Dtsch Med Wochenschr 2008; 133(12): 563
DOI: 10.1055/s-2008-1067281
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Fortschritt und Fesseln der Herzmedizin

Advances and restraints in cardiologyH.-M Piper1 , E. Erdmann2
  • 1Physiologisches Institut der Justus-Liebig-Universität
  • 2Medizinische Klinik III der Universität zu Köln
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Publication History

Publication Date:
12 March 2008 (online)

Die 74. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) steht in diesem Jahr unter dem Motto „Reperfusion, Remodelling und Regeneration”. Das Programm bietet eine umfassende Übersicht über die kardiovaskuläre Medizin, von der molekularen Grundlagenforschung bis zu den aktuellsten klinischen Studien. Das Zusammenführen aller experimentellen und klinischen Teildisziplinen zu einem gemeinsamen Forum macht die Jahrestagungen der DGK so attraktiv, dass sie Jahr für Jahr mehr Teilnehmer anlocken. Es werden mehr als 7000 Fachteilnehmer erwartet. Das vorliegende Schwerpunktheft beleuchtet Optionen für die Therapie ischämischer Herzerkrankungen und stellt kontroverse Aspekte besonders heraus.

Neue Therapiestrategien für die ischämische Herzerkrankung

Die 3 R „Reperfusion, Remodelling und Regeneration” bezeichnen zentrale Herausforderungen in der Therapie der ischämischen Herzerkrankung. Dazu könnte man noch ein viertes R zählen: Restenose. Ohne Zweifel ist das von Grüntzig vor drei Jahrzehnten eingeführte Verfahren der Gefäßaufdehnung mit Hilfe eines Ballonkatheters, der in das verschlossene Herzkranzgefäß vorgeschoben wird, eine der großen Pioniertaten der Herzmedizin. Die experimentelle Forschung hat gezeigt, dass es sehr aussichtsreiche biologische Möglichkeiten gibt, das Myokard nach erfolgreicher Revaskularisation zu protektionieren. Diese Optionen sind bisher noch nicht in klinische Therapieverfahren umgesetzt und werden deshalb auf diesem Kongress auf ihre Erfolgsaussichten hin durchleuchtet.

Reperfusion macht den Weg frei für die Erholung des Myokards vom ischämischen Insult, aber die Umstände der Reperfusion können auch den ischämischen Zellschaden erst irreversibel werden lassen (Reperfusionsschaden). Es gehört zu den besonders aufregenden Nachrichten der allerjüngsten Zeit, dass die erste Minute der Reperfusion ein noch ungenutztes Fenster therapeutischer Möglichkeiten darstellt. Nach Öffnung einer Koronarokklusion gilt ansonsten dem Offenhalten die besondere Aufmerksamkeit. Durch Antikoagulation wird versucht, einem erneuten thrombotischen Verschluss vorzubeugen, langfristig werden Maßnahmen gegen die Restenose, z. B. durch Einbringen von Stents, ergriffen. Weitere Fragen des Kongresses sind: Warum führt postischämisches myokardiales Remodelling zur Herzinsuffizienz? Erreicht die Stammzelltherapie des postischämischen Herzmuskels wirklich eine Regeneration untergegangenen Gewebes?

Forschung im ökonomischen Spannungsfeld

In der deutschen Herzmedizin hat die enge Kooperation zwischen klinischer Forschung und Grundlagenforschung eine lange und fruchtbare Tradition. Die großen Kliniken sind auch meist sehr aktiv in der experimentellen Forschung und haben einen regen Austausch mit den reinen Forschungsinstituten. Um diese Nähe von Klinik und Forschung werden wir von vielen unserer europäischen Nachbarn beneidet.

Es ist aber nicht selbstverständlich, dass diese Basis wissenschaftlichen Erfolges auch in Zukunft erhalten bleibt. Das hat mehrere Ursachen. Zum einen stecken die deutschen Universitätskliniken in einer ökonomischen Krise. Deren bisherige Organisationsform, anspruchsvollere medizinische Leistungen und schwindende Ressourcen passen nicht mehr zusammen. Hoher Druck auf die Personalkosten und damit auf die klinischen Arbeitsbedingungen von Ärzten und Pflegepersonal ist die Folge. Junge Ärzte, die sich sowohl in der Klinik als auch in der Wissenschaft qualifizieren wollen, werden durch die Umstände häufig gedrängt, das wissenschaftliche Interesse hintanzustellen oder gar den verheißungsvollen Weg über den Atlantik anzutreten. Zum anderen werden Ärzte und Nicht-Ärzte, die überwiegend oder ganz in der Forschung arbeiten, seit kurzem tarifrechtlich deutlich benachteiligt. Beides wirkt sich erkennbar und nachvollziehbar negativ auf die Nachwuchssituation in der kardiovaskulären Forschung aus. Die DGK nutzt ihren Kongress auch, um diese vitalen Fragen zu diskutieren. Das ist sehr zu begrüßen, denn die ökonomischen Fesseln des medizinischen Fortschritt sind als Thema dort gut aufgehoben, wo sich dieser Fortschritt ganz konkret besichtigen lässt.

Wohin geht die Reise?

Die Herzmedizin ist in den letzten Jahren ein Feld sehr innovativer Forschung gewesen. Viele Ergebnisse warten jetzt auf eine Umsetzung in neue klinische Therapiestrategien, wie die Beiträge zu diesem Schwerpunktheft exemplarisch zeigen. Diese Aussichten sind für die Kardiologie und ihre Patienten sehr erfreulich. Die eines Exportweltmeisters unwürdige angespannte ökonomische Situation gibt aber auch Anlass zur Sorge um die Zukunft der kliniknahen Forschung, die die Kardiologie mit anderen medizinischen Disziplinen teilt. Die international hervorragende Stellung, die die deutsche Herzmedizin seit Jahrzehnten einnimmt, kann nur erhalten werden, wenn auch Spitzenforschung möglich bleibt. Dafür zu kämpfen, lohnt sich.

Prof. Dr. Dr. Hans Michael Piper

Physiologisches Institut, Fachbereich Medizin der Justus-Liebig-Universität

Aulweg 129

35392 Gießen

Phone: 0641/99-47240

Email: Michael.Piper@physiologie.med.uni-giessen.de

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