Dtsch Med Wochenschr 2008; 133(3): 66
DOI: 10.1055/s-2008-1017483
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Minutenzähler

Counting minutesM. Middeke1
  • 1Blutdruckinstitut München
Further Information

Publication History

Publication Date:
09 January 2008 (online)

Minutenzähler findet man in jedem Wartezimmer, ob in Klinik oder Praxis. Wer wartet schon gerne auf seinen Arzt? Die (wenigen) Minuten, die ein Arzt für Patientengespräche zur Verfügung hat bzw. zur Verfügung stellt, sind in letzter Zeit wieder zu einem wesentlichen Kritikpunkt an der Ärzteschaft geworden. Eine differenzierte Betrachtung ist notwendig:

Inhalt und Stil des Gesprächs sind wichtiger als die Dauer: Quantität (in Minuten) ist nicht Alles! Der Eindruck der Patienten ist oft trügerisch. Wieviel Zeit ist tatsächlich medizinisch notwendig? Wieviel Zeit ist ärztlich sinnvoll?

Das Arzt-Patienten-Gespräch ist der Kernbestandteil des Arztseins und Grundlage für jede Arzt-Patienten-Beziehung. Die Zeit, die hierfür zur Verfügung steht, ist sehr kostbar - ein Luxus, den sich Viele angeblich nicht mehr leisten können. Die derzeitige Honorierung des Anamnesegesprächs nach der „Einheitlichen Bewertung” steht im Kontrast zur Honorierung technischer Leistungen. Im GOÄ-Katalog ist eine Anamnese gar nicht vorgesehen. Hier gibt es nur Ziffern für Fremdanamnese und eine sehr gut honorierte homöopathische Anamnese von mindestens einer Stunde. Wie viel Zeit braucht man, um in einem Anamnesegespräch eine (Verdachts-)Diagnose zu stellen? Es sei erlaubt, auf eine ältere Untersuchung aus der Medizinischen Poliklinik der Universität München zurückzugreifen (Seidl et al. Forum des praktischen Arztes 1977; 16: Heft 7): Ein medizinisch erfahrener Arzt konnte mit durchschnittlich 6,6 Minuten pro Patient mit „Bauchsymptomatik” (n = 102) für Anamnese und körperliche Untersuchung in 47,1 % eine gesicherte Diagnose, in 32,4 % eine wahrscheinliche Diagnose, und in 11,8 % eine Verdachtsdiagnose erstellen.

In anderen Situationen braucht man sehr viel mehr Zeit für ein Gespräch, z. B. bei „heiklen” Themen wie Alkoholmissbrauch, Suchtverhalten oder einer Krebserkrankung. Die Aufnahmefähigkeit der Patienten ist begrenzt. Es ist viel wichtiger, einige gezielte Informationen in einem begrenzten Zeitrahmen zu übermitteln. An erster Stelle steht bei jedem Gespräch die Frage nach dem Befinden des Patienten, ihn zunächst ausreden zu lassen und seine Fragen zu beantworten. Hier entstehen nach wie vor die meisten Verletzungen, sei es in der Praxis oder bei der Visite in der Klinik.

Vor allem in der klassischen Form der Chefvisite bleibt der Patient oft auf der Strecke: Man spricht meist über und nicht mit ihm. Die Fragen sind überwiegend geschlossen und die Fachsprache der Ärzte verwirrt und beunruhigt. Ein guter Stationsarzt sollte seine Visite in Eigenregie mehr zum persönlichen Gespräch mit dem Patienten nutzen. Und das möglichst ohne Krankenakte. Das weitere diagnostische und therapeutische Vorgehen wird zuvor im Stationszimmer anhand der Befunde und der Informationen des Pflegepersonals diskutiert und festgelegt. Im Visitengespräch sind alle Teilnehmer der Visite auf neuestem Informationsstand: Der Visitenführer kann dem Patienten die geplanten ärztlichen Maßnahmen erläutern und Fragen beantworten. Diese Art der Visitenführung stellt allerdings hohe Anforderungen an die Disziplin und das Gedächtnis der Teilnehmer. Während für viele Ärzte die Visite nur eine von vielen Pflichten im Krankenhausalltag darstellt, ist sie für die meisten Patienten der „Höhepunkt” des Krankenhaustages. Das gilt es zu bedenken.

Wie sehr die gefühlte Konsultationszeit des Patienten trügen kann, zeigt die Originalarbeit aus Göttingen in diesem Heft (S. 67): Nur etwa ein Drittel der Patienten konnte die Dauer der Konsultation in etwa einschätzen. Die Arbeit zeigt auch, wie ungerechtfertigt und pauschal der Vorwurf an die Ärzteschaft ist, zu wenig mit ihren Patienten zu sprechen. Die Zeit für das Gespräch mit dem Patienten ist auf jeden Fall immer eine sinnvolle Investition für eine gute Arzt-Patienten-Beziehung.

Es ist leider wahr, dass die Kunst der Anamnese etwas abhanden gekommen ist. Daher muss die Ausbildung am Krankenbett verbessert werden. Ob die Forderung der neuen Approbationsordnung nach größerer Kompetenz und Kommunikation am Krankenbett durch Simulationen mit Schauspielerpatienten eingelöst werden kann, sei dahingestellt. Es gibt im Leben keine virtuellen Standardpatienten! Schauspieler können die Symptome nur simulieren und die Kommunikation künstlich gestalten.

Anamnese und (komplette) körperliche Untersuchung gelten heute leider häufig als antiquiert. Ohne diese beiden Grundsäulen ist allerdings auch eine moderne Medizin nicht möglich. Natürlich müssen im späteren Arztleben auch die Rahmenbedingungen in Klinik und Praxis stimmen. Visitenzeiten müssen eingehalten und ernst genommen werden. Patientengespräche müssen adäquat honoriert werden. Die Patienten sollten auch endlich erfahren, wie viel bzw. wie wenig die Minuten beim Arzt kosten. Insbesondere Beratungsgespräche zu präventiven Maßnahmen, Lebensstiländerung, nicht medikamentösen Maßnahmen, Medikamenteneinnahme, Compliance usw. müssen bei erhöhtem Zeitbedarf in Zukunft auch entsprechend honoriert werden.

Prof. Dr. med. Martin Middeke

Blutdruckinstitut München

Osterwaldstraße 69

80805 München

Email: info@blutdruckinstitut.de

URL: http://www.blutdruckinstitut.de

    >