Klinische Neurophysiologie 2007; 38(4): 241-243
DOI: 10.1055/s-2007-993191
Vita

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100 Jahre H-Reflex - eine Erinnerung an den Physiologen Paul A. Hoffmann (1884-1962)

100 Years H Reflex - Reminiscences on the Physiologist Paul A. Hoffmann (1884-1962)C. H. Lücking
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Publication Date:
08 January 2008 (online)

Es ist nicht selbstverständlich, dass Neurophysiologen in aller Welt, die den H-Reflex untersuchen, auch wissen, dass es sich dabei um den Reflex handelt, den der Physiologe Paul A. Hoffmann 1910 erstmals im „Archiv für Anatomie und Physiologie” beschrieb. Damals arbeitete er mit Hans Piper am Physiologischen Institut in Berlin. Es war noch nicht die große Zeit der Elektrophysiologie. Die bereits 1848 erstmals von dem Berliner Physiologen Emil DuBois- Reymond (1818-1896) am menschlichen Muskel abgeleitete elektrische Aktivität war in Verges-senheit geraten. Die Physiologen befassten sich in der zweiten Hälfte des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts mit den Grundlagen des Sehens und der Hautsinne. Aber Hans Piper hatte begonnen, die Muskelaktivität während der willkürlichen Innervation zu untersuchen. Hoffmann selbst interessierte sich von Anfang an für die Reflexantworten im menschlichen Muskel nach mechanischer und elektrischer Nervenstimulation und begründete mit seinen Arbeiten die Reflexphysiologie mit elektrophysiologischer Methodik.

Paul Hoffmann wurde am 1.7.1984 in Dorpat, dem heutigen Tartu, in Estland geboren. Sein Vater F.A. Hoffmann war Professor der Inneren Medizin in Dorpat. 1886 erhielt dieser einen Ruf an die Universität Leipzig. Dort wuchs Paul Hoffmann auf und schloss seine Schulausbildung 19-jährig mit dem Abitur ab. Anschließend begann er das Studium der Medizin in Leipzig, wo er auch, nach einer Unterbrechung durch jeweils ein Semester in Marburg und Berlin, 1908, sein Staatsexamen ablegte. Seine Doktorarbeit mit dem Thema „Ein Beitrag zur Kenntnis der sogenannten Kittlinien der Herzmuskelfasern” verfasste er in der Pathologie unter Marchand und wurde dafür von der Medizinischen Fakultät mit einem besonderen Preis ausgezeichnet. 1909-1911 arbeitete er mit Hans Piper am Physiologischen Institut in Berlin, wo er in die Elektrophysiologie und Elektromyographie des menschlichen Muskels eingeführt wurde und die grundlegenden Arbeiten zu den Reflexen durchführte. Anschließend ging er an das Physiologische Institut der Universität Würzburg zu Max von Frey, der sich vorwiegend mit der Physiologie der Hautsinne befasste. Bereits 1912 wurde Paul Hoffmann mit der Arbeit über „Die Aktionsströme des mit Veratrin vergifteten Muskels” habilitiert und zum Privatdozenten, 1917 zum a. o. Professor für Physiologie ernannt. 1923 erhielt er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Physiologie an der Universität Freiburg, wenig später auch einen Ruf nach Basel. Paul Hoffmann entschied sich für Freiburg und wurde 1924 Nachfolger von Johannes von Kries, dem bekannten Sinnesphysiologen. Er kam als relativ junger Professor nach Freiburg, wo er auf eine Reihe bereits sehr bekannter Wissenschaftler traf, von denen einige später den Nobelpreis erhielten: H. Wieland 1927 für Chemie, H. Spemann 1935 für Medizin und Physiologie. Paul Hoffmann blieb an der Freiburger Medizinischen Fakultät bis zu seiner Emeritierung 1955. Auch anschließend arbeitete er noch im Institut, ehe er 1962 an einem Herzinfarkt verstarb. ([Abb. 1])

