Psychiatr Prax 2007; 34(5): 255-257
DOI: 10.1055/s-2007-984998
Serie · Szene · Media Screen
Serie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

CUtLASS 1 - zunehmende Ernüchterung bezüglich Neuroleptika der 2. Generation

Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
03. Juli 2007 (online)

 

Zahllose Wirksamkeitsstudien lieferten in den letzten 10 Jahren Nachweise nicht nur für die bessere Verträglichkeit der "atypischen" Neuroleptika der zweiten Generation, sondern auch für ihre bessere Wirksamkeit bei schizophrenen Psychosen und anderen Erkrankungen sowohl in der Akutbehandlung als auch in der Rückfallprophylaxe. Eine mittlerweile unübersehbare Zahl von Übersichtsarbeiten und Monografien, Symposien, Kongressbeiträgen und Fortbildungsveranstaltungen waren (und sind) diesem Thema gewidmet. Zahlreiche Hypothesen wurden aufgestellt, um die überlegene oder zumindest hinsichtlich des Nebenwirkungsprofils besonders günstige Wirkungsweise der neueren Substanzen darzustellen - bemerkenswerterweise für nahezu jede Substanz eine eigene Hypothese, die dann auch in der Vermarktungsargumentation angeführt wird: Besonders vielfältige Rezeptorwirkung (Clozapin), besonders selektive Rezeptorwirkung (Amisulprid), starke Bindung an serotonerge 5-HAT2A-Rezeptoren (Risperidon, Olanzapin, Ziprasidon), spezifische Bindung an D2-Rezeptoren des limbischen Systems (Amisulprid), lose Rezeptorbindung (Clozapin, Quetiapin), gemeinsame Blockade von D1- und D2- oder D3-Rezeptoren (Clozapin), Affinität zu muskarinischen Rezeptoren (Clozapin, Olanzapin) und schließlich partielle dopaminagonistische Wirkung (Aripiprazol). Einige Metaanalysen vermochten die bessere Wirksamkeit der neuen Substanzen in der Akutbehandlung insgesamt nicht zu belegen [1], [2]; eine weitere, die sich auf die bis dahin umfassendsten Datenauswertungen stützen konnte [3], konnte aber endlich auch diesen Nachweis erbringen. Auch bezüglich der Rückfallprophylaxe zeigten sich günstigere Ergebnisse mit geringeren Rehospitalisierungsraten, die auf ein günstigeres Nebenwirkungsprofil und bessere Adherence zurückgeführt wurden [4]. Kliniker und Vertreter von Verbänden machten in vielen Ländern die Frage der Versorgungsqualität psychisch Kranker an der Verordnungsfähigkeit von - teuren - Neuroleptika der 2. Generation fest. Die 2006 publizierte DGPPN-Behandlungsleitlinie Schizophrenie [5] empfiehlt, ähnlich wie andere internationale Leitlinien, mit dem höchsten Empfehlungsgrad A, atypische Antipsychotika als Mittel der ersten Wahl zu verwenden, falls nicht der Patient selbst konventionelle Antipsychotika präferiere oder darauf bereits ohne relevante Nebenwirkungen remittiert sei.

