physioscience 2008; 4(1): 5-6
DOI: 10.1055/s-2008-1027163
Gasteditorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gasteditorial

E. O. Huber1
  • 1UniversitätsSpital Zürich, Schweizer Physiotherapie Verband, Sursee
Further Information

Publication History

Publication Date:
21 February 2008 (online)

Die vor allem durch die akutstationäre Versorgung kontinuierlich steigenden Gesundheitskosten haben die Politiker in vielen Ländern dazu bewogen, das System der Diagnosis Related Groups (DRG, diagnosebezogene Fallgruppen) als Vergütungssystem für die akutstationäre Versorgung einzuführen. Die Physiotherapie ist davon gleichermaßen wie alle anderen Leistungserbringer auch in den vor- und nachgelagerten Institutionen betroffen.

DRG bezeichnen ein ökonomisch-medizinisches System, das Patienten in Fallgruppen klassifiziert, die nach dem für die Behandlung erforderlichen ökonomischen Aufwand unterteilt und bewertet sind. Die Basis einer Fallpauschale bilden medizinische Diagnosen, chirurgische Interventionen und patientenspezifische Faktoren wie Alter und Geschlecht. Verschiedene Länder verwenden bereits DRG zur Finanzierung von Krankenhausbehandlungen.

Ursprünglich zur Messung der Leistung und Qualität entwickelt, wurde das System 1983 erstmalig zur Vergütung im Medicare-Programm der USA eingesetzt. Während die DRG in den meisten Ländern krankenhausbezogen zur Verteilung staatlicher oder versicherungsbezogener Budgets dienen, wurde in Deutschland das 2003 eingeführte DRG-System zu einem Fallpauschalensystem weiterentwickelt und seither zur Vergütung der einzelnen Krankenhausfälle verwendet. Ziele sind die Verbesserung der Transparenz der Leistungen, der Wirtschaftlichkeit der Krankenhäuser und der Qualität der Behandlung. In der bis Ende 2008 verlängerten sogenannten Konvergenzphase sollen die Vergütungen für festgelegte Behandlungsfälle nach und nach vereinheitlicht werden. Ab 2009 erhalten alle Krankenhäuser eines Bundeslandes von den Krankenkassen gleiche Pauschalpreise für bestimmte Behandlungen. In der Schweiz soll flächendeckend bis spätestens Ende 2011 das Vergütungssystem Swiss-DRG eingeführt werden, das bisherige Systeme ablöst.

Zu den positiven Auswirkungen der DRG gehören unter anderem verkürzte Verweildauer, mehr Transparenz in der Leistungserbringung und eine leistungsbezogene Abgeltung. Als negative Effekte werden oft eine übermäßige Reduktion der Verweildauer, eine Risikoselektion, eine Reduktion medizinischer Leistungen oder die Verschiebung von Leistungen in vor- und nachgelagerte Institutionen genannt [2]. Das Krankenhaus wird eine Senkung der Aufenthaltsdauer bei gleich bleibender Qualität anstreben; dies erfordert vermehrte Patienten- und Prozessorientierung der gesamten Klinikabläufe. Strukturelle Veränderungen haben zur Folge, dass sich auch die Physiotherapie entsprechend anpassen muss, sei es bei der Patientenbehandlung, in der interdisziplinären Zusammenarbeit oder bei ihren administrativen Aufgaben [3].

Die DRG basieren hauptsächlich auf der medizinischen Diagnose. Problematisch ist der Umgang mit multimorbiden Patienten, die nicht unter einer bestimmten abrechenbaren Einzelerkrankung leiden. Deshalb wurden die sogenannten Nebendiagnosen eingeführt, die durch Kombination mit der Hauptdiagnose eine finanzielle Berücksichtigung des Schweregrades der Krankheit ermöglichen sollen. Gerade die multimorbiden Patienten benötigen oft eine besonders intensive Physiotherapie mit frührehabilitativen Maßnahmen, was sich jedoch anhand der medizinischen Diagnose und Nebendiagnosen nicht zeigen lässt. Das Deutsche Sozialgesetzbuch schreibt vor, dass frührehabilitative Maßnahmen noch während der Akutbehandlung zur Anwendung kommen sollen, um eine Behinderung oder eine spätere Pflegebedürftigkeit zu verhindern. Dementsprechend können diese Interventionen abgerechnet werden. In der Schweiz ist mit der Einführung der Swiss-DRG jedoch nichts Derartiges geplant, was sich als Nachteil für die Physiotherapie erweisen könnte, da sie als integraler Bestandteil der stationären Behandlung gilt und deshalb nicht gesondert vergütet wird.

