Pädiatrie up2date 2008; 3(4): 375-389
DOI: 10.1055/s-2008-1077546
Sozialpädiatrie

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Essstörungen

Bettina  Zuppinger
Further Information

Publication History

Publication Date:
04 December 2008 (online)

Einführung

Allgemeines

Essstörungen sind verantwortlich für viele psychosomatische und körperliche Symptome und Erkrankungen in der weiblichen Adoleszenz. Bei jungen Männern kommt die Erkrankung ebenfalls vor, aber sehr viel seltener.

Abb. 1 Die Hungerkönigin I (Max Grüter/Bettina Zuppinger, 2008).

Als behandelnder Arzt ist es wichtig, Jugendliche mit Essstörungen möglichst frühzeitig zu erkennen. Je rascher die Diagnose gestellt und eine Therapie eingeleitet wird, umso größer sind die Erfolgschancen und die so gefürchtete Chronifizierung kann möglicherweise verhindert werden. Wichtig in der Zusammenarbeit mit essgestörten Patienten ist es, die eigenen Grenzen zu erkennen und bei fehlender Besserung der Situation die Patientin an ein spezialisiertes Team zu überweisen.

Dieser Artikel soll eine Hilfestellung bieten, Essstörungen möglichst im Frühstadium zu erkennen. Er soll zu einem guten, affektiven Kontakt mit der Patientin beizusteuern, damit später eine adäquate Therapie und Begleitung möglich ist.

Merke: Je früher im Verlauf einer Essstörung die Diagnose gestellt und eine adäquate Therapie eingeleitet wird, umso besser ist die Prognose!

Gründe, die zu einem ersten Kontakt mit dem Hausarzt führen, können sehr vielfältig sein. Häufig wird das eigentliche Problem von der Patientin nicht direkt angesprochen.

Zyklusstörungen oder verzögert eintretende Menarche und Pubertät können Anzeichen für eine Essstörung sein. Obstipation, Bauchschmerzen, unklares Erbrechen, fehlende Gewichtszunahme während des Wachstums und Kleinwuchs können auf eine Anorexie bzw. Bulimie hinweisen. Auch bei plötzlichem sozialen Rückzug, Traurigkeit und Lustlosigkeit sollte man aufmerksam werden.

Hinweise auf Essstörungen A somatisch Wachstumsstopp Gewichtsschwankungen Unfähigkeit, Gewicht zuzunehmen Müdigkeit Verstopfung/Durchfall Erbrechen verspätet eintretende Menarche Zyklusunregelmäßigkeiten Amenorrhoe Hypokaliämie, Hypophosphatämie, metabolische Azidose/Alkalose, erhöhte Amylase B Verhalten Veränderung des Essverhaltens Vegetarismus ausgesprochen gesunde Ernährung Schwierigkeiten, mit anderen zusammen zu essen Verweigerung, sich wiegen zu lassen Depression sozialer Rückzug Schulabsenzen Stehlen (von Esswaren) Drogen exzessives Sporttreiben Merke: Das Spektrum des gestörten Essverhaltens ist groß und reicht von pubertärem, transienten Fehlverhalten ohne bleibenden gesundheitlichen Schaden bis zum lebensbedrohlichen Krankheitsbild.

Im Folgenden wird auf die Anorexia nervosa, die Bulimia nervosa, das nicht spezifizierte gestörte Essverhalten – auch atypische Essstörung genannt (EDNOS) – und die Female Athlete Triad eingegangen. Die Adipositas, die ebenfalls mit einer Störung des Essverhaltens einher geht und viel häufiger ist, wird nicht beschrieben.

Die Prävalenz des gestörten Essverhaltens in der Normalbevölkerung liegt bei 0,5 – 9 % [1]. Weibliche Teenager mit einem vollkommen unauffälligen Essverhalten sind äußerst rar. Abmagerungskuren, unausgewogene Ernährung und das übermäßige Beschäftigen mit der eigenen Körperform gehören zu dieser Altersgruppe. Dieses Verhalten führt nur in seltenen Fällen zu einer Essstörung. Die Inzidenz der Anorexia nervosa wird mit 1 % aller Jugendlichen angegeben. Der Anteil der jungen Männer beträgt lediglich 10 % [2] [3]. Die Bulimie ist mit bis zu 3 % [2] [3] deutlich häufiger. Aufgrund des mit der Krankheit verbundenen Schamgefühls ist die Dunkelziffer sehr hoch.