Auf diesen scheinbar von einem breiten Konsens getragenen medizinischen Fortschritt fallen nun ernste Schatten. Die Ende 2006 in den Archives of General Psychiatry publizierte britische Studie "Cost utility of the latest antipsychotic drugs in schizophrenia study (CUtLASS 1)" [6] ist eine von nunmehr drei Studien, die Antipsychotika der ersten und zweiten Generation über einen längeren Zeitraum bei einer relativ großen Fallzahl unter naturalistischen Bedingungen verglichen. Die erste derartige Studie wurde von Rosenheck et al. zwischen 1998 und 2000 an 17 Kliniken des US Departements of Veterans Affairs durchgeführt und 2003 in JAMA publiziert [7]. Insgesamt 309 Patienten erhielten nach Randomisierung entweder flexibel Olanzapin zwischen 5 und 20mg oder Haloperidol zwischen 5 und 20mg. In den vorher definierten Haupt-Outcome-Maßen Studienabbruch, positive, negative und Gesamtsymptome der Schizophrenie, Lebensqualität und extrapyramidale Symptome fanden sich entgegen den Erwartungen keine Unterschiede. Diese Studie erregte noch vergleichsweise wenig Aufsehen, liegt in ihren Ergebnissen aber im Nachhinein weitgehend auf einer Linie mit der 2005 im New England Journal of Medicine von Lieberman et al. publizierten CATIE-Studie [8], die wohl mehr Diskussionen und Kommentierungen zur Folge hatte als irgendeine Antipsychotikastudie zuvor. Die Studie umfasste 1 493 Patienten an nicht weniger als 57 US-amerikanischen Zentren, die randomisiert Olanzapin, Quetiapin, Risperidon, Ziprasidon oder als Antipsychotikum der ersten Generation Perphenazin erhielten. Innerhalb von 18 Monaten hatten drei Viertel aller Patienten ihre Medikamente abgesetzt, wobei sich lediglich leichte Vorteile für Olanzapin zeigten. Diese Substanz wurde allerdings häufiger wegen Gewichtszunahme abgesetzt. Insgesamt konnte kein wesentlicher Vorteil der neueren Substanzen gegenüber Perphenazin gezeigt werden. Die Studie war vom National Institute of Mental Health der USA finanziert worden. Die Methodik wurde in der deutschen Fachpresse massiver Kritik unterzogen, insbesondere, weil Patienten mit einer Vorgeschichte von extrapyramidalen Symptomen von vornherein aus der Perphenazin-Gruppe ausgeschlossen worden waren. Nicht erwähnt wird in den kritischen Kommentaren allerdings, dass sehr viel Sorgfalt auf die Entwicklung des Studiendesigns verwandt worden war. Wegen des ungewöhnlich großen Umfangs der Studie war das Studiendesign bereits zuvor in hochrangigen Zeitschriften publiziert und kommentiert worden, das Studienprotokoll wurde zur Kommentierung veröffentlicht und ein Komitee von wissenschaftlichen Experten, Experten des Gesundheitssystems und Patientenvertretern hatte unter Federführung des NIMH im Vorfeld umfassend Gelegenheit, Einfluss auf die Studienplanung zu nehmen.

