Psychiatr Prax 2008; 35(2): 84-90
DOI: 10.1055/s-2007-986239
Psychiatriegeschichte

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Vom versteckten Wahnsinn”

Ernst Platners Schrift „De amentia occulta” im Spannungsfeld von Medizin und Jurisprudenz im frühen 19. Jahrhundert„On Hidden Madness”„De Amentia Occulta” by Ernst Platner in Early 19th-Century Tension of Medicine and JurisprudenceKathleen  Haack1 , Holger  Steinberg2 , Sabine  C.  Herpertz3 , Ekkehardt  Kumbier1 , 3
  • 1AG Geschichte der Nervenheilkunde, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität Rostock
  • 2Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universität Leipzig
  • 3Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock
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Publication History

Publication Date:
06 November 2007 (online)

Zusammenfassung

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann die Psychiatrie an Einfluss bei der Begutachtung psychisch kranker Straftäter. Von besonderer Bedeutung waren die „zweifelhaften Gemütszustände”, darunter die von Ernst Platner 1797 als eigene Gattung des Wahnsinns bezeichnete amentia occulta. Anhand zweier Fallbeschreibungen (D. Schmolling, J. C. Woyzeck) soll verdeutlicht werden, in welchem Maß die Medizin und besonders die Psychiatrie für die juristische Praxis immer wichtiger wurden. Ernst Platners forensisches Werk und besonders seine Schrift „De amentia occulta” sind ein früher Meilenstein für diese Entwicklung.

Abstract

During the first half of the 19th century psychiatry became more and more influential in the evaluation of mentally ill offenders. „Doubtful” states of mind gained a particular importance for forensic practice. One of the mental disorders that was heavily disputed was amentia occulta (hidden madness) first described by the well-known Leipzig doctor and philosopher Ernst Platner. This publication (1797) preluded several other diagnoses to refer to non-obvious, „hidden mental derangements”. Regardless of the differences in arguments as developed by the experts in question (E. T. A. Hoffmann, Merzdorff, E. Horn, J. C. A. Clarus), two case studies from the early 19th century (D. Schmolling, J. C. Woyzeck) will exemplify the process of medicine, and psychiatry in particular, becoming more and more influential in everyday jurisdictional practice. The above-mentioned Ernst Platner, the author of manifold forensic studies and of „De amentia occulta”, was one of the pioneers and promoters of this process. By emphasising the importance of mental states being evaluated by medical professionals he contributed a great deal to the establishment of forensic psychiatry.

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1 Erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert lässt sich ein verstärktes öffentliches Interesse gegenüber deviantem Verhalten feststellen. Dementsprechend kam es neben einer künstlerischen, vor allem literarischen Auseinandersetzung verstärkt zu einer wissenschaftlichen Erörterung einer solchen Problematik. Fallstudien durchzogen die kriminologische, psychologische, juristische und medizinische Literatur.

2 Über den Stadtphysikus Merzdorff fanden sich bisher keine näheren Angaben.

3 Eine detaillierte Herausarbeitung der kleinen, aber doch vorhandenen Divergenzen soll nicht Thema dieser Arbeit sein und bleibt einer künftigen Studie vorbehalten.

4 Dieses Zitat zeigt noch einmal deutlich, dass sich die Kritik vor allem auf das Merkmal des gänzlich Versteckten, nicht Erkennbaren des Wahnsinns bezog, denn im Gegensatz zur amentia occulta erkannte Heinroth die von Pinel beschriebene manie sans déliere an. Er bezeichnete sie sogar als reine Tollheit (mania simplex) mit dem Charakter der „Unfreyheit mit wildem Zerstörungstriebe. Der Kranke ist sich seiner bewußt, handelt nicht aus verkehrten Begriffen, oder aus Leidenschaftlichkeit des Gemüths …, sondern aus einem blinden Triebe zum Zerstören, den er nicht bewältigen kann. Pinel hat das Verdienst, diese reine Form, als solche, zuerst aufgestellt zu haben …” ([18], S. 316).

