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DOI: 10.1055/s-2007-971044
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Bericht über das 17. Internationale ALS/MND Symposium in Yokohama, Japan vom 30.11. bis 02.12.2006 und über eine Anschlusskonferenz zur Bedeutung der klinischen Neurophysiologie in der ALS-Diagnostik (gesponsert von der „International Federation of Clinical Neurophysiology” (IFCN) in Awaji Island, Japan, vom 03.12. bis 05.12.2006
Report on the 17th International ALS/MND Symposium in Yokohama, Japan from November 30, to December 2, 2006 and on the Adjoining Conference on the Significance of Neurophysiology in the Diagnosis of ALS [Sponsored by the “International Federation of Clinical Neurophysiology (IFCN)]” on Awaji Island, Japan from December 3 to December 5, 2006Publication History
Publication Date:
11 April 2007 (online)
ALS/MND Symposium 2006
Das ALS/MND Symposium wurde von der Japanischen ALS-Gesellschaft in Kooperation mit der Internationalen Allianz für ALS und Motoneuron-Erkrankungen in Yokohama organisiert, die Vorgängerkonferenz fand 2005 in Dublin statt. Auf diesem jährlichen internationalen Treffen wird jeweils der neueste Stand betreffend die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Pathogenese, Diagnostik und Therapie der ALS wie auch zu den symptomatischen Behandlungsverfahren und zu allen Fragen der modernen Patientenbetreuung behandelt. Ein ganz besonderer Aspekt des aktuellen Symposiums war die Anwesenheit von mehreren über ein Tracheostoma dauerbeatmeten japanischen ALS-Patienten, die zum Teil sogar Funktionen in der dortigen ALS-Gesellschaft wahrnehmen. Dies ist für Japan sehr typisch, da dort ein großer Teil der ALS-Patienten über lange Zeit durch mechanische Ventilation am Leben erhalten werden aufgrund des besonderen kulturellen Hintergrundes. Die Präsidentin der Japanischen Gesellschaft ist eine solche Patientin, die von der Bühne mit Hilfe ihrer Tochter ein Grußwort an die Delegierten richtete. Dies war auch für den Verfasser dieses Beitrages sehr eindrucksvoll und macht zumindest deutlich, dass es neben der bei uns von den Patienten und auch den Angehörigen überwiegend gewünschten palliativen Versorgung in der terminalen Phase der Erkrankung auch die Option der permanenten mechanischen Beatmung gibt.
Eröffnungsvorträge
Der Einführungsvortrag von D. Galasko aus den USA war der epidemischen ALS auf der Insel Guam im südlichen Pazifik gewidmet. Für Guam ist seit 1911 bekannt, dass dort die ALS endemisch in einer etwa 100 Mal höheren Frequenz vorkommt als im Rest der Welt. Insgesamt wurde in den letzten Dekaden möglicherweise eine leichte Abnahme und eine Verschiebung der Erkrankung zum höheren Lebensalter hin beobachtet. In 2005 waren auf Guam 243 ALS-Fälle in der Bevölkerung über 65-Jahre bekannt. Betroffen ist offensichtlich nur die einheimische Chamarro-Population, wobei sie das Risiko auch nach Auswanderung z. B. in die USA mitnimmt. Klinisch treten zwei verschiedene Erkrankungstypen auf, zum einen die bereits angesprochene ALS, zum anderen eine Variante in Form des Parkinson-Demenz-Komplexes. Die Demenz ähnelt hier wesentlich stärker der Alzheimer-Erkrankung als der sonst bei ALS vorkommenden frontotemporalen Demenz. Pathologisch-anatomisch handelt es sich bei beiden Varianten um eine sog. Tauopathie mit sog. „neurofibrillary Tangles” wie bei der Alzheimer-Erkrankung. Pathogenetisch kombinieren sich mit großer Wahrscheinlichkeit eine genetische Prädisposition und noch nicht völlig geklärte Umwelteinflüsse. Nicht mehr in der Diskussion sind die fliegenden Füchse/Hunde (große Fledermäuse), deren Verzehr in Verdacht stand, das Neurotoxin Cycasin auf den Menschen zu übertragen. Andererseits bleibt das Cycasin aus den Früchten einer Farnpalme weiterhin als Risikofaktor im Gespräch, insbesondere wenn es in jungen Jahren gegessen wurde.
Anschließend sprach S. Kuzuhara aus Japan über die ALS auf der Kii-Halbinsel im südlichen Japan, die dort unverändert mit familiärer Häufung auftritt. Umweltfaktoren scheinen hier weniger wichtig zu sein als in Guam, das Risiko bleibt auch nach Auswanderung bestehen. Es handelt sich pathologisch-anatomisch ebenfalls um eine Tauopathie mit den klinischen Ausprägungsformen entweder einer ALS oder eines Parkinson-Demenz-Komplexes, wobei jedoch kein genetischer Bezug zu den Erkrankungen in Guam zu bestehen scheint.
