als die Kontrollgruppe. Beide Gruppen berichteten bessere Lebensqualität, emotionale Kompetenzen und weniger psychische Belastung und Scham- und Schuldgefühle.

Schlussfolgerung Die LST ist eine wirksame Behandlung zur Rückfallprävention.


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Abstract

Aims Abstinence when suffering from a substance use disorder is not a given but requires effort. The presented intervention, „Effort-sensitive addiction treatment“ (EST), aims at fostering such an effort-sensitive attitude, characterized by pride and honesty, and thereby preventing relapse.

Methods 55 of 140 patients with an addictive disorder participated in EST in addition to standard recovery treatment. Relapses during treatment and changes in shame- and guilt feelings, quality of life, emotion regulation skills and psychiatric symptoms were assessed.

Results The intervention group had a significantly lower relapse rate than the control group. Both groups reported better quality of life, emotion regulation skills and less psychiatric symptoms and shame and guilt feelings.

Conclusions EST is an effective treatment for relapse prevention.


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Einleitung

Patienten in stationären Entzugs- und Entwöhnungsbehandlungen haben einen für sie schwierigen Schritt hinter sich gebracht – sie haben sich entschieden, einen Lebensabschnitt, der sich stark um den Konsum von Suchtmitteln drehte, zu beenden. Nach Lindenmeyer [1] ist der Ausstieg aus dem „süchtigen“ Lebensmodus auch eine Entscheidung für einen zunächst unbekannten und somit beschwerlichen neuen Lebensstil. Abstinenz, erfolgreiche Bewältigung/Beendigung von Konsumphasen und transparente Kommunikation bzgl. der Krankheitssymptome sind keine Selbstverständlichkeit, wie dies häufig vom Laien und sogar vom Betroffenen selbst angenommen wird, sondern nahezu täglich zu erbringende Leistungen. Der Betroffene könnte „leistungssensibel“ stolz auf den getroffenen Abstinenzentscheid sein, die bisher bewältigten Belastungen würdigen und zusammen mit den nahestehenden Personen die wachsende Leistungsbereitschaft wertschätzen. Doch mehrheitlich erleben die Betroffenen ein Gefühl des Scheiterns, welches von starken Schuld- und Schamgefühlen und einer damit einhergehenden Intransparenz gegenüber nahestehenden Personen begleitet ist [2]. Schuld- und Schamgefühle verringern die Selbstwirksamkeitserwartung Betroffener und unterminieren deren Veränderungsmotivation. Es ist deshalb von essentieller Wichtigkeit, dass die Betroffenen eine positive Haltung gegenüber diesem neuen Lebensentwurf einnehmen können, um die Motivation für diese Leistungserbringung dauerhaft aufrechterhalten zu können. Auch ist es wichtig, dass Menschen, die Abstinenzleistungen neben der Alltagsbewältigung erbringen, Unterstützung ihres sozialen Umfelds erhalten. In der Resilienzforschung wird ein tragendes soziales Umfeld als wichtiger protektiver Faktor angesehen [3].

In der aktuellen stationären Therapie von Abhängigkeitserkrankungen gibt es keine Konzepte, welche allen diesen Faktoren Rechnung tragen. Es gibt andere, erfolgreiche Therapieansätze, welche an den Ressourcen der Patienten orientiert sind oder einen Schwerpunkt auf den Einbezug des sozialen Umfelds der Patienten legen, wie z. B. der Community Reinforcement Approach (CRA; [4]) oder paartherapeutische Therapieansätze [5] [6]. Diese Ansätze sind stark auf Verhaltensänderungen fokussiert. Jedoch gibt es keinen Ansatz, welcher explizit eine Haltungs- bzw. Einstellungsänderung anstrebt. Deshalb entwickelten wir das Kurzinterventionsmodul „Leistungssensible Suchttherapie“ (LST; [7]). Es berücksichtigt diese Umstände und will die Leistungssensibilität bei Betroffenen wie nahestehenden Personen fördern. Der Schwerpunkt von LST ist die Haltungsänderung gegenüber der Abhängigkeitserkrankung. Um dauerhaft hohe Leistungen erbringen zu können, braucht der Mensch Motivation, Unterstützung und Anerkennung. Genau hier setzt LST an: Abstinenzbemühungen werden als täglich zu erbringende Leistungen angesehen, auf die man zu Recht stolz sein darf.

Merke

Scham- und Schuldgefühle in Bezug auf die eigene Abhängigkeitserkrankung sind häufig. Sie führen zu weniger Transparenz, Selbstwirksamkeitserwartung und Veränderungsmotivation. Eine leistungssensible Haltung würdigt Abstinenzbemühungen als täglich zu erbringende Leistung, auf die die Betroffenen stolz sein können.