Ätiologie

Die Ätiologie ist ungeklärt. Viele Ursachen werden für das Entwicklen einer Essstörung verantwortlich gemacht. Diskutiert werden genetische Prädispositionen, vor allem im Zusammenhang mit Übergewicht und Anorexie [4] [5]. Bestimmte familiäre Konstellationen wie konfliktverdrängende Beziehungsstrukturen und fehlendes bzw. nicht adäquates Verarbeiten von Trennungs- und Verlusterlebnissen scheinen eine Essstörung zu begünstigen. Intrapsychische Faktoren können neben erlebter sexueller, physischer und/oder psychischer Gewalt eine Rolle spielen. Dies sind z. B. Angst vor dem Erwachsenwerden, Sexualität, reduziertes Selbstwertgefühl, Hang zum Perfektionismus mit rigider Persönlichkeitsstruktur, verbunden mit einem Kontrollbedürfnis und hohem Leistungsideal [6] [7].

Merke: Die soziokulturellen Einflüsse und der gesellschaftliche Druck, erfolgreich, dünn und attraktiv zu sein, können für die Entwicklung einer Essstörung förderlich sein, sie sind jedoch nie allein dafür verantwortlich.

Die Inzidenz dieser Erkrankung wäre viel höher, da der so genannte „Schlankheitswahn” (Abb. [2]) und die hohen Anforderungen unserer Gesellschaft alle Jugendlichen betreffen [6] [7] [8].

Abb. 2 Miss Twiggy und Venus von Willendorf (30 000 – 25 000 v.Chr.) – Die Venus von Willendorf gilt als eine der ältesten figurativen Darstellungen der menschlichen Figur und weicht mit ihren körperlichen Formen doch recht deutlich von der wesentlich jüngeren Miss Twiggy ab.

Auch Verlusterlebnisse, Überforderungssituationen, fehlende Akzeptanz in der Peergroup oder Ausschluss aufgrund von initialem Übergewicht können bei einer vorbestehenden Prädisposition die Krankheit auslösen [6] [7] [8]. Bei rund einem Viertel wird die Erkrankung einen chronischen Verlauf nehmen. Davon sterben aufgrund von Komplikationen oder Suizid 5 %. Die restlichen Patientinnen werden ganz gesund, lernen mit der Krankheit zu leben oder erleiden Rückfälle. Die Prognose bei jüngeren Patientinnen mit Anorexie ist günstiger als bei älteren [9]. Bei Patientinnen mit Bulimie finden sich Remissionsraten von 30 – 60 %. Die Erkrankung wird oft nicht oder lange nicht diagnostiziert. Chronische Verläufe nach einer Diagnosestellung werden mit bis zu 30 % angegeben. Viele leiden über lange Jahre an Residualsymptomen (EDNOS). Die Mortalität ist niedriger als bei der Anorexie und liegt bei 0,5 – 1 % [8].

Psychodynamik

Anorektische Patientinnen zeigen oft ein therapieabweisendes Verhalten. Dies kann Zeichen einer beginnenden Autonomie sein oder auf ihr hohes Perfektions- und Kontrollbedürfnis hinweisen. Gleiche Gründe für ihr Verhalten können auch überangepasste und trotzdem therapieresistente Mädchen haben. Die Anorexie kann einen ersten Schritt in Richtung Autonomie von der Familie darstellen. Die psychophysiologischen Prozesse des Hungerns können am Anfang zu einem Wohlgefühl und einer Steigerung des Selbstwerts führen. Das strikte Hungern und die Rigidität bei der Nahrungsaufnahme gibt Sicherheit in den Wirren der Pubertät.

Bulimische Patientinnen zeigen ein angepasstes Verhalten. Dieses scheint im Gegensatz zu den fehlenden Therapieerfolgen zu stehen. Das Symptom Erbrechen ist mit großer Scham besetzt und spielt sich im Verborgenen ab. Es wird nur schwer preisgegeben und ist schwierig therapeutisch anzugehen [9].

Für beide Patientinnengruppen gilt, dass ihr niedriges Selbstbewusstsein, die Scham- und die Insuffizienzgefühle Angst auslösen und sie daran hindern, darüber zu sprechen. Das gestörte Essverhalten zu verändern, löst ebenfalls Widerstände aus, da dies zu einer Gewichtszunahme führen könnte. Ein Verändern der oft rigiden Tagesabläufe, das notwendig wäre, um eine Heilung zu erzielen, führt zu großer innerer Spannung. Diese Tagesstrukturen bieten Sicherheit und Kontinuität in einem Leben voller Unsicherheiten und Angst [10]. Die lang dauernde Mangelernährung führt neben den körperlichen Veränderungen auch zu psychischen Folgeerscheinungen.

Folgen der Mangelernährung 10 Unruhe angetrieben sein Adynamie ständiges Denken ans Essen Konzentrationsschwierigkeiten Aufmerksamkeitsdefizit reduzierte Problemlösungsfähigkeit Depressivität Cave: Bei einer diagnostizierten Essstörung muss immer auch an komorbide Erkrankungen gedacht werden, denn sie beeinflussen den Behandlungsplan.