Klinische Varianten/Subformen der ALS; frontotemporale Demenz Eine äußerst interessante Sitzung war den verschiedenen klinischen Ausprägungsformen der ALS bzw. auch ähnlicher Motoneuron-Erkrankungen gewidmet. M. de Carvalho aus Portugal berichtete über die benignen monomelischen Muskelatrophien, die bei Männern häufiger beobachtet werden als bei Frauen. Klinisch handelt es sich um nicht familiäre, nur über relativ kurze Zeit progressiv verlaufende atrophisierende Erkrankungen einer Extremität, besonders häufig z. B. eines Unterarmes. Die Störung kann sowohl proximal wie distal auftreten, bietet elektromyographisch die Zeichen der aktiven und der chronischen Denervierung, wobei elektroneurographisch typischerweise keine Leitungsblöcke nachgewiesen werden können. Ebenso findet sich labordiagnostisch keine Erhöhung der GM1-Antigangliosid-Antikörper. Gelegentlich werden auch auf der Gegenseite milde Denervierungszeichen im EMG gesehen, was nicht auf eine progressive generalisierende Denervierung hinweist und auch nicht als schlechtes Zeichen gewertet werden kann. Der pathogenetische Hintergrund dieser Störungen, die auch bei uns beobachtet werden können, ist ungeklärt. B. Tomik aus Polen ging auf Phänotyp und Verlauf des sog. Flail-Arm-Syndroms ein, einer Variante der ALS, die zunächst schwerpunktmäßig Schultern und Oberarme betrifft. In der klinischen Erfahrung zeigt sich, dass die Lebenserwartung dieser Patienten länger ist als man dies üblicherweise bei der ALS findet. Betrifft die Störung schwerpunktmäßig jedoch die proximalen unteren Extremitäten, so scheinen die Verläufe eher kürzer zu sein. J. Ravits aus den USA ging etwas ausführlicher auf die im Prinzip bereits gut bekannte Tatsache ein, dass die ALS im Regelfall fokal beginnt und sich dann zunächst an der gleichen Extremität, im Weiteren auf die Extremität der Gegenseite und dann erst auf die jeweils anderen Extremitäten oder auf den Bulbärbereich ausweitet. Ferner beschrieb er das ebenfalls gut bekannte Muster der zunächst stark halbseitigen Symptomatik, insbesondere dann, wenn die Schädigung des oberen Motoneurons dominiert. C. Lomen-Hoerth aus den USA wie auch T. H. Bak aus UK und S. Woolley-Levine aus den USA beschäftigten sich mit der Frage der Demenz bei der ALS. Insgesamt wurde diesem Themenbereich breiter Raum gegeben. Es wurde herausgearbeitet, dass Demenzen vom frontotemporalen Typ bei der ALS im Verlauf relativ häufig auftreten und dass umgekehrt 30% der Patienten mit klassischer frontotemporaler Demenz auch Zeichen der Motoneuron-Beteiligung entwickeln. Typische Symptome sind Adynamie und Apathie sowie eine frontale Kontrollschwäche mit entsprechenden Verhaltensproblemen. Die Gedächtnisleistung ist dagegen in der Regel eher nur wenig betroffen. Der Aspekt dieser frontotemporalen Demenz gewinnt besondere Bedeutung im Kontext mit der mechanischen Ventilation, da durch die Lebensverlängerung möglicherweise das Risiko für die demenzielle Entwicklung ansteigt. Dies wurde bei verschiedenen anderen Gelegenheiten von Delegierten in Diskussionen zur Leitzeitbeatmung argumentativ herausgestellt. Pathogenese J. P. Julien aus Kanada berichtet in einem längeren eingeladenen Vortrag, dass die mutierte SOD-1 bei familiärer ALS aus Motoneuron- und Gliazellen in den Extrazellulärraum sezerniert wird und zu einer Aktivierung von Mikroglia führt. Ob dies für den Verlauf der Erkrankung günstig oder aber schädlich ist, sei jedoch nicht klar. Seine Gruppe hat nun zeigen können, dass eine Immunisierung gegen die mutierte SOD-1 das Leben von betroffenen Mäusen deutlich verlängern kann. Es stellt sich nun die Frage, ob nicht auch bei der sporadischen ALS z. B. toxisch veränderte SOD-1 aus Nerven- und Gliazellen sezerniert wird und dann eine zellschädigende Kaskade in Gang setzt. Dies könnte bedeuten, dass auch bei sporadischer ALS Immunisierungsverfahren (z. B. auch Impfungen) hilfreich sein könnten. Die Gruppe wird in dieser