Zahnmedizin up2date 2009; 3(1): 83-107
DOI: 10.1055/s-2008-1039188
Varia

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychosomatik in der Zahnmedizin

Anne Wolowski, Norbert Enkling, Gundula Körber, Inge Staehle
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
16. Februar 2009 (online)

Einleitung

Es zählt inzwischen in der Zahnmedizin zum Basiswissen, dass nicht jede Form körperlicher Beschwerden immer auch eine körperliche Ursache haben muss. Andererseits erwarten wir aber, gemäß unserer traditionellen Ausbildung, dass körperliche Defekte im Sinne einer Warnsignalfunktion Beschwerden verursachen müssen. Aber auch das ist nicht immer der Fall. Viele unserer Patienten stellen sich mit gravierenden Befunden vor, die sofort die Frage laut werden lassen, warum der Patient nicht schon bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt gekommen ist oder, anders formuliert, warum der Patient gerade jetzt kommt. Sind es besondere Lebensumstände, die ein früheres Erscheinen verhindert haben? Ist es vielleicht die Angst vor der Behandlungssituation? Sind es frühere Erfahrungen, Enttäuschungen oder gar die Angst vor einer „schlimmen Diagnose“? Bereits in dieser frühen Phase der Arzt-Patient-Beziehung sind es somit oft weniger somatische als vielmehr psychische Faktoren, die dafür sorgen, dass einerseits der Kontakt überhaupt zustande kommt und andererseits Erwartungen oder Befürchtungen die Beschwerdeschilderung und das Verhalten des Patienten in dieser Situation beeinflussen. Werden diese Aspekte nicht wahrgenommen, können Befunde übersehen bzw. Indikationen gestellt werden, die dem Gesamtkrankheitsbild nicht gerecht werden. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen (s. Infobox auf der folgenden Seite).

Fallbeispiele

Beispiel 1: Ein Patient sucht seinen langjährigen Hauszahnarzt für einen Kontrolltermin auf. Dieser sieht es als Routinemaßnahme an und erwartet, dass der Patient – wie immer – keine pathologischen Befunde aufweist, weil er seine Zähne sehr gut pflegt. Zähne und Parodontium werden überprüft, ein Röntgenbild zur Kontrolle angefertigt und festgestellt, dass alles in Ordnung ist. Drei Monate später stellt der Patient sich mit einer deutlichen Mundschleimhautveränderung im paratubären Bereich vor, die in der Folge als Plattenepithelkarzinom diagnostiziert wird. Der Patient berichtet, schon seit 4–5 Monaten eine verdächtige Stelle zu bemerken. Man stellt sich die Frage, ob 3 Monate früher bereits die Chance der Diagnostik bestand. Diese Frage muss eindeutig mit „ja“ beantwortet werden, denn es hätte dem Zahnarzt auffallen müssen, dass der Patient sich, entgegen langjähriger Gewohnheit, nicht in relativ exaktem Jahresrhythmus vorstellte, sondern 4 Monate früher. Die Frage des Zahnarztes nach dem ungewöhnlichen Termin hätte den Patienten veranlassen können zu berichten, dass ihm etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Unabhängig davon hätte die gezielte Frage, ob dem Patienten in letzter Zeit etwas Außergewöhnliches aufgefallen ist, die anamnestisch wichtige Information aufgedeckt und den Blick des Zahnarztes in diese sehr schlecht einsehbare Region gerichtet. So wurde der Patient beruhigt, weil er erwartete, dass der Zahnarzt – aus Sicht des Patienten der Experte – die verdächtige Stelle gesehen hat. Da diesbezüglich keine weiteren Maßnahmen veranlasst wurden, war er sich sicher, diese Veränderung sei harmlos.

Beispiel 2: Eine Patientin stellt sich vor und klagt exzessiv über Zahnschmerzen an einem Brückenpfeiler. Diese Endpfeilerbrücke zum Ersatz von 3 Zähnen war ihr 6 Wochen zuvor eingegliedert worden. Nun ist ihr Zahnarzt im Urlaub, und die Schmerzen der Patientin sind unerträglich und weit ausstrahlend. Im Röntgenbild kann kein pathologischer Befund festgestellt werden, die Vitalitätsprobe ist nicht eindeutig. Der Perkussionstest kann nur mit Mühe dem verdächtigen Zahn zugeordnet werden. Auf Drängen der Patientin wird der distale Pfeilerzahn unter Anästhesie trepaniert. Der klinische Befund nach Trepanation erklärt die Ursache der Beschwerden jedoch nicht in zufriedenstellendem Maße, was der Patientin aber nicht so deutlich mitgeteilt wird. Sie ist der Überzeugung, es habe eine zahnmedizinische Ursache gegeben, denn sonst hätte man ja nichts machen müssen. Erst nachdem die Patientin wenige Tage später ähnliche Beschwerden am mesialen Brückenpfeiler beklagt, wird sie nach der „Geschichte der Brücke“ gefragt. Dabei stellt sich heraus, dass der akut geklagte Zahnschmerz bereits bestand, bevor der 1. Zahn entfernt wurde, und sich gleich einem roten Faden durch alle Behandlungsversuche zog. Wäre diese Information im Rahmen der spezifischen Anamnese frühzeitig eruiert worden, hätten die uneindeutigen somatischen Befunde in diesem anderen Sinnzusammenhang nicht gleich das irreversible invasive Handeln zur Folge gehabt (Abb. [1]).

