physioscience 2008; 4(3): 141-143
DOI: 10.1055/s-2008-1027693
Veranstaltungsbericht

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

IFOMT 2008 – 9. Kongress der International Federation of Orthopaedic Manipulative Therapists

M. Trocha1
  • 1Fachhochschule Hildesheim, Hochschule für angewandte Wissenschaften und Kunst (HAWK)
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Publication Date:
15 August 2008 (online)

Vom 9.–13. Juni 2008 fand das 9. Mal der Kongress der International Federation of Orthopaedic Manipulative Therapists (IFOMT) statt. Gastgeber war in diesem Jahr der Niederländische Verband für Manuelle Therapie (Nederlandse Vereniging voor Manuele Therapie, NVMT).

Der Austragungsort Rotterdam bedeutete für uns Physio- und Manualtherapeuten aus Deutschland eine vergleichsweise kurze Anreise ([Abb. 1]). Immerhin mussten wir zum letzten IFOMT-Kongress vor 4 Jahren gleich bis zur Südhalbkugel nach Kapstadt reisen. Rotterdam zeigte sich von seiner besten Seite, und auch die niederländische Fußballmannschaft tat mit ihrem fulminanten Sieg über Italien am Abend des ersten Kongresstages ihr Übriges zur rundum fröhlichen Atmosphäre.

Abb. 1 Erasmus Brücke, ein Wahrzeichen von Rotterdam.

Das übergeordnete Motto des Kongresses lautete Connecting „Science” to Quality of Life. Obwohl es sich um eine ausgewiesene manualtherapeutische Konferenz handelte, waren die behandelten Themen gleichermaßen für alle Physiotherapeuten interessant. In den 5 Tagen präsentierten sich 37 Keynote-Redner zu verschiedenen Themen und weitere 100 wissenschaftliche Arbeiten. Zudem fanden täglich moderierte Poster-Sessions mit über 100 Postern statt. Gemäß dem Motto knüpften dabei viele explizit im Sinne der Internationalen Klassifikation von Funktion, Aktivität und Partizipation (ICF) die Verbindung der einzelnen Ebenen zur Lebensqualität. Dies wurde in den Hauptvorträgen am ersten und letzten Tag ganz besonders groß geschrieben.

Der 1. Tag widmete sich der Frage, wie Lebensqualität speziell in der Therapiesituation und der Forschung Berücksichtigung finden kann. Dazu lieferte Prof. Dr. Ruut Veenhoven zunächst eine Begriffsbestimmung zur Lebensqualität und zeigte deren verschiedene Facetten auf. Er beschrieb einen als Lebbarkeit (Livability) bezeichneten soziologischen Ansatz von Lebensqualität. Darin wird die Lebensqualität des Individuums im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Lebensqualität gesehen und ihr affektiver Charakter herausgestellt. Als nicht oder nur unzureichend messbare Größe wird auf das Verhältnis zwischen den Erwartungen der Gesellschaft und den Bedürfnissen des Individuums verwiesen. Prof. Dr. Dorly Deeg bestätigte dies durch die Präsentation ihrer Untersuchung zu Altern, Gesundheit und Lebensqualität. Mit qualitativen Interviews konnte sie zeigen, dass Menschen die Kriterien der Lebensqualität, wie sie z. B. in generischen Fragebogen wie dem SF-12 erhoben werden, situationsbedingt neu gewichten. Daher seien diese Instrumente für ältere und chronisch kranke Menschen ungeeignet.

Weitere Highlights an diesem Tag waren sicher Dr. Karim Khan und Dr. Jill Cook. Als ausgewiesene Experten in Bezug auf Tendopathien stellte zunächst Dr. Karim Khan äußerst plastisch den Prozess der Mechanotransduktion dar, bevor Dr. Jill Cook auf die Wirksamkeit spezifischer Übungsprogrammen einging. Beide betonten die Wichtigkeit des exzentrischen Trainings für die Therapie von Tendopathien.