Eine humanistische Grundhaltung bestehend aus Authentizität, Empathie und Akzeptanz [8] ist das Fundament der LST. Grundbausteine von LST sind Prinzipien der Motivierenden Gesprächsführung [9], insbesondere bezüglich Umgang mit Ambivalenz und Widerstand, sowie das Kohärenzgefühl [10], da LST zur Verstehbarkeit und Bewältigung der Abhängigkeitserkrankung beitragen möchte. Ein weiterer Grundbaustein ist die Konsistenztheorie nach Grawe [11]. Einerseits erleben Betroffene die zu erbringenden Leistungen im Dienste der Abstinenz als große Herausforderung und Belastung, deren Bewältigung ein Gefühl von Stolz erzeugen und durch das Umfeld mit Lob, Anerkennung und Unterstützung gewürdigt werden sollte. Andererseits ist zu beobachten, dass viele Betroffene sich für ihre Abhängigkeitserkrankung schämen, dadurch ihre Abstinenzbemühungen verheimlichen und so den Zugang zu Unterstützung und Anerkennung verunmöglichen. Des Weiteren berichten viele Betroffene, dass sie selbst, wie auch ihr Umfeld, den Zustand der Abstinenz als Selbstverständlichkeit bewerten, was ebenfalls eine positive Verstärkung durch Anerkennung erschwert. Diese Inkongruenz zwischen dem Bedürfnis nach Selbstwertsteigerung (Lob und Anerkennung für erbrachte Leistungen) und dem Bedürfnis nach Sicherheit und Selbstwerterhalt (Schutz vor Schamgefühlen z. B. durch Intransparenz gegenüber dem Umfeld in Bezug auf die Abhängigkeitserkrankung) soll durch die leistungssensible Haltung reduziert oder im besten Fall aufgelöst werden. In einer Pilotstudie [7], die einem quasiexperimentellen Design folgte, wurde die Wirksamkeit des Therapiemoduls im Rahmen der stationären Entzugsbehandlung untersucht. Die Interventionsgruppe, welche sich aus 33 Personen mit einer substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankung zusammensetzte, nahm zusätzlich zu dem Standardtherapieprogramm an dem Therapiemodul teil. Die Kontrollgruppe, 31 Personen mit einer substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankung, erhielt das Standardtherapieprogramm. Es konnte gezeigt werden, dass die Interventionsgruppe signifikant weniger Rückfälle während der Behandlung aufwies als die Kontrollgruppe. Hier möchten wir nun das Therapiemodul „Leistungssensible Suchttherapie“ vorstellen und erste Daten einer Wirksamkeitsüberprüfung in der stationären Entwöhnungstherapie berichten. Basierend auf unseren Ergebnissen aus der Entzugstherapie erwarteten wir, dass die Interventionsgruppe weniger Rückfälle im Behandlungszeitraum aufweist als die Kontrollgruppe. Auch gingen wir von einem positiven Einfluss des Therapiemoduls „Leistungssensible Suchttherapie“ auf die generelle psychische Belastung, Scham- und Schuldgefühle bezüglich der Abhängigkeitserkrankung, emotionale Kompetenzen und die Lebensqualität aus.


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Material und Methoden

Das Kurzinterventionsmodul „Leistungssensible Suchttherapie“

Das Therapiemodul „Leistungssensible Suchttherapie“ ist als Kurzintervention während der Entzugs- oder der Entwöhnungsphase im stationären Rahmen konzipiert. LST ist in drei Gruppensitzungen à 90 Min gegliedert. In der ersten Sitzung wird die leistungssensible Haltung als hilfreiche und erfolgsversprechende Haltung vorgestellt. Die Betroffenen lernen verschiedene Haltungen gegenüber einer Abhängigkeitserkrankung kennen und werden dafür sensibilisiert, dass es notwendig ist, sich der eigenen Abhängigkeit konstruktiv zuzuwenden anstatt diese zu verleugnen oder zu bagatellisieren. In der zweiten Sitzung stehen die Themen „Ehrlichkeit“ und „Transparenz“ im Zentrum. Hier setzen sich die Betroffenen mit der Frage auseinander, warum Ehrlichkeit für Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung eine derart groβe Herausforderung darstellt. Das Wissen um Ehrlichkeit als große Abstinenzleistung ist die Grundlage für die Wertschätzung der eigenen Ehrlichkeit im Gegensatz zur Selbstverurteilung bei Intransparenz. Zudem werden die Teilnehmenden in dieser Sitzung anhand eines Rollenspiels darauf vorbereitet, nahestehende Personen über ihre aktuelle Situation zu informieren und zur dritten Gruppensitzung einzuladen. Gemeinsam mit den nahestehenden Personen werden im Rahmen der dritten Gruppensitzung zunächst die Inhalte der ersten beiden Gruppensitzungen wiederholt. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Implementierung der leistungssensiblen Haltung. In diesem Rahmen werden auch die Leistungen der nahestehenden Personen gewürdigt, da der Umgang mit den Betroffenen auch von ihnen zeitweise hohe Leistungen abverlangt. Anschließend werden Wünsche und Befürchtungen in Bezug auf die Abhängigkeitserkrankung zwischen den Betroffenen und deren nahestehenden Personen ausgetauscht, um den Boden für eine zukünftig offene und ehrliche Kommunikation zu ebnen. Im letzten Teil der Sitzung werden die gegenseitigen Erwartungen zum Umgang mit Krisen in einer schriftlichen Abmachung festgehalten ([Infobox 1]).

Merke

Ein unterstützendes soziales Umfeld ist wichtig für die Aufrechterhaltung der dauerhaft zu vollbringenden Abstinenzleistungen. Die LST trägt dem Rechnung, indem sie dysfunktionale, gegenseitige Erwartungen bearbeitet und somit eine hilfreiche Kommunikation ermöglicht.

Die Leistungssensible Suchttherapie sensibilisiert in allen drei Sitzungen nicht nur für die Leistungen, die für die Abstinenz zu erbringen sind, sondern auch für jene, welche nach Rückfällen oder im Umgang mit Krisen (Scham überwinden um transparent zu sein; sich mitteilen, andere miteinzubeziehen, Konsum stoppen), oder aufgrund der Symptome komorbider Störungen (z. B. Depression, Angst) aufzubringen sind. In der ersten Sitzung wird bspw. ein Rollenspiel zur Vermeidung eines Rückfalls inszeniert und in der dritten Sitzung wird dezidiert daran gearbeitet, dass Betroffene und ihre nahestehenden Personen gemeinsame, leistungssensible Abmachungen für den Fall von Suchtdruck und für den Fall eines Rückfalls erarbeiten und schriftlich festhalten.