Abb. 1 Typische „Zahnersatzsammlung“ einer Patientin, die immer wieder über diffuse Beschwerden im Kiefer-/Gesichtsbereich klagte.

Einfluss psychosozialer Faktoren

Diese beiden Beispiele zeigen, dass psychosoziale Faktoren immer eine Rolle spielen und zur Erfassung der Gesamtpersönlichkeit des Patienten auch wahrgenommen werden müssen. Bezogen auf die Reaktionen und Beschwerden von Patienten spricht Adler [[1]] von einem „Interpretanten in der zentralen Verarbeitung“. Aus der Peripherie kommend trifft die „somatische Information“ auf „psychische Größen“ (= Interpretant), die sich aus Wünschen, Bedürfnissen und Erfahrungen des Betroffenen gebildet haben. Als Ergebnis des zentralen Verarbeitungsprozesses all dieser gesammelten Daten und Einflüsse geht wiederum ein Auftrag in die Peripherie. Da dieser also nicht nur aus rein somatischen Informationen gespeist wird, ist es verständlich, dass das Ergebnis auch nicht immer nur rein somatisch erklärbar ist. Für den auf der Basis des monokausalen Beschwerdeverursachungsprinzips ausgebildeten Zahnarzt bedeutet das, dass er zunächst einmal alles, was nicht in das traditionelle, somatisch orientierte Konzept passt, wahrnehmen muss. In keinem Fall sollte er versuchen, für jedes Verhalten, jede Beschwerde des Patienten eine somatische Erklärung zu konstruieren (Abb. [2]  a und b).

Abb. 2 a und b Traditionelles versus biopsychosoziales Beschwerdeverursachungsprinzip. a Entsprechend der traditionellen Ausbildung gehen Zahnärzte davon aus, dass periphere Befunde auch dort lokalisierte Beschwerden hervorrufen, im Sinne der für die Einforderung einer Behandlung notwendigen Warnsignalfunktion. b Abweichend von dem traditionellen monokausalen Beschwerdeverursachungsprinzip muss im Sinne des biopsychosozialen Verständnisses von Krankheit und Gesundheit berücksichtigt werden, dass einerseits trotz fehlender lokaler Befunde Beschwerden geklagt und andererseits trotz massiver Befunde Beschwerdefreiheit signalisiert werden kann. Merke: Die psychosomatische Medizin ist die Lehre von den körperlich-seelisch-sozialen Wechselwirkungen in der Entstehung, im Verlauf und in der Behandlung von menschlichen Krankheiten. Sie muss ihrem Wesen nach als eine personenzentrierte Medizin verstanden werden.

Biopsychosoziales Modell

In diesem Sinne stellte der amerikanische Internist George L. Engel 1977 [[2]] durch die Einführung des biopsychosozialen Modells wieder die „ganzheitliche Sichtweise“ von Körper und Seele in den Mittelpunkt ärztlichen Handelns. Diese war Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Einführung naturwissenschaftlicher Fächer in Vergessenheit geraten. Im Sinne dieses biopsychosozialen Krankheitsmodells sind somatische Befunde festzustellen und gegebenenfalls differenzialdiagnostisch abzuklären. Im ärztlichen Gespräch müssen psychosoziale Einflussfaktoren und Auffälligkeiten erkannt werden. Dies muss frühzeitig geschehen, ist immer Bestandteil der Diagnostik und setzt sich über die gesamte Dauer der Betreuung des Patienten fort (s. Infobox).

Typische Auffälligkeiten bei verstärkt psychischen Einflussfaktoren [3] Diskrepanz zwischen Beschwerdepräsentation und somatischem Befund Überschreitung anatomischer Grenzen Fehlen klinisch bekannter Verläufe, eher dumpfe Schmerzqualität affektive Symptomdarstellung, Merkzettel, Verstärkung durch Begleitpersonen Koryphäenkillerphänomen Non-Compliance herabgesetzte Entscheidungsfähigkeit herabgesetzte Fähigkeit und Bereitschaft zur Übernahme von Eigenverantwortlichkeit anklammerndes Interaktionsverhalten primäres Verherrlichen des „aktuellen“ Behandlers, Abwertung aller Vorbehandler Koinzidenz von lebensgeschichtlich bedeutendem Ereignis und Beginn der Beschwerden Vorliegen weiterer psychischer und psychosomatischer Erkrankungen aktuelles Vorliegen eines lebensgeschichtlich bedeutsamen Ereignisses Entstehen von Aggression und Ungeduld im Praxisteam

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Priv.-Doz. Dr. med. dent. Anne Wolowski

Universitätsklinikum Münster
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Abteilung für Prothetik und Werkstoffkunde

Waldeyerstr. 30

48149 Münster

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