Nachdem die zahllosen Stellungnahmen zu CATIE publiziert sind (fast durchweg methodenkritisch und mit dem Tenor, die Überlegenheit der Neuroleptika der zweiten Generation sei damit nicht in Frage zu stellen), erschien nun CUtLASS 1. Wie CATIE wurde auch diese Studie nicht von der Industrie sondern von einem öffentlichen Gesundheitswesen finanziert, dem britischen Gesundheitsministerium. In diese multizentrische Studie konnten 227 Patienten, die von 73 verschiedenen Psychiatern behandelt wurden, eingeschlossen werden. Es handelte sich um eine Studie unter klinischen Routinebedingungen, d.h. mit weiten Einschlusskriterien und einer Nachbeobachtung über ein Jahr. Eingeschlossen wurden Patienten, bei denen der behandelnde Arzt zuvor eine Entscheidung zur Medikamentenumstellung getroffen hatte. Nach Zufallsprinzip wurde entweder zur Gruppe der Antipsychotika der 1. oder 2.Generation zugeteilt; Medikamentenwahl und Dosierung innerhalb dieser Gruppen erfolgte nach freier ärztlicher Entscheidung unter den Bedingungen der Routineversorgung. Die Rater, welche den Behandlungserfolg untersuchten, waren bezüglich der Gruppenzuteilung verblindet. Als Neuroleptikum der ersten Generation wurde, wohl den britischen Verordnungsgewohnheiten folgend, am häufigsten Sulpirid eingesetzt, bei den Neuroleptika der zweiten Generation Olanzapin, gefolgt von Quetiapin, Risperidon und Amisulprid. Als Haupt-Outcome-Maß wurde die Lebensqualität (gemessen mit der Quality of Life-Scale) festgelegt, als Nebenmaße PANSS Positiv-, Negativ- und Allgemeinscore, Calgary Depression Scale, Global Assessment of Functioning (GAF) sowie weitere Skalen bezüglich extrapyramidaler Nebenwirkungen, Medikamentenadherence und Einstellung gegenüber Medikamenten. Immerhin 81% der Ausgangspopulation (eine ungewöhnlich hohe Rate) konnte nach einem Jahr noch nachuntersucht werden. Die Ergebnisse entsprachen nicht den von den Autoren vorformulierten Erwartungen, und sie betonen wiederholt ihr Erstaunen darüber: Bei der Lebensqualität ergab sich ein nicht signifikanter Unterschied zugunsten der Substanzen der 1. Generation. Ebenfalls keine Unterschiede, aber teilweise wiederum Tendenzen zugunsten der älteren Substanzen, gab es in der Psychopathologie (Positiv-, Negativ- und Allgemeinskala der PANSS), in den Skalen für Depression, globales Funktionsniveau, Compliance, extrapyramidalen Nebenwirkungen und in der subjektiven Bewertung der Patienten. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die These der Überlegenheit der neueren Neuroleptika, gegenüber den älteren (jeweils als Gruppe) klar zurückzuweisen sei. Eine Bewertung der Einzelsubstanzen war aufgrund der Fallzahlen nicht möglich.

Wie sind diese widersprüchlichen Ergebnisse zwischen den Wirksamkeitsstudien einerseits und den drei aufgeführten "Effectiveness"-Studien andererseits zu erklären? Zu dieser Frage wurden bereits verschiedene Kommentare veröffentlicht, u.a. von Jeffrey Lieberman, dem Erstautor der CATIE-Studie [9]. Lieberman betont, dass der Vergleich mit "klassischen" Neuroleptika mit dem Schwerpunkt Sulpirid als methodisch "fair" anzusehen sei und dass die statistische Power der CUtLASS-Studie ausreichend war. Neben der Tatsache, dass Metaanalysen schon früher mehrheitlich keine Überlegenheit der neueren Neuroleptika gefunden hätte, nennt er im Wesentlichen zwei Gründe für die Diskrepanz der Ergebnisse der neueren großen Studien zu der bisherigen Literatur über "Atypika": Zum einen den traditionellen Unterschied zwischen klinischen Studien, die vom Hersteller finanziert werden und meist nur sechs Wochen dauern ("Efficacy") und naturalistischen Studien unter realistischen Versorgungsbedingungen ("Effectiveness"), die eine längere Untersuchungsdauer vorweisen können, zum anderen schlichtweg den Grund, dass "the claims of superiority for the SGAs were greatly exaggerated". In der Tat, dafür spricht bei der kritischen Bewertung der klinischen Fakten viel. Das Problem des publication bias wurde in den letzten Jahren vielfach aufgedeckt, gerade auch bei den atypischen Neuroleptika [10] - publizierte Studien pflegen selten für den Sponsor ungünstige Resultate zu enthalten.

