Rehabilitation (Stuttg) 2008; 47(4): 226-235
DOI: 10.1055/s-2008-1076706
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Praktische Nutzung der ICF: Erprobung eines neuen Ansatzes in vier Kliniken

The ICF in Use: Testing of a New Concept in Four ClinicsA. Leitner 1 , R. Kaluscha 2 , E. Jacobi 2
  • 1Forschungsinstitut für Rehabilitationsmedizin an der Universität Ulm
  • 2Forschungsinstitut für Rehabilitationsmedizin an der Universität Ulm, Universitätsrehabilitationsklinik Bad Wurzach
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Publication Date:
14 August 2008 (online)

Zusammenfassung

Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) umfasst mehr als 1 400 Items, deren Ausprägung auf einer lediglich fünfstufigen Skala beurteilt wird. Für den Einsatz in der Praxis ist sie so zu umfangreich, außerdem scheint die lediglich fünfstufige Skala der Beurteilungsmerkmale für eine Veränderungsmessung zu undifferenziert. Jacobi, Urban und Kaluscha haben daher mit vier Rehabilitationskliniken zunächst für muskuloskelettale Erkrankungen 148 reha-relevante Items identifiziert. Diesen Deskriptoren wurden zur besseren Handhabbarkeit (mnemonische) Drei-Letter-Codes zugewiesen. So steht z. B. das Kürzel GEH für „Gehen” (ICF d450). Der Arzt teilt dann individuell unter Berücksichtigung der Angaben des Rehabilitanden die wichtigsten Deskriptoren zu und beurteilt den Schweregrad für diese Deskriptoren auf einer Skala von 0 (keine Beeinträchtigung) bis 100 (maximale Beeinträchtigung). Es wird ein Bereich auf der Skala angegeben und somit eine unscharfe (fuzzy) Gradierung erlaubt. Dabei bildet der Mittelpunkt der Beurteilung den Schweregrad und die Breite des Bereiches die Sicherheit der Beurteilung ab. Da sowohl das freie Zuteilen von Deskriptoren aus einem Pool als auch die unscharfe Gradierung im medizinischen Bereich kaum angewandt werden, erschien uns eine Pilotstudie notwendig, die den Ansatz auf Praktikabilität und Akzeptanz prüft. In vier Rehabilitationskliniken wurden 264 Patienten nach diesem System beurteilt. Von den 148 zur Verfügung stehenden Deskriptoren wurden 138 (94%) verwendet. Im Mittel wurden sechs Deskriptoren pro Rehabilitand zugeteilt. Insgesamt liegen 1 764 Einzelurteile vor. Die sechs zugeteilten Deskriptoren pro Rehabilitand erlauben eine effiziente und dennoch präzise individuelle Dokumentation. Dies ist ein Vorteil des zugrunde gelegten Ordnungsprinzips der Begriffskombination gegenüber der Klassifikation. Im Gegensatz zu den ICF-Core-Sets erhalten Rehabilitanden ggf. unterschiedliche Sets von Deskriptoren. Bei Entlassung wird ein gegenüber der Aufnahme um durchschnittlich 25 Einheiten gebesserter Wert angegeben, d. h., das Verfahren spiegelt die eingetretene Veränderung während der Rehabilitation wider. Während der Behandlung nimmt die Unschärfe um durchschnittlich 2,8 Einheiten ab, was auf geringere Schwankungen der Beschwerden oder eine erhöhte Urteilssicherheit des Arztes zurückzuführen sein könnte. Die Rückmeldungen aus den beteiligten Kliniken haben gezeigt, dass das Verfahren relativ rasch erlernbar und praktikabel ist. Die Abbildung der so erhobenen Daten in die ICF ist leicht möglich. Der vorgestellte Ansatz könnte also neben den ICF-Core-Sets die Verwendung der ICF in der Praxis fördern.

Abstract

The International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) consists of more than 1 400 items. Due to its size and complexity, using the ICF is hardly feasible in practice. Moreover, the severity of problems is given only on a five-point scale (qualifiers), which seems too insensitive for measurement of changes. Thus, in cooperation with four rehabilitation hospitals, Jacobi, Urban & Kaluscha have identified 148 relevant items for musculosceletal diseases. For easier usage we assigned mnemonic three letter codes to these items, e. g. WAL for the item “Walking” (ICF d450). Then the physician assigns those few items which he and/or the patient consider most important. The severity of the problem is judged on a scale from 0 (no restriction) to 100 (maximum restriction) for each item. By drawing a bar on the scale the physician gives an interval instead of just a single point (fuzzy judgement). The centre of the interval represents the severity of the problem and the width represents the uncertainty of judgement, e. g. when there is no gold standard for measurement or when the problem varies with time. As both the assignment of descriptors from an item pool and the fuzzy judgements are a new approach to medical documentation, we carried out this pilot study to examine acceptance and feasibility of the approach. In the pilot study, 264 in-patients in four rehabilitation clinics have been included. 138 (94%) of the 148 descriptors in the item pool have been used. Altogether there were 1 764 single judgements. On average six descriptors per patient have been assigned, giving an efficient and precise individual documentation. This is an advantage of the documentation principle called combination of terms compared to the principle of classification. In contrast to the ICF core sets patients may get individual sets of descriptors as appropriate. On discharge, the judgements were about 25 points better compared to admission. During treatment the fluctuations of disorders decreased and the certainty of the judgements increased, resulting in reduction of interval width of 2,8 points. The feedback of the rehabilitation clinics involved showed good acceptance and feasibility. Our data can easily be mapped into the ICF. In addition to ICF core sets, our approach could facilitate the use of the ICF in practical settings.

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1 Unterschiedliche Deskriptorenpools mögen zwar klinikübergreifende Auswertungen erschweren. Im eigenen Hause entwickelte Deskriptorenlisten dürften aber die Akzeptanz gegenüber von außen kommenden umfangreichen Listen erhöhen. Aufgrund der Zuordnung der Deskriptoren zu entsprechenden ICD- und ICF-Codes bleibt aber die gemeinsame Sprache erhalten und ein klinikübergreifendes Pooling der Daten zumindest in Teilbereichen möglich.

2 Das gleiche Prinzip wird auch bei Kürzeln für Flughäfen (FRA=Frankfurt/Main) oder deutschen Kfz-Kennzeichen (RV=Ravensburg) verwendet.

3 Der Einfachheit halber sprechen wir hier nur vom Arzt. Die Zuteilung von Deskriptoren kann natürlich auch durch andere Mitglieder des Reha-Teams, wie z. B. Pflege, Physio- bzw. Ergotherapie oder Psychologie, aus ihrer Sicht erfolgen bzw. ergänzt werden.

4 Natürlich ist auch eine EDV-gestützte Dokumentation möglich.

5 Diese Beurteilungen können teilweise auch durch andere Mitglieder des Reha-Teams, wie z. B. Pflegekräfte, Physiotherapeuten oder Psychologen, erfolgen bzw. ergänzt werden. Der Einfachheit halber sprechen wir in der Folge nur vom Arzt.

Korrespondenzadresse

Dr. Annette Leitner

Forschungsinstitut für Rehabilitationsmedizin an der Universität Ulm

Steinhövelstr. 9

89075 Ulm

Email: annette.leitner@uni-ulm.de