Abb. 1 Paul Hoffmann

Die fruchtbarste Zeit seines wissenschaftlichen Lebens waren die Jahre 1909-1922 in Berlin und Würzburg. 1910 veröffentlichte Paul Hoffmann die grundlegende Arbeit zu den Muskelreflexen als „Beiträge zur Kenntnis der menschlichen Reflexe mit besonderer Berücksichtigung der elektrischen Erscheinungen”. Darin beschrieb er die direkte und die reflektorische Antwort im M. triceps surae des Menschen nach elektrischer Reizung des N. tibialis in der Kniekehle ([Abb. 2]). Dabei konnte er im Elektromyogramm die Leitungszeit des Reflexes als Abstand des Muskelpotentials der ersten direkten von der nachfolgenden Reflexerregung genauestens in Millisekunden messen. Er unterstrich dabei auch die mit dem Sehnenreflex weitgehend übereinstimmende Form der Reflexantwort. 1922 postulierte er anhand der genauen Messung der Reflexzeiten die monosynaptische Natur des Reflexes und begründete darauf das Konzept des 2-Neuronen-Eigenreflexes. Im gleichen Jahr erschien seine Monographie „Untersuchungen über die Eigenreflexe (Sehnenreflexe) menschlicher Muskeln” im Springer-Verlag. Mit dem Postulat einer monosynaptischen Übertragung trug Hoffmann ganz wesentlich zur Aufklärung von Funktionsprinzipien im Zentralnervensystem bei. Das gilt auch für die Interpretation der postreflektorischen vorübergehenden Abnahme der tonischen Grundinnervation, die er als Hemmungsreflex des Rückenmarks deutete und die später unter dem Begriff „silent period” (Fulton und Denny-Brown) große Aufmerksamkeit erfuhr.

Abb. 2 Originalabbildung aus Arch Anat Physiol 1910; 223-246. „Auslösung des Achillessehnernreflexes vom N. tibialis aus. RE Reizeinbruch, A erste kleinere durch den Nervenreiz erzeugte Aktionsstromwelle, C zweite größere durch den Reflex Ähnlicheit beider Kontraktionswellen evident”.

In den ersten 15 Jahren seiner wissenschaftlichen Arbeit bis zur Übernahme des Lehrstuhls in Freiburg hatte Paul Hoffmann über 60 wissenschaftliche Veröffentlichen vorgelegt. Wenngleich die Analyse der menschlichen Muskelreflexe weiterhin (und Zeit seines Lebens) sein Hauptinteresse darstellte, widmete er sich im Tierversuch und an gesunden Probanden auch zahlreichen anderen Fragestellungen wie nach den Erregungsabläufen im Herzmuskel, dem Einfluss des Vestibularapparats auf die Innervation der Augenmuskeln oder den hemmenden und fördernden Neuronen der Muskeln in der Krebsschere. Bedeutsam für die klinische Neurologie wurde das „Hoffmann'sche Klopfzeichen”. Im ersten Weltkrieg beobachtete Hoffmann bei Soldaten mit Schussverletzungen eine auffällige mechanische Übererregbarkeit des verletzten Nerven. Im weiteren Verlauf konnte er das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Regeneration durch Beklopfen entlang des ursprünglichen Nervenverlaufs nachweisen. 1915 publizierte er in der „Medizinischen Klinik” die Arbeit „Weiteres über das Verhalten frisch regenerierter Nerven und über die Methode, den Erfolg einer Nervennaht frühzeitig zu beurteilen”. Zur selben Zeit und völlig unabhängig teilte der französische Neurochirurg Jules Tinel entsprechende Beobachtungen mit. Daraus resultieren die heutigen Bezeichnungen „Hoffmann-Tinel'sches Zeichen”, „signe de Tinel” oder „Tinel's sign”. In den folgenden fast 40 Jahren seiner Freiburger Zeit publizierte Paul Hoffmann weitere 60 Arbeiten, deren Schwerpunkt weiterhin die Grundlagen der Reflexerregbarkeit des Muskels und die allgemeinen Physiologie von Muskeln und Nerven betraf. Unter anderem beschrieb er als erster im EMG die Fibrillationspotenziale des denervierten Muskels und die Einstichsphänomene.

Hoffmann lag es nicht sehr, allgemeine Konzepte in der Physiologie zu formulieren oder seine Ergebnisse in ihrer generellen Bedeutung zu diskutieren. Das mag der Grund dafür sein, dass er bei den Wissenschaftlern lange nicht das Ansehen gewann, das ihm aufgrund seiner wissenschaftlichen Beiträge gebührt hätte.