Die nicht beschämende Haltung gegenüber und der supportive Umgang mit Rückfällen, welcher in der Leistungssensiblen Suchttherapie angestrebt wird, werden auch in den Arbeiten von Joachim Körkel betont [12]. Auch im „Strukturierten Trainingsprogramm zur Alkohol-Rückfallprävention“ [2] wird Transparenz hinsichtlich Rückfällen als wichtiger Schritt für die Rückkehr zur Abstinenz vermittelt und ein sogenannter „Ausrutscher-Vertrag“ wird durch die Patienten erarbeitet, welchen sie dann mit einer Vertrauensperson abschließen. In der LST steht das Thema Ehrlichkeit und Transparenz mehr im Fokus und die Abmachungen werden im Dialog mit den nahestehenden Personen erarbeitet.

Infobox 1Leistungssensible Suchttherapie

Die Kurzintervention „Leistungssensible Suchttherapie“ fördert eine von Stolz und Ehrlichkeit geprägte Haltung im Umgang mit der eigenen Abhängigkeitserkrankung und beugt damit Rückfällen vor. Sie besteht aus drei 90-minütigen Sitzungen. In Sitzung 1 wird die leistungssensible Haltung als hilfreiche und erfolgsversprechende Haltung vorgestellt. In Sitzung 2 geht es um die Themen „Ehrlichkeit“ und „Transparenz“ und in der dritten Sitzung werden mit eingeladenen Angehörigen die Themen wiederholt und die Leistungen von Betroffenen und Angehörigen gewürdigt. Gegenseitige Erwartungen zum Umgang mit Krisen werden in einer schriftlichen Abmachung festgehalten.


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Klinik

Die Studie wurde in der Klinik im Hasel (Gontenschwil, Schweiz) durchgeführt. Die Klinik im Hasel bietet Entwöhnungstherapien für stoffgebundene und stoffungebundene Abhängigkeitserkrankungen an. Die Behandlung ist abstinenzorientiert, wobei aber auch ein Entscheid für einen kontrollierten Konsum respektiert und mit Vermittlung der Rahmenbedingungen unterstützt wird. Es ist das Ziel, die Patienten auf dem Weg aus der Abhängigkeitserkrankung hinaus zu einem eigenständigen, selbstbestimmten Leben zu begleiten. Im Umgang mit den Patienten wird viel Wert auf Respekt, Empathie und eine wertschätzende, wohlwollende Haltung gelegt.


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Klinikleitbild und LST

In der Leistungssensiblen Suchttherapie werden zusätzlich die Leistungen der Patienten in den Vordergrund gestellt und Gleichheitserwartungen (die Erwartung von Betroffenen und ihnen nahestehenden Personen, dass es beiden gleich leichtfallen müsste, abstinent zu sein) entgegengewirkt. Durch diese inhaltliche Ausrichtung liegt eine hohe Trennschärfe zu unseren anderen Therapieangeboten vor. Überdies wurde darauf geachtet, dass nur die in die Studie involvierten Personen genauer mit den Inhalten der LST vertraut waren, so dass wir nicht riskierten, dass auch die Kontrollgruppe von den Inhalten der LST profitierte.


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Design

Die Studie folgt einem randomisierten Kontrollgruppendesign und wurde von der ansässigen Ethikkommission bewilligt (AG/SO 2012/078).

Alle Neueintritte in die Klinik im Hasel wurden mündlich und schriftlich über die Studie informiert. Patienten, die bereit waren an der Studie teilzunehmen, unterzeichneten eine Einverständniserklärung. Die Zuteilung der Patienten zu den beiden Gruppen erfolgte per stratifizierter Randomisierung, wobei Geschlecht und Suchtmittel die Stratifizierungskriterien waren. Die Randomisierung erfolgte mit dem webbasierten Programm Sealed Envelope [13]. Die Interventionsgruppe nahm zusätzlich zur üblichen Entwöhnungsbehandlung (Treatment as usual) an den drei Gruppensitzungen der Leistungssensiblen Suchttherapie teil, sowie freiwillig an einer täglichen, 5-minütigen Morgenrunde, bei welcher die besprochenen Inhalte der Gruppensitzungen kurz wiederholt wurden. Der zeitliche Abstand zwischen zweiter und erster Gruppensitzung und dritter und zweiter Gruppensitzung betrug eine, respektive zwei Wochen. Alle vier Wochen begann eine neue Interventionsgruppe, sodass sich Gruppengröβen von 6–8 Teilnehmenden ergaben. Im Anschluss an die Intervention wurden Patienten und ihnen nahestehende, an der Intervention teilnehmende Personen zu ihrer Zufriedenheit mit dem Modul befragt.

Zu Beginn und Ende der Behandlung absolvierten die Studienteilnehmenden eine erweiterte standardisierte, computerisierte Diagnostik (siehe Messinstrumente).


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Stichprobe

100 Patienten wurden der Interventionsgruppe zugeteilt und haben mittlerweile die Klinik verlassen. Neun Patienten der Interventionsgruppe zogen ihre Studienteilnahme vor Beginn der ersten Gruppensitzung zurück oder wurden von der Studienteilnahme wegen Überforderung ausgeschlossen. Vier Patienten entschieden sich nach der ersten Gruppensitzung gegen eine weitere Studienteilnahme. 13 Patienten konnten wegen eines Therapieabbruchs die Studie nicht antreten bzw. nicht beenden. 10 Patienten konnten nicht alle 3 Sitzungen des Therapiemoduls „Leistungssensible Suchttherapie“ besuchen, weil sie externe Termine hatten. Von den 64 Patienten, welche das Therapiemodul „Leistungssensible Suchttherapie“ komplett absolvierten, füllten 9 die Austrittsdiagnostik nicht aus wegen eines Therapieabbruchs.

103 Patienten wurden der Kontrollgruppe zugeteilt und haben mittlerweile die Klinik verlassen. 18 Patienten füllten die im Rahmen der Austrittsdiagnostik erhaltenen Fragebögen nicht aus.