5 Hoffmann hatte, nachdem er mehrere Jahre versucht hatte, seinen Lebensunterhalt als Kapellmeister, Komponist und Schriftsteller zu verdienen, 1814 eine Stelle als Hilfsarbeiter im Kriminalsenat des Kammergerichts Berlin angenommen. Bis zu seinem Tod 1822 arbeitete er dort, ab 1816 als Vorsitzender Rat, ab 1821 als Mitglied des Oberappellationssenats. Seine juristische Tätigkeit war sehr anerkannt, er nahm im Kriminalsenat, so der Jahresbericht von 1817, „würdig den ersten Platz ein” (zit. nach [19]). Zu Hoffmanns juristischer Arbeit und seinem medizinischen Wissen vgl. [2] [19] [20]. Das juristische Gutachten über Daniel Schmolling geht zu etwa drei Viertel auf Hoffmann zurück.

6 Die Erkenntnisse der Neuro- und Kognitionswissenschaften haben in den letzten Jahren zu erheblichen Bedenken gegenüber der Willensfreiheit geführt. So haben vor allem Prinz, Markowitsch, Singer und Roth darauf verwiesen, dass tradierte Vorstellungen vom freien Willen mit den empirischen Wissenschaften nicht mehr vereinbar seien [22] [23] [24] [25]. Die Konsequenzen vor allem für die strafrechtliche Praxis wären enorm, denn ohne Anerkennung des freien Willens und damit der Handlungsfreiheit gäbe es quasi keine Legitimation für das in der Praxis angewendete Schuldprinzip. Vgl. zur aktuellen Diskussion von Schuld und freiem Willen [26] [27] [28] [29].

7 Dem Kriminalsenat und Oberappellationssenat, die für den Fall Schmolling zuständigen Behörden am Berliner Kammergericht, waren das Justizministerium und die Krone übergeordnet. Bei schweren Verbrechen u. a. Tötungsdelikten schrieb §§ 508 der Preußischen Criminalordnung die Bestätigung durch das Justizministerium vor. Bei Todesstrafen bestimmte § 530 der Preußischen Criminalordnung die zusätzliche Bestätigung durch den König. Dass sowohl der König als auch das Justizministerium eher gewillt waren, dem Urteil der Ärzte nachzukommen, wirft ein interessantes Schlaglicht auf den um diese Zeit schwelenden Kompetenzstreit zwischen Juristen und Medizinern (vgl. [31]).

8 Der Versuch, derartige Krankheitsbeschreibungen heutigen psychischen Erkrankungen zuzuordnen oder damalige Klassifikationsversuche mit modernen nosologischen Systemen (ICD-10 oder DSM-IV) zu vergleichen, bereitet wegen der begrifflichen (psychopathologischen) Unschärfen erhebliche Schwierigkeiten. Einzelne Überreste dieser eher unspezifischen psychischen Phänomene oder Syndrome finden sich u. a. noch als „Störungen der Impulskontrolle” in Gestalt des Pathologischen Spielens, Stehlens oder Brandstiftens (Kleptomanie, Pyromanie). Die zu dieser scheinbar heterogenen Gruppe gehörigen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten lassen sich andernorts nicht befriedigend einordnen und ob sich die hier aufgeführten Syndrome überhaupt als eigene, voneinander abgrenzbare Krankheitsbilder einordnen lassen, ist fraglich. Darin zeigt sich auch heute noch die Problematik der Klassifizierung in der Psychiatrie. Gemeinsam ist dieser Störungsgruppe allein das Auftreten von unkontrollierbaren Handlungsimpulsen ohne vernünftige Motivation, denen die Betroffenen nicht widerstehen können und die nach Vollzug meist zum Schaden für sich und andere führt. Dabei kann es gleichzeitig zu einer zunehmenden Anspannung und Erregung vor der Handlung und Erleichterung, Bestätigung oder sogar Lust bei der Handlung kommen. Zum Problem der retrospektiven Diagnose historischer Krankheitsschilderungen vgl. [38].

Dr. med. Ekkehardt Kumbier

Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Gehlsheimer Straße 20

18147 Rostock

Email: ekkehardt.kumbier@medizin.uni-rostock.de