Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211 - P120
DOI: 10.1055/s-2007-983191

Ethische Entscheidungsfindung im multikulturellen-multireligiösen Umfeld am Beispiel eines türkischen Neugeborenen mit einem OPD-Typ II (Oto-palato-digitalem) Syndrom

N Karabul 1, S Schmidtke 1, Ý Ýlkilic 1, H Stopfkuchen 1
  • 1Kinderklinik, Klinikum der Johannes-Gutenberg Universität, Mainz

Einleitung: Immer wieder erfordern auch angeborene Krankheitsbilder bei Neugeborenen schwerwiegende ethische Entscheidungen. Die Entscheidungsfindung kann durch sprachliche, kulturelle und weltanschauliche Barrieren erheblich erschwert sein. Exemplarisch berichten wir über eine uns zugängliche Verfahrenweise in einer derartigen Situation. Fallbeispiel: Es handelt sich um das erste lebend geborene Kind türkischer Eltern nach einem intrauterinen Fruchttod in der 37. SSW und einem Abort in der 17. SSW. Damals ergaben die Untersuchungen die Diagnose eines OPD-Typ II Syndroms und dass die Mutter Trägerin der X-chromosomalen Mutation ist. Im Verlauf der jetzigen Schwangerschaft wurde an Chorionzottenbiopsiematerial molekulargenetisch erneut das Vorliegen eines OPD-Typ II Syndroms festgestellt. Das OPD -Syndrom ist eine seltene genetische Erkrankung mit charakteristischen Gesichtszügen, Gaumenspalte, Skelettdysplasien und Hörverlust. Es sind 2 Typen beschrieben, mit Typ II als der schwereren Verlaufsform. Die Mutationen finden sich im FLNA-Gen. Die Prognose hängt vom Schweregrad der potenziell vielfältigen Begleitsymptome ab. Im vorliegenden Fall waren insbesondere eine Lungenhypoplasie sowie Fehlbildungen im Urogenitalbereich (Zystenniere links/Schrumpfniere rechts/Urethralatresie) ein längeres Überleben ausschließende Faktoren. Diesbezüglich fanden im Rahmen der Notwendigkeit der Therapieintensivierung mehrere Gespräche mit den Eltern statt. Sie hatten aufgrund ihrer kulturell-religiösen Wertevorstellungen Schwierigkeiten auf irgendwelche therapeutischen Maßnahmen zu verzichten, die das Leben des Kindes wenigstens für kurze Zeit verlängern konnten. Zu einem weiteren Gespräch wurde deshalb eine „institutionalisierte“ Person hinzugezogen, die aufgrund ihrer medizinischen und sprachlichen Kompetenz und ihrer unmittelbaren Kenntnisse des kulturellen und religiösen Hintergrundes der Eltern in der Lage war, mit diesen in einen vertrauensvollen Dialog einzutreten. Dieser Dialog erleichterte es den Eltern, folgenden weiteren Umgang mit der Erkrankung ihres Kindes zuzustimmen und ihn mitzutragen: Die Therapie des Kindes sollte so gestaltet sein, dass es „keine Schmerzen, keinen Hunger verspüren und keine Angst haben“ muss, d.h. dass der Leidensminimierung der Vorrang eingeräumt werden sollte. Schlussfolgerung: Ethische Entscheidungen im Neugeborenenalter sollten unter fachkompetenter Beachtung und Würdigung der sprachlichen, kulturellen und ggf. religiösen Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles getroffen werden.