In der Praxis sollte jetzt wohl eine gewisse Ernüchterung angesagt sein. Die Empfehlungen der Schizophrenie-Leitlinien bezüglich der Substanzwahl dürften auf Grund von CATIE und CUtLASS 1 so nicht mehr zu halten sein. Desillusionierung bezüglich des medizinischen Fortschritts haben wir freilich als Psychiater nicht exquisit und nicht nur in der Psychosenbehandlung. Die bedeutendsten medizinischen Erkenntnisse der vergangenen Jahre scheinen in den überzeugenden Nachweisen zu bestehen, welche Therapien nicht helfen bzw. schädlich sind - von Antiarrhythmika über die postmenopausale Hormonersatztherapie bis hin zu Vitaminen. Wurden wir - Kliniker, die die Medikamente verordnen - im Übrigen getäuscht? Diese Frage kann man sich stellen. Die von Lieberman benannte starke Übertreibung ist sicher wesentlich der Industrie anzulasten. Andererseits, ist es nicht scheinheilig, sich zu empören, dass Industriekonzerne ihre Entwicklungskosten amortisieren und ihre Produkte verkaufen möchten? Ohne dieses Bestreben wären sie nicht existent und warum sollten sie sich dabei von der Autoindustrie unterscheiden? Anders als andere Industrien benutzt die Pharmaindustrie aber als Mediatoren scheinbar neutrale Experten - mehr oder weniger renommierte Ärzte und Forscher -, denen die genannten zahlreichen Übersichtarbeiten, Kommentare, Symposien, Anwendungsbeobachtungen usw. Zubrot und Karrierebaustein sind. Sollten sie auch nur subtiler Manipulation anheim fallen, beschädigen sie nicht weniger als das gesamte Konstrukt der evidenzbasierten Medizin. Es bleibt zu hoffen, dass sie sich dieser Verantwortung bewusst sind oder werden.

Literatur

  • 01 Geddes J . Freemantle N . Harrison P . Bebbington P . Atypical antipsychotics in the treatment of schizophrenia: systematic overview and meta-regression analysis.  BMJ. 2000;  321 1371-1376
  • 02 Bagnall AM . Jones L . Ginnelly L . Lewis R . Glanville J . Gilbody S . Davies L . Torgerson D . Kleijnen A . A systematic review of atypical antipsychotic drugs in schizophrenia.  Health Technol Assess. 2003;  7 1-193
  • 03 Davis JM . Chen N . Glick ID . A meta-analysis of the efficacy of second-generation antipsychotics.  Arch Gen Psychiatry. 2003;  60 553-564
  • 04 Csernansky JG . Mahmoud RM . Brenner R . A comparison of risperidone and haloperidol for the prevention of relapse in patients with schizophrenia.  New Engl J Med. 2002;  346 16-22
  • 05 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (Hrsg). Behandlungsleitlinie Schizophrenie. Darmstadt: Steinkopff, 2006. 
  • 06 Jones PB . Barnes TRE . Davies L . Dunn G . Lloyd H . Hayhurst KP . Murray R . Mrakwick A . Lewis SW . Randomized controlled trial of the effect on quality of life of second- vs first-generation antipsychotic drugs in schizophrenia. Cost utility of the latest antipsychotic drugs in schizophrenia study (CUtLASS 1).  Arch Gen Psychiatry. 2006;  63 1079-1087
  • 07 Rosenheck R . Perlick D . Bingham S . et al . Effectiveness and cost of olanzapine and haloperidol in the treatment of schizophrenia. A randomized controlled trial.  JAMA. 2003;  290 2693-2702
  • 08 Lieberman JA . Stroup S . McEvoy J . et al . Clinical Antipsychotic Trials of Intervention Effectiveness (CATIE) Investigators. Effectiveness of antipsychotic drugs in patients with chronic schizophrenia.  N Engl J Med. 2005;  353 1209-1223
  • 09 Lieberman JA . Comparative effectiveness of antipsychotic drugs.  Arch Gen Psychiatry. 2006;  63 1069-1072
  • 10 Heres S . Davis J . Maino K . Jetzinger E . Kissling W . Leucht S . Why olanzapine beats risperidone, risperidone beats quetiapine, and quetiapine beats olanzapine: an exploratory analysis of head-to-head comparison studies of second-generation antipsychotics.  Am J Psychiatry. 2006;  163 185-194

Prof. Dr. Tilman Steinert

Zentrum für Psychiatrie, Die Weissenau

Weingartshoferstr. 2

88214 Ravensburg

eMail: tilman.steinert@zfp-weissenau.de