Hoffmann's Konzept des monosynaptischen bzw. 2-Neuronen-Eigenrefexes wurde anfänglich weder im eigenen noch im Ausland akzeptiert. Der einflussreiche Breslauer Neurologe Otfried Foerster bestand darauf, dass die Muskeldehnungsreflexe supraspinal auf mehreren Ebenen verschaltet seien, und lehnte die Interpretation der „Periostreflexe” als „Eigenreflexe” ab; auch hielt er Hoffmann's Ableitungen mit Hautelektroden für zu ungenau. Während Foerster's Annahme für die tonischen Dehnungsreflexe und späte Reflexantworten gelten konnte, erschien sie aber für den phasischen Dehnungsreflex mit kurzer Latenzzeit keineswegs zutreffend. Daher sah sich Hoffmann entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung gezwungen, 1929 öffentlich im Handbuch der Physiologie vehement gegen Foerster Stellung zu beziehen. Im Ausland war es vor allem C.S. Sherrington in Oxford, der sich gegen Hoffmann's Konzept stellte und überhaupt elektrophysiologische Methoden für nicht geeignet hielt, auch Funktionen des zentralen Nervensystems zu untersuchen. Er verwendete noch bis nach 1920 nur mechanische Registrierungen der Reflexe. Obwohl Sherrington's Mitarbeiter J. Eccles und D. Denny-Brown von dem Konzept begeistert waren, wurde es in dem 1932 von der Oxforder Schule herausgegebenen Werk „Reflex activity of the spinal cord” nicht mit einem Wort erwähnt. Paul Hoffmann war sehr enttäuscht, weil er die Physiologie in England sehr schätzte und auch Sherrington bei einem Besuch 1913 persönlich kennen gelernt hatte. Offensichtlich hatte Sherrington nach dem ersten Weltkrieg alle Verbindungen zu Deutschland abgebrochen. Da konnte auch die ausdrückliche Unterstützung durch den bekannten Physiologen E.D. Adrian aus Cambridge nur ein geringer Trost sein, selbst wenn dieser zu der späteren allgemeinen Akzeptanz von Hoffmann's Auffassungen wesentlich beigetragen hat. Paul Hoffmann hat aufgrund dieser Erfahrungen in der folgenden Zeit zunächst auf Untersuchungen am Menschen und auf die Zusammenarbeit mit Neurologen weitgehend verzichtet und diesen Bereich eher seinen Mitarbeitern überlassen, die über Myasthenie, Myotonie oder paroxysmale Lähmungen arbeiteten, aber auch als erste perkutane Ableitungen von peripheren Nerven des Menschen durchführten (W. Eichler). Mit J. Sommer klärte er die Grundlage des Jendrassik'schen Handgriffs als periphere Reflexbahnung durch Anspannung der Muskelspindeln auf. Nach dem zweiten Weltkrieg griffen vor allem Forscher aus Frankreich (J. Paillard, Marseille) und Schweden (K.E. Hagbarth, Uppsala) das Konzept des Eigenreflexes wieder auf. Schließlich prägte J.W. Magladery aus Baltimore 1950 die Bezeichnung H-Reflex zu Ehren von Paul Hoffmann. In den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens fand Hoffmann zunehmend Anerkennung im eigenen Land wie auch im Ausland. Er erhielt eine Honorarprofessur der Universität von Santiago de Compostela in Spanien und die Ehrendoktorwürden der Universitäten Zürich und Berlin, außerdem die Erb-Medaille der Deutschen Neurologischen Gesellschaft und die Mitgliedschaft der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina.

Zu den bekanntesten Schülern von Paul Hoffmann aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg gehören H. Rein und M. Schneider, die 1936 das in Deutschland am meisten verbreitete Lehrbuch der menschlichen Physiologie schrieben. Die jüngeren Mitarbeiter wie W. Eichler, J. Sommer und G. Riotte fielen als Soldaten im Krieg. Aufgrund des durch den Krieg völlig zerstörten Instituts war die Arbeit in dem folgenden Jahrzehnt nur unter sehr erschwerten Bedingungen und nur mit einer kleinen Zahl von Mitarbeitern möglich, zu denen zeitweilig u. a. E. Dodt, J. Pichotka, E. Schenck und J.F. Tönnies gehörten. Trotzdem war es eine ergiebige Zeit, in der u. a. die perkutane Reizung der Reflexafferenzen in den Hinterwurzeln des Menschen durchgeführt und die Hemmungsphase von Fremdreflexen am Zungen-Kiefer-Reflex und am Beugereflex des Arms untersucht wurden.

In den letzten Jahren seines Lebens wurde Paul Hoffmann zunehmend nachdenklich über den möglichen Nachhall seiner wissenschaftlichen Arbeit. Er fürchtete, dass wenig oder fast nichts auf Dauer eine Anerkennung finden würde. Es hat sich aber gezeigt, dass fast alle seine Erkenntnisse weitgehend akzeptiert und fester Bestandteil der Neurophysiologie wurden. So wird er zurecht in die Reihe der großen Neurophysiologen eingereiht.

Korrespondenzadresse

Prof. em. Dr. Drs. h.c. Carl Hermann Lücking

Neurologische Unviersitätsklinik

Breisacherstr. 64

79106 Freiburg

Email: c.h.luecking@gmx.de