Die finale Stichprobe bestand somit aus 55 Patienten der Interventions- und 85 Patienten der Kontrollgruppe. Die Gruppen unterschieden sich nicht hinsichtlich der demografischen und klinischen Ausgangsvariablen ([Tab. 1]).

Tab. 1 Vergleich der demografischen und klinischen Ausgangsvariablen der Interventions- und Kontrollgruppe.

IG (TAU & LST)
N=55

KG (TAU)
N=85

t oder
χ2

p

Alter (MW)

42,2 (±10,4)

38,9 (±10,4)

−1,78

0,08

Geschlecht

0,13

0,85

Weiblich

14 (25,5%)

24 (28,2%)

Männlich

41 (74,5%)

61 (71,8%)

Abhängigkeit

1,14

0,29*

Alkohol

26 (47,3%)

33 (38,8%)

Drogen

27 (49,1%)

50 (58,8%)

Verhalten

2 (3,6%)

2 (2,4%)

Anzahl erfüllter ICD-10 Kriterien für die Abhängigkeit

5,47 (±1,07)

5,49 (±,84)

0,13

0,90

Therapiedauer in Tagen

144,22 (±43,72)

139,09 (±48,99)

0,63

0,53

BSCL

Somatisierung

2,69 (±2,65)

3,25 (±3,68)

0,97

0,33

Zwanghaftigkeit

5,41 (±4,25)

6,02 (±5,24)

0,72

0,47

Soz. Unsicherheit

3,56 (±3,17)

3,73 (±3,36)

0,29

0,77

Depressivität

4,82 (±4,43)

5,48 (±5,55)

0,78

0,44

Ängstlichkeit

4,44 (±3,83)

5,08 (±4,49)

0,88

0,38

Aggressivität

2,67 (±2,84)

3,02 (±2,73)

0,73

0,47

Phobische Angst

2,27 (±2,57)

3,02 (±3,88)

1,35

0,18

Paranoides Denken

3,71 (±3,21)

4,17 (±3,75)

0,74

0,46

Psychotizismus

3,13 (±3,03)

3,79 (±4,17)

1,09

0,28

Psychische Belastung

36,24 (±25,97)

41,58 (±34,11)

0,99

0,32

SEK-27

Aufmerksamkeit

7,44 (±3,20)

7,67 (±2,67)

0,46

0,65

Körperwahrnehmung

7,71 (±2,87)

7,31 (±2,72)

−0,83

0,41

Klarheit

7,69 (±2,99)

7,88 (±2,96)

0,37

0,71

Verstehen

7,69 (±2,97)

7,64 (±2,83)

−0,10

0,92

Regulation

6,06 (±2,70)

6,73 (±2,72)

1,43

0,16

Akzeptanz

7,64 (±2,73)

7,71 (±3,08)

0,15

0,88

Resilienz

6,67 (±2,64)

7,21 (±2,88)

1,12

0,26

Selbstunterstützung

7,20 (±3,01)

7,48 (±2,98)

0,53

0,60

Konfrontation

6,93 (±2,79)

7,17 (±3,08)

0,47

0,64

Gesamt

65,02 (±22,96)

66,80 (±21,03)

0,47

0,64

PODS

Schamgefühle

14,29 (±4,53)

14,74 (±4,75)

0,56

0,58

Schuldgefühle

11,11 (±3,78)

12,26 (±4,10)

1,67

0,10

WHOQOL

Physisch

24,91 (±4,40)

25,71 (±5,14)

0,35

0,35

Psychisch

19,93 (±4,39)

19,52 (±5,31)

−0,50

0,64

Soziale Beziehungen

10,55 (±2,36)

9,79 (±3,02)

−1,57

0,12

Umwelt

30,75 (±5,60)

29,17 (±5,65)

−1,62

0,11

Gesamt

92,95 (±13,16)

90,82 (±17,25)

−0,82

0,41

*Die Kategorie „Verhalten“ wurde von der Berechnung ausgeschlossen, da als Voraussetzung des Chi-Quadrat-Tests ein Erwartungswert von ≥ 5 gegeben sein muss. Der Einschluss dieser Kategorie führt nur zu einer statistisch unerheblichen Veränderung des Gruppenunterschieds.


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Messinstrumente

Nebst der internen Erfassung von Rückfällen wurden folgende Fragebogen eingesetzt.

Brief Symptom Checklist (BSCL; [14])

Die BSCL ist die validierte Kurzform der Symptom-Checkliste SCL-90- R und dient der Erfassung der momentanen psychischen Belastung. Der Fragebogen besteht aus 53 Items mit 5-stufiger Antwortmöglichkeit, die den 9 Dimensionen Somatisierung, Zwanghaftigkeit, Unsicherheit im Sozialkontakt, Depressivität, Ängstlichkeit, Aggressivität/Feindseligkeit, phobische Angst, paranoides Denken und Psychotizismus zuordenbar sind.


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Fragebogen zur standardisierten Selbsteinschätzung emotionaler Kompetenzen (SEK-27; [15])

Der SEK-27 dient der Erfassung des konstruktiven Umgangs mit negativen Emotionen. Der Fragebogen besteht aus 27 Items mit vierstufiger Antwortmöglichkeit, die den 9 Subskalen Aufmerksamkeit, Körperwahrnehmung, Klarheit, Verstehen, Regulation, Akzeptanz, Resilienz, Selbstunterstützung und zielbezogene Konfrontationsbereitschaft zuordenbar sind.


