Fortschr Neurol Psychiatr 1992; 60(9): 317-328
DOI: 10.1055/s-2007-999152
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Geschichte der deutschen Psychiatrie aus der Sicht der französischen Psychiater

The History of German Psychiatry as seen by the French PsychiatristsP.  Pichot
  • Paris
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Publication Date:
10 January 2008 (online)

Abstract

The reception of German psychiatry by the French psychiatrists has been influenced by material elements, such as the knowledge of the German language and / or the disposability of translations, but even more by factors of a general nature. The main reason has been the perception by the French psychiatrists of the progressive loss of influence of their own school, initially the leading one in the world, in favour of the German, a change which began with Griesinger and became evident at the time of Kraepelin. Around 1850, as demonstrated by many papers written by leading French psychiatrists, the interest both for the theoretical aspects of German psychiatry and for its care system was great. The judgements were extremely positive, although French authors tended to contrast the philosophical outlook of the Germans with their own concrete clinical approach. The war of 1870 -71 produced no radical change. But the growing influence of German psychiatry induced negative reactions whose main target was the work of Kraepelin, and especially his synthesis of Dementia praecox which was in direct opposition with the then dominant concepts of Magnan. The French opinion was divided between defenders and adversaries of Kraepelin's ideas. In the years immediately preceding World War I the attacks increased. The alleged contrast between the descriptive clinical (and according to a German author like Jaspers literary and superficial) French psychiatry and the scientific theoretical (and for the most aggressive French authors valueless) German one was a recurrent theme. The nationalistic tone reached on the French side its apex during the war years, some faint traces remaining several years after 1920. But on the whole the influence of the concepts proposed by German speaking authors, not only Kraepelin, but also Bleuler, Kretschmer, Freud among others was then on the increase. After 1945, contrasting with the years after World War I, no hostility against German psychiatry can be detected, as testified by the choice of the main speakers by the French organizers of the First World Congress of Psychiatry in 1950. The creation in 1984 of the Association of European Psychiatrists, an initiative taken jointly by the French and German psychiatrists, can be considered as the symbolic conclusion of the relations between the two national schools.

Zusammenfassung

Gewisse materielle Faktoren haben die Aufnahme der deutschen Psychiatrie durch die französischen Psychiater mit beeinflußt, z. B. die Beherrschung der deutschen Sprache und / oder die Verfügbarkeit entsprechender Übersetzungen. Noch größer war indessen der Einfluß allgemeiner Faktoren. Einer der wichtigsten Faktoren dieser Art war die Erkenntnis der französischen Psychiater, daß der Einfluß der französischen Schule der Psychiatrie, die ursprünglich weltweit führend gewesen war, immer mehr zugunsten der deutschen Schule zurückging; diese Veränderung hatte mit Griesinger begonnen und trat zu Kraepelins Zeit offen zutage. Um 1850 bekundeten die französischen Psychiater, wie aus zahlreichen Veröffentlichungen führender französischer Wissenschaftler hervorgeht, großes Interesse sowohl für die theoretischen Aspekte der deutschen Psychiatrie als auch für ihr Behandlungs- und Pflegesystem. Die Beurteilungen waren äußerst positiv, obwohl die französischen Psychiater dazu neigten, die philosophische Betrachtungsweise der deutschen Psychiater mit ihrem eigenen konkreten klinischen Ansatz zu kontrastieren. Der Krieg 1870 / 71 brachte keine radikalen Veränderungen. Der wachsende Einfluß der deutschen Psychiatrie rief negative Reaktionen hervor, deren Hauptangriffsziel das Werk von Kraepelin war, insbesondere seine Synthese der Dementia praecox, welche in direktem Gegensatz zu dem seinerzeit vorherrschenden Konzept Magnans stand. Die französische Auffassung war in Befürworter und Gegner der Kraepelinschen Vorstellungen gespalten. In den dem 1. Weltkrieg unmittelbar vorausgehenden Jahren verstärkten sich die Angriffe. Ein immer wiederkehrendes Thema war der angebliche Kontrast zwischen der beschreibenden klinischen (und laut einem deutschen Autor wie z. B. Jaspers am Wort klebenden und oberflächlichen) französischen Psychiatrie und der wissenschaftlichen theoretischen (und in den Augen der aggressivsten französischen Autoren wertlosen) deutschen Psychiatrie. Auf französischer Seite erreichte der nationalistische Tonfall während der Kriegsjahre seinen Höhepunkt, wobei schwache Spuren desselben noch mehrere Jahre nach 1920 sichtbar waren. Im ganzen gesehen war jedoch der Einfluß der von den deutschsprachigen Autoren vorgetragenen Konzepte damals im Wachsen begriffen, nicht nur derjenigen von Kraepelin, sondern auch der von Bleuler, Kretschmer, Freud u. a. Nach 1945 läßt sich im Gegensatz zu den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg keinerlei Feindseligkeit gegenüber der deutschen Psychiatrie mehr feststellen, wie die Wahl der wichtigsten Vortragenden des 1. Weltkongresses der Psychiatrie 1950 durch die französischen Veranstalter zeigt. Die 1984 aufgrund einer gemeinsamen Initiative deutscher und französischer Psychiater erfolgte Gründung der Vereinigung europäischer Psychiater kann als symbolischer Schlußpunkt der Beziehungen zwischen den beiden nationalen Schulen angesehen werden.

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