Psychiatr Prax 2008; 35(4): 160-162
DOI: 10.1055/s-2007-986308
Debatte: Pro & Kontra

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Verhaltenssüchte bilden eine eigene diagnostische Kategorie

Behavioural Addictions are a Separate Diagnostic EntityPro: Sabine  Grüsser-Sinopoli †, Jobst  Böning Kontra: Hans  Watzl, Fred  Rist
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Publication Date:
14 May 2008 (online)

Pro

Bei der Weiterentwicklung von Standards zur Operationalisierung psychischer Störungen und einhergehender Probleme der Klassifikation und differenziellen Diagnostik wird in jüngster Zeit wieder verstärkt die Parallelität zwischen stoffgebundenen und stoffungebundenen Suchterkrankungen diskutiert. Dabei werden unter den stoffungebundenen „Tätigkeitssüchten” (im Folgenden „Verhaltenssüchte” genannt) exzessive belohnungssuchende und autonom gewordene Verhaltensweisen (z. B. Glücksspiele, Internetnutzung) verstanden, bei denen die Betroffenen die diagnostischen Kriterien einer Abhängigkeitserkrankung erfüllen. Die auf unterschiedlichen Untersuchungs- und Funktionsebenen gewonnenen Forschungsergebnisse v. a. aus der Lerntheorie und Neurobiologie legen nahe, dass im Rahmen eines biopsychosozialen Modells zur Entstehung und Aufrechterhaltung süchtigen Verhaltens gleichermaßen stoffgebundene wie stoffungebundene Abhängigkeitserkrankungen in denselben zentralnervösen Mechanismen verankert sind [1].

Bislang fanden „Verhaltenssüchte” noch keinen Eingang als eigenständiges Störungsbild in die gängigen Klassifikationssysteme psychischer Störungen [2]. Derzeit kann eine „Verhaltenssucht” nur in Anlehnung an die Einordnung des „Pathologischen Spielens” als „Störung der Impulskontrolle, nicht andernorts klassifiziert” diagnostiziert werden. Diese Diagnose ist jedoch im Hinblick auf psychopathologisch-phänomenologische, neurobiologische, differenzialdiagnostische, präventive und therapeutische Implikationen völlig unzureichend.

Einige Autoren fassen pathologisches Glücksspiel als sog. „Zwangsspektrumsstörung” auf [3], wobei in diesem Erklärungsmodell aber zwischen initial ich-syntonem verstärkenden Belohnungsverhalten und finalem ich-dystonem „zwanghaften Sich-so-verhalten-Müssen” zu differenzieren wäre. Offenbar kann letzteres inzwischen „impulskontrollgestört-zwanghaftes” Verhalten durch Aktivierung derselben orbitofronto-striato-thalamischen Regelkreise in Gang gesetzt werden, die auch an der Entstehung von „primären” Zwangssymptomen beteiligt sind (vgl. in [1]).

Andere Autoren postulieren inzwischen wieder, dass das Erscheinungsbild der krankhaft exzessiv durchgeführten Verhaltensweisen mit den Merkmalen von Abhängigkeitserkrankungen vergleichbar ist und formulieren z. B. den Begriff der „Glücksspielsucht” als Prototyp einer Verhaltenssucht [4] [5] [6]. Als zentrale Bestimmungsmerkmale gelten dabei ein erlernter Kontrollverlust über das Verhalten (inkl. Toleranzentwicklung) und die Vernachlässigung anderer wichtiger Lebensbereiche sowie psychovegetative Entzugserscheinungen. So zeigt sich ein dringender Handlungsbedarf, um für bestimmte in der Praxis auftretende pathologische exzessive Verhaltensweisen eine Operationalisierung im Sinne der diagnostischen Kategorienbildung zu etablieren.

Diese Auseinandersetzung wird derzeit auch im Wissen um die kommende 11. Revision der „Internationalen Krankheitsklassifikation” (ICD-11) und der 5. Revision des „Diagnostic and Statistical Manuals” (DSM-V) geführt. Die dazu notwendigen wissenschaftlichen Vorarbeiten von Weltgesundheitsorganisation (WHO) und American Medical Association (AMA) haben bereits begonnen. Zwar erfolgte unlängst eine vorläufige Ablehnung einer eigenen Diagnosekategorie einer Form der Verhaltenssucht z. B. „Video game addiction” im DSM-V durch die AMA. Der wissenschaftliche Beirat unterstreicht in seinem Report zur Computerspielsucht (www.ama-assn.org) aber deutlich den Handlungsbedarf, merkt den Mangel an empirischen Studien an und schlägt diese Kategorie immerhin als Forschungsdiagnose vor. Die Revisionen der Klassifikationssysteme psychischer Störungen orientieren sich an einem studienbasierten Vorgehen im Sinne der „Evidence-Based Medicine”, womit sichergestellt werden soll, dass ein methodisch begründeter Erkenntnisgewinn (basierend auf wissenschaftlicher Methodik, kontrollierten klinischen Studien und reproduzierbaren Ergebnissen, vgl. [7]) in den Modifikationen dieser Systeme implementiert wird.