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Adaptierte Version der Perceptions of Drinking Scale (PODS; [16])

Die PODS dient der Erfassung Alkoholkonsum-bezogener Schuld- und Schamgefühle. Sie wurde von uns so adaptiert, dass sie generell suchtbezogene Schuld- und Schamgefühle erfasst. Der Fragebogen besteht aus 17 Items mit 5-stufiger Antwortmöglichkeit, die den 4 Subskalen Scham, Schuld, Sorglosigkeit und externe Schuldzuweisung zuordenbar sind.


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World Health Organization Quality of Life Bref (WHOQOL-BREF; [17])

Die WHOQOL-BREF dient der Erfassung der Lebensqualität. Der Fragebogen besteht aus 26 Items mit fünfstufiger Antwortmöglichkeit, die den 4 Subskalen körperliche Gesundheit, geistige Gesundheit, soziale Beziehungen und Umwelt zuordenbar sind.


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Fragebogen zur Erfassung der Zufriedenheit mit der 3. Modulsitzung

Wir entwickelten einen Fragebogen, bestehend aus 8 Items mit 5-stufiger Antwortmöglichkeit, um von den Patienten und ihren Angehörigen zu erfahren, wie zufrieden sie mit der Angehörigensitzung des Therapiemoduls „Leistungssensible Suchttherapie“ waren.


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Ergebnisse

Rückfallhäufigkeit während der Behandlung

Wir führten zwei Analysen durch, um Unterschiede zwischen Kontroll- und Interventionsgruppe in der Rückfallhäufigkeit während der Behandlung zu untersuchen. Zunächst analysierten wir Mittelwertunterschiede zwischen den Gruppen mithilfe des Mann-Whitney-U-Tests. Dieser ergab, dass in der Interventionsgruppe signifikant weniger Rückfälle während der Behandlung auftraten als in der Kontrollgruppe (z=−1,82, p einseitig =0,04) ([Tab. 2]).

Tab. 2 Anzahl der Rückfälle in der Interventions- und Kontrollgruppe.

Minimum

Maximum

Mittelwert (Standardabweichung)

Kontrollgruppe

0

6

1,09 (1,31)

Interventionsgruppe

0

5

0,73 (1,15)

Ausserdem dichotomisierten wir die Variable Rückfallhäufigkeit und verglichen die Verteilung Rückfall/Kein Rückfall während der Behandlung zwischen den Gruppen indem wir den Phi-Koeffizienten berechneten. Auch hier zeigte sich, dass weniger Personen in der Interventionsgruppe als in der Kontrollgruppe während der Behandlung einen Rückfall erlitten (Φ=−0,14, p einseitig =0,04) ([Abb. 1]).

Zoom Image
Abb. 1 Prozentuale Häufigkeit von rückfälligen und nicht-rückfälligen Patienten in Interventions- und Kontrollgruppe.

Eine 2-faktorielle Varianzanalyse mit der rangtransformierten Rückfallhäufigkeit als abhängige Variable ergab einen signifikanten Effekt der Substanz auf die Rückfallhäufigkeit (F[1,136]=10,65, p=0,001, η 2 =0,08). Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit wurden während des Klinikaufenthalts signifikant seltener rückfällig als Patienten mit einer Drogenabhängigkeit.


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Verlaufsmessung

Um den Einfluss unserer üblichen Entwöhnungsbehandlung und zusätzlich den der LST auf die psychische Belastung, Schuld- und Schamgefühle, emotionale Kompetenzen und Lebensqualität zu untersuchen, führten wir Varianzanalysen mit Messwiederholung mit Zeitpunkt (Eintritt, Austritt) als Innersubjektfaktor und Gruppe (TAU, TAU+LST) als Zwischensubjektfaktor durch. Die Analysen ergaben, dass beide Gruppen eine signifikante Reduktion der psychischen Belastung (Gesamtwert BSCL: F[1,138]=46,34, p<0,001, η 2 =0,25; Subskalen BSCL: Fs[1,138]=13,44 – 47,00, alle ps<0,001, η 2 s=0,09 −0,25) und von konsumbezogenen Scham- (F[1,135] = 25,51, p<0,001, η 2 =0,16) und Schuldgefühlen (F[1,135]=17,84, p<0,001, η 2 =0,12), eine signifikante Verbesserung der emotionaler Kompetenzen (Gesamtwert SEK-27: F[1,135] = 27,52, p<0,001, η 2 =0,17; Subskalen SEK-27: Fs[1,135]=13,00–27,52, alle ps<0,001, η 2 s=0,09 −0,17) und der Lebenszufriedenheit (Gesamtwert WHOQOL-BREF: F[1,136] = 42,67, p<0,001, η 2 =0,24; Subskalen WHOQOL-BREF: Fs[1,136] = 9,82–48,79, alle ps<0,002, η 2 s=0,07 −0,26) berichteten.


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Zufriedenheit mit der Angehörigensitzung

Zur Untersuchung der Zufriedenheit wurde je ein Einstichproben-T-Test gegen 0 (weder zufrieden noch unzufrieden) gerechnet. Sowohl für die Patienten, als auch für die Angehörigen waren die Zufriedenheitseinschätzungen signifikant grösser als 0 (Angehörige: Ms=1,19 – 1,76; ts[1,135]=21,37 – 40,31, ps<0,001; Patienten: Ms=1,26 – 1,78; ts[1,81]=18,20 – 36,22, ps<0,001).


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Diskussion

Die vorliegende Studie zeigt, dass das Therapiemodul „Leistungssensible Suchttherapie“ bei Patienten mit einer Abhängigkeitserkrankung in der stationären Entwöhnungstherapie zu einer signifikanten Verringerung der Rückfallhäufigkeit führt. Dies bestätigt unsere Ergebnisse einer Pilotstudie in der stationären Entzugsbehandlung.