Am 2. Tag (nach dem 3:0 der Niederlande gegen Italien) sorgten Dr. Lorimer Moseley, Dr. Deborah Falla und Prof. Dr. Paul Hodges als Hauptredner dafür, dass das vom Feiern geschwächte Auditorium munter blieb ([Abb. 2]). Die Vorträge verdeutlichten den Zusammenhang zwischen Defiziten in der motorischen Kontrolle der Wirbelsäule und der Präsenz von Beschwerden in diesen Abschnitten. Anschließend gab es in den thematisch gruppierten Parallel-Sessions interessante Beiträge zu Kopf- und Nackenschmerz, von denen insbesondere der hervorragende Auftritt von Willem De Hertogh zum Kopfschmerz zu erwähnen ist, sowie Beiträge zur Lumbalregion. Nach der Mittagspause konnte man sich im Vortrag von Dr. Anton de Wijer informieren, warum das Kauen und andere Funktionen des temporomandibulären Systems gestört sein können. Das Publikum zeigte großes Interesse am Thema, das zukünftig in der Manuellen Therapie sicher noch größere Bedeutung erfahren wird. Von Axel Schäfer und Kerstin Lüdtke folgten Beiträge deutscher Wissenschaftler. In 2 Präsentationen stellte Axel Schäfer sein Promotionsprojekt vor, in dem er die Anwendung, Relevanz und Reliabilität eines neuen Klassifikationssystems für Menschen mit Lumboischialgie aufzeigte. Kerstin Lüdtke referierte über eine am Hamburger Rückenzentrum am Michel zusammengestellte Testbatterie zur Beurteilung der Funktion von Menschen mit Rückenschmerz.

Abb. 2 Paul Hodges.

Der 3. Tag wurde nur zur Hälfte wissenschaftlich begangen. Der Vormittag stand ganz im Zeichen der Lehre und Ausbildung. Prominente Vertreter der Niederlande, Großbritanniens und Australiens legten die aktuellen Entwicklungen in der Ausbildung zum Manualtherapeuten in ihren jeweiligen Ländern vor. In Australien wurde z. B. der Weg zum Erreichen des Expertenstatus deutlich vereinfacht, sodass sich nun nach Jahren der alleinigen Vertretung dieser Gruppe durch Geoffrey Maitland und Bob Elvey doch immerhin eine 2-stellige Zahl Experten nennen darf.

Marco Testa aus Italien führte das Publikum in die Idee, die Entstehung und die Möglichkeiten der frei zugänglichen und kostenlosen Software physiohelp (www.physiohelp.net/en/) ein. Das Auditorium befand die Frage des Datenschutzes als kritisch, was laut Testa landesspezifisch geregelt werden müsse. Rob van Dolder berichtete von den ersten Erfahrungen im niederländischen Gesundheitssystem mit dem Direktzugang (Direct access) für Physiotherapeuten, die in vollem Umfang positiv ausfielen.

Die 2. Hälfte des Tages war dem Begleitprogramm vorbehalten. Das Angebot reichte von Abseilen (aus einer Höhe von 100 m vom Euromast Tower), über Radfahren (einer geführten Tour durch die Architektur Rotterdams) bis zum SPIDO-Bootsausflug (mit abendlichem Dinner an Bord), und das Wetter genügte immerhin für einen Sonnenbrand auf dem Nasenrücken.

Den 4. Kongresstag eröffnete Dr. Helen Slater mit der David Lamb Memorial Lecture, mit der sie eine exzellente Darstellung sensorischer und motorischer Effekte nach Schmerzstimulation am Arm mittels Injektion einer Salzlösung bei Menschen mit lateraler Epicondylalgie und gesunden Kontrollpersonen lieferte. Ein interessanter Aspekt, den sie hinsichtlich der deszendierenden Systeme zeigen konnte, war, dass die Schmerzempfindlichkeit auch im nicht infiltrierten Arm zugenommen hatte. Dr. Mark Jones ging im Anschluss auf die Schwierigkeiten, aber auch die Bedeutung der Überwindung des biomedizinischen Fokus und die Implementierung eines biopsychosozialen Anamnese- und Therapieprozesses in die klinische Praxis ein. In diesem Sinne plädierte er für einen narrativen Reasoning-Ansatz und forderte mehr Integration der Informationen aus der Anamnese in die Therapie. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Interpretation von Forschungsprojekten sollte den Rest des Vormittages ausmachen. Die Black Box im Forschungsprozess sei nicht zu öffnen und müsse sorgfältig gehandelt werden.