Viele der Erkrankten leiden zusätzlich an einer Depression bzw. einer bipolaren affektiven Störung (manisch-depressiv). Soziale Phobie, Zwangs- und Angststörungen sind neben Persönlichkeitsstörungen (Borderline) und Missbrauch von Drogen und Alkohol ebenfalls anzutreffen [10].

Anamnese

Die Erhebung der Vorgeschichte braucht Zeit und Ruhe. Nur unter diesen Voraussetzungen kann die notwendige Information beschafft werden. Zumindest ein Teil der Anamnese sollte immer mit der Patientin allein erhoben werden. Das Arztgeheimnis und dessen Ausnahmen müssen klar kommuniziert werden.

Merke: Die Vertraulichkeit (Arztgeheimnis) gilt auch gegenüber den Eltern. Die Ausnahmen (Selbst- oder Fremdgefährdung) müssen mit der Patientin besprochen werden.

Neben der Familienanamnese und der persönlichen Anamnese müssen die psychosozialen Umstände der Patientin erhoben werden. Fragen zur Schule, dem Zuhause, Beruf, Partnerschaft, Peergroup, Zukunftswünsche, Selbstbild, Depression, Suizidalität, Zwänge, Ängste und Drogen- sowie Medikamentenabusus sind unabdingbar. Dazu kommen notwendige Fragen zur Essstörung (siehe Infobox).

Spezifische Fragen zur Essstörung Problemorientierte Anamnese maximales Gewicht minimales Gewicht Wunschgewicht Gewichtsschwankungen Nahrungsaufnahme der letzten 24 Stunden Ess- und Trinkgewohnheiten Essanfälle körperliche Aktivität Laxanzien- und Diuretika-Abusus Purging (Erbrechen, Einläufe) Gynäkologische Anamnese Menarche Zyklusunregelmäßigkeiten Sexuelle Aktivität Hormone

Literatur

  • 1 Sundgot-Borgen J. Eating disorders among male and female athletes.  Br J Sports Med. 1999;  33 343
  • 2 Steinhausen H C. Eating disorders in adolescence in a Swiss epidemiological study.  Int J Eat Disord. 1997;  22 147-151
  • 3 Whitaker A. Uncommon troubles in young people: prevalence estimates of selected psychiatric disorders in a nonreferred adolescent population.  Arch Gen Psychiatry. 1990;  47 487-496
  • 4 Treasure J. Genetic vulnerability to eating disorders: evidence from twin and familystudies. In: Remschmidt H, Schmidt MH (eds) Child and youth psychiatry: European perspectives. New York; Hogrefe and Huber 1989: 59-68
  • 5 Bulik C M. Twin studies of eating disorders: a review.  In J Eat Disord. 2000;  27 1-20
  • 6 Fairburn C G. Riskfactors for bulimia nervosa: a community-based case-control study.  Arch Gen Psychiatry. 1997;  54 509-517
  • 7 Fairburn C G. Riskfactors for anorexia nervosa: three integrated case-control comparisons.  Arch Gen Psychiatry. 1999;  56 468-476
  • 8 Fombonne E. Is bulimia nervosa increasing in frequency?.  Int J Eat Disord. 1996;  19 287-296
  • 9 Abbate-Daga G. Clinical, psychological and personality features related to age of onset of anorexia nervosa.  Psychopathology. 2007;  40 261-268
  • 10 Fairburn C G. Eatingdisorders.  Lancet. 2003;  361 407-416
  • 11 Rolland-Cachera M F. Body Mass Index variations: Centiles from birth to 87 years.  Eur J Clin Nutr. 1991;  45 13-21
  • 12 Garfinkel P E. Should amenorrhoea be necessary for the diagnosis of anorexia nervosa?.  Br J Psychiatritry. 1996;  168 500-506
  • 13 Sharp C W. The medical complications of anorexia nervosa.  Br Psychiatry. 1993;  162 452-462
  • 14 Georgiou E. Bone mineral loss related to menstrual history.  Acta Orthop Scand. 1989;  60 192-194
  • 15 Golden N H. Eating disorders in adolescence: what is the role of hormone replacement therapy?.  Curr Opin Obstet Gynecol. 2007;  19 434-439
  • 16 Roth D. Female Athlete Triad Diagnose. Therapie und Prävention von gestörtem Essverhalten, Amenorrhoe und Osteoporose.  Schweizerische Zeitschrift für Sportmedizin und Sporttraumatologie. 2000;  48 119-132
  • 17 Otis C L. American Collage of Sports Medicine position stand: the female athlete triad.  Med Sci Sports Exerc. 1997;  29 (5) i-ix
  • 18 Loucks A B. The female athlete triad.  Lancet. 2005;  366 S49-S50

Dr. med. Bettina Zuppinger

Praxis für Familienmedizin

Albisriederplatz 10
CH-8004 Zürich

Email: bettina.zuppinger@bluewin.ch