Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211 - P309
DOI: 10.1055/s-2007-983279

Das Tübinger Therapiekonzept zur Behandlung von Neugeborenen und Säuglingen mit Pierre-Robin-Sequenz: Kognitive Entwicklung und Selbstkonzept im Kontrollgruppenvergleich

M Jotzo 1, R Goelz 1, M Bacher 2, F Drescher 3, W Buchenau 1, C Poets 1
  • 1Neonatologie, Eberhard-Karls-Universität Universitätsklinik für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Tübingen
  • 2Poliklinik für Kieferorthopädie, Universitätsklinikum Tübingen, Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Tübingen
  • 3Eberhardt Karls Universität Tübingen, Fakultät für Informations- und Kognitionswissenschaften, Psychologisches Institut

Hintergrund: Die Pierre-Robin-Sequenz (PRS) mit der Trias kleiner Unterkiefer, in den Rachen verlagerter Zunge und Gaumenspalte führt u.a. zum Zurückfallen der Zunge im Schlaf mit teils oder völlig verschlossenen Atemwegen. Bisherige Behandlungsansätze (z.B. Drahtextension, Tracheotomie) sind unbefriedigend. Ein von uns entwickeltes Therapiekonzept (Gaumenplatte mit integriertem Sporn) scheint erstmals eine überzeugende Behandlungsmöglichkeit darzustellen (Buchenau et al., J Pediatr 2007). Mit dieser Studie wurden das kognitive Outcome und das Selbstkonzept von Kindern mit PRS mit dem gesunder Kinder verglichen. Methode: Von 57 Kindern mit PRS ohne syndromale Erkrankung, die primär eine kognitive Beeinträchtigung erwarten lässt (>4 Jahre, behandelt nach Tübinger Konzept) nahmen 34 (MW=6,7 Jahre) teil. Die Kontrollgruppe (KG) stellten gesunde Kinder dar (N=34, >4 Jahre, MW=7,2 Jahre). Erhoben wurde das kognitive Outcome mit der Kaufman–Assessment Battery for Children (K-ABC) und das Selbstkonzept der Kinder. Bei der Hauptbezugsperson (Elternteil) wurden emotionale Probleme und Verhaltensauffälligkeiten des Kindes, Depression der Hauptbezugsperson sowie demographische Variablen der Familie erhoben. Ergebnisse: Die Gruppen unterschieden sich in den Kontrollvariablen nicht, Parallelität war gegeben. Kognitive Entwicklung: Im Vergleich zu den K-ABC-Normen schnitt die KG in allen Skalen, die PRS-Gruppe in zwei Skalen (Ganzheitliches Denken, Intellektuelle Fähigkeiten) signifikant besser ab als diese Referenzwerte. In den Skalen Einzelheitliches Denken und Fertigkeiten zeigte die PRS-Gruppe keine Abweichung von den Normen. Die Werte der PRS-Gruppe lagen in allen Skalen allerdings signifikant niedriger als die der KG. Selbstkonzept: In beiden Gruppen zeigten 91% der Kinder positive und 9% neutrale Selbsteinschätzungen über alle Skalen hinweg. Zwischen den Gruppen bestanden keine signifikanten Unterschiede. Diskussion: Die Kinder mit PRS zeigten im Vergleich mit Referenzwerten zwar ein durchschnittliches, im Vergleich mit der gesunden KG jedoch ein signifikant niedrigeres kognitives Entwicklungsniveau. Unter Berücksichtigung neuer Erkenntnisse zur Überholungsbedürftigkeit der K-ABC-Normen liegen somit Hinweise für kognitive Entwicklungsbeeinträchtigungen bei Kindern mit PRS vor. Die psychosoziale Entwicklung erwies sich als unauffällig. Schlussfolgerung: Die empirische Evidenz zur kognitiven Entwicklung von Kindern mit PRS ist noch unbefriedigend. Sollten trotz besserer Therapieoptionen weitere Studien kognitive Entwicklungsbeeinträchtigungen bestätigen, wären Frühfördermaßnahmen indiziert.