Neben vielen anderen Vorträgen fand am Nachmittag der 1. Teil einer Beitragsreihe speziell zur Thematik der A. vertebralis statt. Unbedingt erwähnenswert ist auch die Lesung von Ad Warmerdam, die sich mit dem arthrokinetischen Reflex beschäftigte. Dabei zeigte er, dass Gelenksdysfunktionen unmittelbar in den Verlust von Muskelkraft münden können. Da diese Hemmung im Gegensatz zur Situation bei einer Radikulopathie transient sei, könne dieser Effekt differenzialdiagnostisch genutzt werden. Seine Handlungsempfehlung lautete daher: Stretch what's tight and mobilize what‘s stiff prior to strenghtening what’s weak!

Mit dem Blick auf die Veränderung der Parameter von Lebensqualität in der älteren Bevölkerung schloss der 5. Tag thematisch ein wenig den Kreis zum 1. Kongresstag. Prof. Dr. Tony Mets diskutierte den Nutzen und die Limitierung des Einsatzes von Assessment-Instrumenten zur Erhebung der Funktion bei den Aktivitäten des täglichen Lebens der älteren Bevölkerung. Er empfahl, die notwendigen Informationen durch ein entsprechendes Interview zu suchen.

Prof. Dr. Ivan Bautmans aus Belgien referierte über die physiologischen Veränderungen der Skelettmuskulatur während des Alterns wie der erhöhten Ausdehnung der Muskelsehnen und der Sarkophenie, dem Umbau der Muskulatur mit Binde- und Fettgewebe. Eine Möglichkeit, mit Training therapeutisch speziell auf diese Veränderungen zu reagieren und der Sarkophenie entgegenzuwirken, sei ein Ausdauer- und Krafttraining im muskulären Leistungsbereich von 70 %. Die knöcherne Seite der altersbedingten Wirbelsäulenveränderungen und die daraus entstehenden Anpassungen in der Kinematik erläuterte Prof. Dr. Peter van Roy.

Natürlich darf auf so einem Kongress auch der offizielle Teil nicht fehlen. In Manualtherapeutenart wurde dies angemessen knapp gehalten. Das neue IFOMT-Präsidium mit der frisch gebackenen Präsidentin Annalie Basson und das IFOMT Standards Committee wurden vorgestellt. Außerdem wurde offiziell bekannt gegeben, dass die nächste IFOMT-Konferenz 2012 im kanadischen Québec stattfindet.

Von den anschließenden Rednern möchte ich Dr. Hugo Hoeksma hervorheben. Er widmete eine umfangreiche Arbeit der Frage, ob Manuelle Therapie bei Koxarthrose helfen kann und zeigte, dass gute Evidenz für den Nutzen Manueller Therapie bei den betroffenen Patienten vorliegt. In der anschließenden Diskussion kam aus dem Publikum der Hinweis, dass in Großbritannien aufgrund der Veröffentlichung von Dr. Hoeksma Manuelle Therapie in die Leitlinien zur Behandlung von osteoarthritischen Hüfterkrankungen aufgenommen wurde. Meines Erachtens stellt dies ein schönes Beispiel für den Sinn physiotherapeutischer Forschung und solider Literaturarbeit dar.

Abschließend bleibt festzustellen, dass der IFOMT-Kongress 2008 ein echtes Highlight im Kongresskalender der vergangenen Jahre war. Zusammen mit den Prä- und Postkonferenzkursen rund um den Kongress, der insgesamt äußerst lobenswerten Organisation und dem hochkarätigen Referentenkreis kann ich mich nur glücklich schätzen, dass ich den Kongress mit freundlicher Unterstützung meiner Hochschule besuchen durfte. Rotterdam war eine Reise wert, und ich freue mich schon, 2012 Québec kennenzulernen!

Marcus Trocha, PT

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