Patienten, die eine stationäre Entwöhnungstherapie antreten, haben den ersten Schritt in der Bewältigung ihrer Abhängigkeitserkrankung getan – sie haben sich für ein Leben ohne Suchtmittel oder – verhalten entschieden und leben seit Beginn der Entzugsbehandlung abstinent. In der Phase der Entwöhnung erleben die Patienten meist das erste Mal seit langem die positiven Effekte einer Abstinenz (z. B. verbesserte körperliche und psychische Leistungsfähigkeit, Klarheit in Denken und Fühlen). Durch die abstinenzinduzierte Klarheit treten aber auch oft vertiefte Krankheitseinsicht und verstärkte Scham-, Schuld- und Versagensgefühle bezüglich der eigenen Krankheit auf. Diese Gefühle wurden in der Forschung als mögliche Auslöser von Rückfällen und erneuter Abhängigkeit identifiziert [18]. Deshalb ist es für die Therapie einer Abhängigkeitserkrankung enorm wichtig, dass die Betroffenen Unterstützung, Zuspruch und Anerkennung aus ihrem sozialen Umfeld erleben und dass sie selber sensibel für die Leistung, die sie mit der Abstinenz vollbringen, sind. Neben der eigenen Einstellung zur Erkrankung hat auch das soziale Umfeld der Betroffenen einen erheblichen Einfluss darauf, ob diese wieder beginnen zu konsumieren. Die Sensibilisierung der Angehörigen für die vom Betroffenen und von ihnen erbrachten Leistungen im Dienste der Abstinenz und nach Rückfällen und Krisen sollte Bestandteil der Therapie von Abhängigkeitserkankungen sein. Die in dieser Studie gefundene Reduktion der Rückfallhäufigkeit durch LST unterstützt diese Annahmen.

Es ist anzumerken, dass die Prinzipien der LST in keiner Weise im Konflikt mit einem Entscheid für den kontrollierten Konsum und gegen die Abstinenz stehen. Auch der kontrolliert konsumierende Mensch erbringt Abstinenzleistungen und Leistungen im Umgang mit Rückfällen in alte Konsummuster und kann daher von den Inhalten der Intervention profitieren.

Interessanterweise zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie, dass Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit mehr von der LST profitieren, im Sinne einer verringerten Rückfallrate gegenüber der Kontrollgruppe, als Patienten mit einer Drogenabhängigkeit. Wir möchten diesen für uns überraschenden Effekt in Zukunft näher beleuchten und beschreiben.

Was ist das Innovative an LST?

LST setzt nicht wie andere Interventionen auf der Ebene der Verhaltensänderung an (z. B. der „Community Reinforcement Approach“ [4] oder paartherapeutische Ansätze [5] [6]), sondern zielt bewusst auf eine Haltungs- bzw. Einstellungsänderung gegenüber der Abhängigkeitserkrankung ab. Dass eine Haltungsänderung Erfolge bei der Rückfallprävention erzielen kann, haben Therapieansätze wie MBRP [19] und DBT [20] gezeigt. LST richtet den Fokus jedoch nicht direkt auf eine Haltungsänderung in Bezug auf Achtsamkeit und Akzeptanz, sondern vielmehr auf den Aspekt der Leistung, die im Umgang mit der Abhängigkeitserkrankung zu erbringen ist. Somit wird die Belastung der Betroffenen und Ihrer Angehörigen als zentrale Tatsache gewürdigt und darauf aufbauend die leistungssensible Haltung als notwendige und adäquate Haltung gegenüber der eigenen Erkrankung vorgestellt. Die Innovation liegt zum einen im Gedanken der leistungssensiblen Haltung und zum anderen in der konsequenten konzeptionellen Umsetzung dieser Haltung auf der Ebene Therapeut/-in, betroffene Person sowie nahestehende Personen. Die Aussagen „Abstinenz ist eine zu erbringende Leistung“ und „Abstinenz ist keine Selbstverständlichkeit“ stehen dabei im Zentrum und werden in ihrer Konsequenz den Betroffenen sowie ihren nahestehenden Personen zugänglich gemacht. Neben den Leistungen betreffend die Abstinenz stehen auch die Leistungen im Umgang mit Rückfällen, Krisen und komorbider Symptomatik im Fokus der LST. Die Überwindung der Scham- und Schuldthematik sowie die Reduktion der damit verbundenen Inkongruenzen, die das Konsumverhalten ungünstig beeinflussen, sind zum ersten Mal Ziele eines leicht umsetzbaren gruppentherapeutischen Manuals. Betroffene, aber auch nahestehende Personen, sollen Wertschätzung und Anerkennung für die Leistung, die sie täglich im Dienste der Abstinenz erbringen müssen, erhalten. Die manualisierte Umsetzung der humanistischen Grundhaltung hinter dem leistungssensiblen Gedanken kann ebenso als Neuheit verstanden werden. Die Prinzipien der Akzeptanz, Empathie und Kongruenz wurden bei der Konzeption dieser Kurzintervention bewusst berücksichtigt. Das Therapiemodul „Leistungssensible Suchttherapie“ erfreut sich bei den Teilnehmern großer Beliebtheit, wie an Zufriedenheitseinschätzungen zur dritten Sitzung ablesbar ist. Somit ist davon auszugehen, dass die darin behandelten Themen von den Teilnehmern als relevant angesehen werden.

Merke

Die Etablierung einer leistungssensiblen Haltung in Suchthilfesystemen, zu denen auch Hausärzte, Sozialdienste, Beratungsstellen gehören, sollte langfristiges Ziel sein, damit Betroffene und nahestehende Personen sich ohne Bedenken um Unterstützung bemühen können.