Nach den bisherigen Forschungsergebnissen zu den exzessiv durchgeführten Verhaltensweisen mit pathologischem Charakter [6] [8] zeigt sich, dass häufig die Kriterien der Substanzabhängigkeiten zur Operationalisierung der Symptome genutzt werden, um die Symptomkomplexe empirisch bzw. phänomenologisch trennscharf zu erfassen. Obwohl bei den derart zusammengefassten Störungsbildern dem Organismus keine psychotrop wirksamen Substanzen von außen zugeführt werden, treten viele Symptome mit nahezu vollständiger Übereinstimmung im Vergleich zu den stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen auf. Für die Aufrechterhaltung eines Verhaltens scheinen körpereigene biochemische Veränderungen und neuronale Konditionierungs- und Bahnungsprozesse, die durch die exzessiven belohnungssuchenden Verhaltensweisen ausgelöst werden, verantwortlich zu sein. Verschiedene Studienergebnisse zeigen ebenso, dass der pathologischen exzessiven Verhaltensausübung und der Substanzabhängigkeit vergleichbare neurobiologische Mechanismen zugrunde liegen, wie beispielsweise bei pathologischen Glücksspielern eine veränderte Aktivierung der Basalganglien und des frontalen und orbitofrontalen Kortex (z. B. [6]). Gleichfalls wies man bei Betroffenen von „Verhaltenssüchten” bereits analoge psychophysiologisch messbare Muster nach, wie sie bei Alkohol oder Cannabis bekannt sind (z. B. [9]). So scheint vergleichbar zur Substanzabhängigkeit die Funktion der Verhaltenssucht in einer (dysfunktional) erlernten Regulationsmöglichkeit des Gehirns zu liegen, die den Betroffenen ermöglicht, ihre „Biochemie der Gefühle” wieder ins Gleichgewicht zu bringen und dabei effektiv Stress zu reduzieren.

Oft wird das parallele Auftreten von Symptomen des pathologischen exzessiven Verhaltens in Verbindung mit anderen psychiatrischen Erkrankungen (z. B. Depression, Angststörungen) dahingehend kritisch gewertet, dass „Verhaltenssüchte” nur eine Begleiterscheinung von einer anderen als Primärdiagnose gestellten psychiatrischen Erkrankung seien [10]. Betrachtet man in diesem Zusammenhang die Verhältnisse bei den stoffgebundenen Störungen, so fällt auf, dass auch diese Patienten eine hohe Komorbiditätsrate vornehmlich aus dem Spektrum der neurotischen und Persönlichkeitsstörungen aufweisen. Die Diagnose der Substanzabhängigkeit führt hier jedoch im Regelfall dazu, dass das klinische Gesamtbild des Patienten durch die Vergabe mehrerer Diagnosen detailreicher beschrieben wird, was letztlich zur Identifizierung der Grundkonflikte und Optimierung des Heilerfolges beiträgt. In diesem Zusammenhang wird die Aufgabe der Diagnostik im Sinne einer differenzierten und verhaltensnahen Beschreibung des gesamten Störungsbildes - auch unter Einbeziehung der pathologisch exzessiven Verhaltensweisen - augenfällig. Die genaue Charakterisierung der Symptome und klare diagnostische Kriterien sollten in der Praxis das gegenwärtige Defizit bei der Diagnostik von „Verhaltenssüchten” beheben. Schließlich muss eine zukünftig auch ätiologieorientierte psychiatrische Diagnostik in ihrem Ergebnis zu einer möglichst detailreichen Beschreibung der pathogenen psychischen Anteile des Patienten führen.

Literatur

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  • 19 Petry J. Glücksspielsucht: Entstehung, Diagnostik und Behandlung. Göttingen; Hogrefe 2003
  • 20 Hand I. Negative und positive Verstärkung bei pathologischem Glücksspielen: Ihre mögliche Bedeutung für die Theorie und Therapie von Zwangsspektrumstörungen.  Verhaltenstherapie. 2004;  14 133-144
  • 21 Müller A, Mitchell J E, Mertens C, Müller U, Silbermann A, Burgard M, de Zwaan M. Comparison of treatment seeking compulsive buyers in Germany and the United States.  Behaviour Research and Therapy. 2007;  45 1629-1638

Prof. Dr. Jobst Böning

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Würzburg

Füchsleinstraße 15

97080 Würzburg

Email: boening@mail.uni-wuerzburg.de

Dr. Hans Watzl

Universität Konstanz, FB Psychologie

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