Die Funktionsfähigkeit bildet den Mittelpunkt des physiotherapeutischen Handelns, und mit der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; [5]) steht zwar eine Klassifikation zur Verfügung, die jedoch bei der Bildung der DRG nicht angewendet wird. Im Rahmen eines internationalen Forschungsprogramms und unter Mitwirkung von Physiotherapeuten wurden sogenannte ICF Core Sets für den Akutkontext entwickelt [1] [4]. ICF Core Sets stellen kurze und praktikable Listen von ICF-Kategorien dar, die die häufigsten Patientenprobleme und darauf bezogene Umweltfaktoren für bestimmte Gesundheitsprobleme beschreiben. Sie bilden die Patientenperspektive umfassend ab, die berufsspezifische Perspektive ist damit noch nicht definiert.

In dieser Ausgabe von physioscience stellen 3 Artikel die Resultate eines Forschungsprojektes vor, das in Zusammenarbeit mit der ICF Research Branch des WHO-Kooperationszentrums für die Familie der Internationalen Klassifikationen (DIMDI), Deutschland am Institut für Gesundheits- und Rehabilitationswissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München, dem UniversitätsSpital Zürich und dem Schweizer Physiotherapie Verband durchgeführt wurde.

Die 1. Arbeit (Gloor-Juzi et al. Operationalisierung von ICF-Kategorien für physiotherapeutische Interventionen im Akutkrankenhaus, S. 7) behandelt die Vorstudie, die für die Physiotherapie relevante Ausprägungsmerkmale von ICF-Kategorien so definierte, dass Physiotherapeuten im Akutkrankenhaus damit beurteilbare Patienteneigenschaften beschreiben können. Diese sogenannten operationalisierten ICF-Kategorien dienten als Erfassungsgrundlage zur Dokumentation der physiotherapeutischen Interventionsziele und Leistungen bei den in die Hauptstudie eingeschlossenen Patienten.

Die 2. Arbeit (Grill et al. Standardisierung der Ziele physiotherapeutischer Interventionen im Akutkrankenhaus mithilfe der ICF, S. 17) beschreibt die Häufigkeit jener Aspekte der Funktionsfähigkeit, die bei Patienten im Akutkrankenhaus physiotherapeutische Interventionsziele darstellen. Im Schnitt werden dafür nur wenige ICF-Kategorien benötigt. Diese selektierten ICF-Kategorien bilden eine praktikable Grundlage, um die für die Physiotherapie relevanten Patientenprobleme einfach und schnell erfassen zu können.

Die 3. Arbeit (Grill et al. Physiotherapeutischer Ressourcenaufwand im Akutkrankenhaus, S. 25) stellt Art und Umfang des physiotherapeutischen Aufwands im Akutkrankenhaus dar. Dabei zeigte sich, dass dieser im Akutkrankenhaus stark variiert und sich nur in geringem Umfang durch die medizinische Diagnose erklären lässt.

Die 3 Arbeiten bilden die Grundlage für das nächste Forschungsprojekt mit dem Ziel, die operationalisierten Interventionskategorien zu einem validen und reliablen Messinstrument weiterzuentwickeln.

Im Zuge der Einführung der Swiss-DRG in den Schweizer Akutkrankenhäusern wird angestrebt, die ICF-Klassifikation in die Leistungserfassung der Physiotherapie zu integrieren. Damit kommt sie der geforderten Transparenz in der Leistungserbringung nach, wozu die operationalisierten ICF-Kategorien - wie sie in dieser Ausgabe der physioscience vorgestellt und eingesetzt werden - einen Beitrag leisten können.

Literatur

  • 1 Grill E, Ewert T, Chatterji S. et al . ICF Core Sets development for the acute hospital and early post-acute rehabilitation facilities.  Disability and Rehabilitation. 2005;  27 361-366
  • 2 Indra P. Die Einführung der Swiss-DRGs in Schweizer Spitälern und deren Auswirkungen auf das schweizerische Gesundheitswesen. Zürich; Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspolitik (SGGP) 2004
  • 3 Lopopolo R. Hospital Restructuring and the Changing Nature of the Physical Therapist’s Role.  Phys Ther. 1999;  79 171-185
  • 4 Stucki G, Üstün T B, Melvin J. Applying the ICF for the acute hospital and early post-acute rehabilitation facilities.  Disabil Rehabil. 2005;  27 349-352
  • 5 World Health Organisation (WHO) .International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Geneva; WHO 2001

E. Omega Huber, PT, exMHSA

Rheumaklinik und Institut für Physikalische Medizin, UniversitätsSpital Zürich

Gloriastr. 25

8091 Zürich

Schweiz

Email: erika.huber@usz.ch