Neben der Veränderung auf der Verhaltensebene hypothetisierten wir eine gröβere Verbesserung der Interventionsgruppe hinsichtlich der psychischen Belastung, der Lebenszufriedenheit, den emotionalen Kompetenzen sowie Scham- und Schuldgefühlen. Diese Hypothesen konnten wir bisher nicht bestätigen. Sowohl Interventionsgruppe, als auch Kontrollgruppe zeigten sich in diesen Bereichen zum Zeitpunkt des Austritts signifikant verbessert gegenüber dem Eintritt. Unsere Patienten bleiben in der Regel 12 bzw. 24 Wochen in der Klinik und nehmen an einem reichhaltigen und vielfältigen Therapieprogramm teil, wovon LST nur ein Baustein von vielen ist. Das gesamte Therapieprogramm ist evidenzbasiert und baut auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen auf, so dass zu erwarten ist, dass dieses allein schon große Effekte auf die von uns per Fragebogen erhobenen Konstrukte hat und der Einfluss einer einzelnen Intervention dann nicht mehr deutlich hervortreten kann.

Umso bemerkenswerter ist es, dass das Therapiemodul „Leistungssensible Suchttherapie“ mit seiner einzigartigen Fokussierung auf einer Einstellungsänderung gegenüber der eigenen Erkrankung und Abstinenz zu einer deutlichen Abnahme der Rückfallhäufigkeit führte.


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Einschränkungen

Trotz Anwendung eines randomisierten Kontrollgruppendesigns können kleine Selektionseffekte nicht ausgeschlossen werden. Es könnte sein, dass die 13 Patienten, welche sich nach der Zuteilung zur Interventionsgruppe oder nach der ersten Sitzung gegen eine Teilnahme am Therapiemodul entschieden, generell weniger Therapiemotivation und eine stärkere Symptombelastung und damit möglicherweise ein höheres Rückfallrisiko aufwiesen als jene, die das Therapiemodul komplett absolvierten. Somit könnte es sein, dass die Patienten in der verbleibenden Interventionsgruppe im Mittel eine leicht höhere Therapiemotivation, eine geringere Symptombelastung und damit vielleicht ein geringeres Rückfallrisiko aufwiesen als die Patienten in der Kontrollgruppe. Die Anzahl der durchschnittlich erfüllten ICD-10 Kriterien für die Abhängigkeitserkrankung unterscheidet sich nicht signifikant zwischen den beiden Gruppen ([Tab. 1]), womit zumindest das Argument einer geringeren Symptombelastung widerlegt werden kann. Dennoch bedarf es sicherlich weiterer Untersuchungen, um die gefundene Reduktion der Rückfallhäufigkeit zweifelsfrei auf die LST zurückzuführen und um die spezifischen Wirkfaktoren zu identifizieren. Dies gilt insbesondere, da kein signifikanter Unterschied zwischen den Versuchsgruppen in suchtbezogenen Schuld- und Schamgefühlen nachgewiesen werden konnte.


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Ausblick – Weiterentwicklung von LST

Mit der vorliegenden Untersuchung konnten wir zeigen, dass die Förderung der Transparenz gegenüber Angehörigen und einer leistungssensiblen Haltung gegenüber der eigenen Abhängigkeitserkrankung durch unser Therapiemodul „Leistungssensible Suchttherapie“ zu einer signifikanten Verringerung der Rückfallrate während einer Entwöhnungstherapie führte. Zu prüfen bleibt einerseits, ob diese Effekte auch nach der Behandlung erhalten bleiben und ob sie andererseits auch in einem ambulanten Therapiesetting erreichbar sind. Aktuell erheben wir katamnestische Daten bei unseren Studienteilnehmern und planen die Implementierung des LST-Therapiemoduls in unserem Ambulatorium, um diese beiden Fragen beantworten zu können.

Konzeptuell möchten wir zukünftig unser Therapiemodul um den Aspekt des Selbstmitgefühls erweitern. Selbstmitgefühl bezeichnet eine wohlwollende, akzeptierende, achtsame und fürsorgliche Haltung gegenüber der eigenen Person inklusive der eigenen Fehler und Schwächen [21]. Bestehende Programme zur Kultivierung von Selbstmitgefühl konnten zeigen, dass eine Stärkung des Selbstmitgefühls zu weniger Depression, Angst und Stress und mehr Lebenszufriedenheit führte [22]. Interessanterweise reduzierten sich auch Schamgefühle, Minderwertigkeitsgefühle und Selbstverurteilung [23]. Da insbesondere Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen zu starken Scham- und Schuldgefühlen, sowie Selbstverurteilung neigen, erwarten wir, dass eine Stärkung des Selbstmitgefühls unserer Patienten einen zusätzlichen, positiven Effekt auf ihre Abstinenzsicherheit und ihre Lebensqualität haben wird. Vorläufige Ergebnisse bestätigen dies: Ein kurzes Training in Selbstmitgefühl im ambulanten Setting führte zu weniger Substanzgebrauch und -verlangen, sowie einem Anstieg in Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl [24].

Fazit für die Praxis

Die Förderung einer von Stolz und Ehrlichkeit geprägten Haltung gegenüber der eigenen Abhängigkeitserkrankung durch Leistungssensible Suchttherapie kann die herkömmliche Entwöhnungstherapie effektiv ergänzen. Die Wirksamkeit im ambulanten Setting und über die Behandlung hinaus müsste Gegenstand weiterer Forschung sein. Auch wären Replikationsstudien wünschenswert, welche die Robustheit der gefundenen Ergebnisse prüfen und potentielle Selektionseffekte kontrollieren. Darüber hinaus bedarf es der gezielten Identifikation spezifischer Wirkfaktoren.


