Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211 - FV243
DOI: 10.1055/s-2007-983091

Schwangerschaft– Drogen – Kind: Kinderschutz hat derzeit nicht oberste Priorität

D Hüseman 1, JP Siedentopf 2, T Wygold 3
  • 1Klinik für Neonatologie CVK/CBF, Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin
  • 2Klinik für Geburtsmedizin, Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin
  • 3Kinderkrankenhaus auf der Bult, Hannover

In Deutschland werden jährlich schätzungsweise 1500–3000 Kinder von opiatabhängigen Frauen geboren. Zur Stabilisierung der mütterlichen und fetalen Gesundheit werden opiatabhängige Schwangere in kontrollierte Substitutionsprogramme aufgenommen. Das Ziel, dadurch den Beikonsum legaler und illegaler psychotroper Substanzen zu eliminieren oder mindestens zu minimieren, wird jedoch nur ungenügend erreicht. Intrauterine Drogenexposition stellt ein erhebliches Entwicklungsrisiko für die betroffenen Kinder dar. Das Spektrum der Toxizität beinhaltet neben einem erhöhten Malformationsrisiko (insbesondere durch Kokain, Alkohol), intrauteriner Wachstumsretardierung (Nikotin, Cannabis) und einem erhöhten Risiko für Schwangerschaftskomplikationen (Kokain) eine mindestens potenzielle Neurotoxizität für das sich entwickelnde Gehirn. Dabei sind insbesondere die toxischen Effekte bei maternaler Polytoxikomanie unübersichtlich, so dass auch für die ärztliche Verordnung der bezüglich ihrer Toxizität als eher unbedenklich eingestuften Opiate im Rahmen der Substitutionstherapie bei Schwangeren mit Beikonsum ein ethisches und juristisches Dilemma besteht. Bezüglich der langfristigen neurologischen Auswirkungen intrauteriner Drogenexposition ist erwiesen, dass sowohl kognitive Defizite als auch Verhaltensstörungen und eigene Abhängigkeitserkrankungen bei Nachkommen opiatabhängiger Schwangerer gehäuft auftreten. Allerdings fehlen prospektive Studien, die den Einfluss von Beikonsum sowie von postnatalen Effektorgrößen angemessen berücksichtigen. Unklar ist ebenfalls, ob die Schwere des neonatalen Opiatentzugssyndroms mit meist mehrwöchiger Hospitalisierung der betroffenen Neugeborenen einen Zusammenhang mit Langzeitkomplikationen hat. Dass sich derzeit sowohl Ärzte als auch Entscheidungsträger der Sucht- und der Jugendhilfe in einer Grauzone des Nichtwissens bezüglich der Konsequenzen ihrer Verfahrensweisen für das Kindeswohl bewegen, wurde auf einer unter der Schirmherrschaft der Bundesdrogenbeauftragten im Januar 2007 veranstalteten interdisziplinären Expertenanhörung deutlich. Von der Verwirklichung des in der UN- Kinderrechtskonvention von 1989 (Art.24 Abs 1) festgeschriebenen Rechtes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit sind Kinder drogenabhängiger Mütter in unserer Gesellschaft weit entfernt. Fazit: Die derzeitige Praxis der Therapie drogenabhängiger Schwangerer schützt nur sehr unzureichend vor intrauterinem Kontakt mit psychotropen Substanzen. Insbesondere das Ausmaß der Neurotoxizität bei Polytoxikomanie ist nicht ausreichend geklärt. Die Priorisierung des Kinderschutzes, nicht zuletzt durch Unterstützung der Neonatologen, und die wissenschaftliche Klärung der langfristigen Entwicklungsrisiken für drogenexponierte Neugeborene durch prospektive Studien sind dringend geboten.