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Autorinnen/Autoren

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Martin Fleckenstein
Psychologe MSc, Leitung Stationäre Therapie Gontenschwil, Therapeutische Leitung, Mitglied der Geschäftsleitung Klinik im Hasel

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Marlis Heer
MSc ZFH in Angewandter Psychologie, cand. Psychotherapeutin pca.acp, Primarlehrerin; aktuell Psychotherapeutin in der Klinik Im Hasel, Tagesklinik und Ambulatorium Lenzburg

Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Wir danken Fiona Herzig für wichtige Anregungen bei der Planung der Studie, Marion Thoma und Sabina Gospodinov für die Durchführung der Kurzintervention und den Assistenzpsychologen und -psychologinnen und den Praktikanten und Praktikantinnen der Klinik im Hasel für die Datenerhebung beziehungsweise das Datenmanagement.

* Gleichberechtigte Erstautoren


  • Literatur

  • 1 Lindenmeyer J. Lieber schlau als blau. 9. überarbeitete Auflage Basel: Beltz; 2010
  • 2 Körkel J, Schindler C. Rückfallprävention mit Alkoholabhängigen. Das strukturierte Trainingsprogramm S.T.A.R. Heidelberg: Springer; 2003
  • 3 Resilienz WC. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. 6. Auflage Berlin: Cornelsen; 2016
  • 4 Meyers RJ, Smith JE. CRA-Manual zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit. Erfolgreicher behandeln durch positive Verstärkung im sozialen Bereich. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2007
  • 5 McCrady B, Wilson A, Munõz R. et al. Borders, A. Alcohol-focused behavioral couple therapy. Family Process 2016; 55: 443-459
  • 6 O’Farrell TJ, Fals-Stewart W. Behavioral couples therapy for alcoholism and drug abuse. Journal of Substance Abuse Treatment 2000; 18: 51-54
  • 7 Fleckenstein M, Heer M. Wirksamkeitsüberprüfung der Kurzintervention „Der Sucht begegnen – Sicherheit durch Haltung“ [Masterarbeit]. Zürich: Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften; 2013. Im Internet http://www.zhaw.ch/fileadmin/user_upload/psychologie/Downloads/Bibliothek/Arbeiten/MA/ma0097.pdf
  • 8 Rogers CR. Der neue Mensch. Stuttgart: Klett-Cotta; 1981
  • 9 Miller WR, Rollnick S. Motivierende Gesprächsführung. Freiburg: Lambertus; 1999
  • 10 Salutogenese AA. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt; 1997
  • 11 Grawe K. Grundriss einer Allgemeinen Psychotherapie. Psychotherapeut 1995; 40: 130-145
  • 12 Sealed Envelope Ltd. Create a blocked randomisation list. [Online] Available from: https://www.sealedenvelope.com/simple-randomiser/v1/lists 2017;
  • 13 Körkel J. Rückfall muss keine Katastrophe sein. Wuppertal: Blaukreuz Verlag; 2010
  • 14 Franke GH. BSCL-53 Die. Symptom-Checkliste mit 53 Items – Standardform – Deutsches Manual. Göttingen: Hogrefe; 2013
  • 15 Berking M, Znoj HJ. Entwicklung und Validierung eines Fragebogens zur standardisierten Selbsteinschätzung emotionaler Kompetenzen (SEK-27). Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie 2008; 56: 141-153
  • 16 Treeby M. Shame and Guilt: Implications for the Regulation of Alcohol Use [Dissertation]. Hobart, Australia: University of Tasmania School of Psychology; 2011
  • 17 Angermeyer MC, Kilian R, Matschinger H. WHOQOL-100 und WHOQOL-BREF: Handbuch für die deutschsprachige Version der WHO-Instrumente zur Erfassung von Lebensqualität. Göttingen: Hogrefe; 2000
  • 18 Randles D, Tracy JL. Nonverbal displays of shame predict relapse and declining health in recovering alcoholics. Clinical Psychological Science 2013; 1: 149-155
  • 19 Bowen S, Chawla N, Marlatt GA. Mindfulness-based relapse prevention for addictive behavior. New York: Guilford Press; 2010
  • 20 Bohus M, Berger M. Die dialektisch-behaviorale Psychotherapie nach M. Linehan. Ein neues Konzept zur Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Nervenarzt 1996; 67: 911-923
  • 21 Neff K. Self-compassion: An alternative conceptualization of a healthy attitude toward oneself. Self and Identity 2003; 2: 85-101
  • 22 Neff KD, Germer CK. A pilot study and randomized controlled trial of the mindful self-compassion program. Journal of Clinical Psychology 2013; 69: 28-44
  • 23 Gilbert P, Procter S. Compassionate mind training for people with high shame and self-criticism: Overview and pilot study of a group therapy approach. Clinical Psychology & Psychotherapy 2006; 13: 353-379
  • 24 Gilbert SE. Using mindful self-compassion to improve self-criticism, self-soothing, cravings, and relapse in substance abusers in an intensive outpatient program [Dissertation]. Knoxville, USA: University of Tennessee; 2014

Korrespondenzadresse

Martin Fleckenstein
Klinik im Hasel AG
Hasel 837
5728 Gontenschwil

  • Literatur

  • 1 Lindenmeyer J. Lieber schlau als blau. 9. überarbeitete Auflage Basel: Beltz; 2010
  • 2 Körkel J, Schindler C. Rückfallprävention mit Alkoholabhängigen. Das strukturierte Trainingsprogramm S.T.A.R. Heidelberg: Springer; 2003
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  • 23 Gilbert P, Procter S. Compassionate mind training for people with high shame and self-criticism: Overview and pilot study of a group therapy approach. Clinical Psychology & Psychotherapy 2006; 13: 353-379
  • 24 Gilbert SE. Using mindful self-compassion to improve self-criticism, self-soothing, cravings, and relapse in substance abusers in an intensive outpatient program [Dissertation]. Knoxville, USA: University of Tennessee; 2014

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Abb. 1 Prozentuale Häufigkeit von rückfälligen und nicht-rückfälligen Patienten in Interventions- und Kontrollgruppe.