Richtung intensiv weiterforschen. Danach gingen eine Reihe anderer Redner (G. Goldsteins aus Finnland, S. Petri aus Deutschland und S. C. Barber aus England) auf die Bedeutung oxidativer Schädigungen als pathogenetische Faktoren bei der ALS ein. Besonders betont wurde in diesem Kontext eine Funktionsstörung der Mitochondrien mit vermehrter Bildung von freien Sauerstoffradikalen, die wiederum Zellstrukturen schädigen. Entsprechend werden weiterhin Substanzen mit anti-oxidativem Potenzial inzwischen mit Methoden, die einen hohen Durchsatz in Zell-Kulturen ermöglichen, getestet. Surrogat-Marker Eine weitere Sitzung war den sog. Surrogat-Markern (diagnostische Ersatz-Marker) gewidmet. Y. Naito aus Japan referierte zur Bedeutung des sog. „motor-unit-number-estimate” (MUNE) in der Diagnostik und in der Verlaufskontrolle der ALS. Er stellte heraus, dass diese spezielle EMG-Methode, für die es mehrere Varianten gibt, sehr gut reproduzierbare Ergebnisse liefert und auch im Vergleich zwischen unterschiedlichen Untersuchern sehr zuverlässig ist. Persönlich empfiehlt er die sog. „Multiple-point-stimulation-Technik”, die vor mehreren Jahren von kanadischen EMGisten entwickelt wurde. Grundsätzlich erlaubt MUNE die Zahl von funktionierenden Einheiten in bestimmten Muskeln relativ gut einzuschätzen und ihre Veränderungen im Verlauf von Erkrankungen wie der ALS zu verfolgen. Sie wurde deshalb in einigen klinischen Studien als Verlaufsparameter miteingesetzt. M. C. Tartaglia aus Kanada ging auf die Möglichkeiten spezieller Kernspin-Techniken in der Beurteilung von umschriebenen Atrophien des Gehirns bei Motoneuron-Erkrankungen ein. Er benutzte die sog. Voxel-Based-Morpohmetry, um Substanzverluste im Bereich der grauen und der weißen Substanz zu messen. K. Sharma aus den USA benutzte die Kernspin-Spektroskopie, um den Zellverlust im Kortex nachzuweisen. Allerdings konnte er bisher nicht zeigen, ob sich ein solcher Verlust auch dann findet, wenn klinisch keine Pyramidenbahnzeichen erkennbar sind. M. Strong aus Kanada konnte mit Hilfe spezieller CT-Techniken, wie sie bei Schlaganfall-Patienten benutzt werden, nachweisen, dass es bei ALS zu verlängerten Transitionszeiten kommt. Der Befund korrelierte insbesondere gut mit Zeichen der Demenz bei Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose wie auch mit primärer Lateralsklerose. P. H. Gordon aus den USA referierte, dass der beste Outcome-Parameter für frühe ALS-Studien der ALSFRS (klinischer Score) ist, wie er ohnehin bereits in allen klinischen Studien eingesetzt wird. D. H. Moore aus den USA plädierte dafür, dass man bei den Studien besonders gut reagierende Patienten separat erfassen sollte, wodurch die Zahl der für die Studien notwendigen Patienten reduziert werden könnte. Ferner wären solche Patienten für den Einschluss besonders geeignet, die relativ rasche Verläufe zeigen, da sich hier Veränderungen durch Medikamente relativ schnell erkennen lassen würden. Genetik/Proteinananlyse/Tiermodell Weitere wichtige Sitzungen beschäftigten sich mit der Genetik der ALS, ohne dass hier ein wirklicher Durchbruch über die bekannten Risiko-Gene hinaus erreicht worden ist. Ebenso erscheint zwar der Vergleich der ALS mit anderen Erkrankungen von Motoneuronen hoch interessant, hat jedoch noch keine entscheidenden Erkenntnisse für die Pathogenese der ALS erbracht. Eine ganze Sitzung war auch den Proteineigenschaften der Kupfer-Zink-Superoxiddismutase gewidmet, in deren Gen bei ca. 10-20% der familiären Fälle Mutationen nachzuweisen sind. Solche Untersuchungen erscheinen besonders wichtig, da bis jetzt die toxische Funktion der mutierten SOD-1 nicht wirklich verstanden ist und da es nicht ausgeschlossen ist, dass auch bei der sporadischen ALS Funktionsstörungen aufgrund von Proteinveränderungen in der SOD-1 pathogenetisch eine wichtige Rolle spielen könnten. Eine spezielle Sitzung war auch die Interpretation von Daten aus Experimenten mit dem Tier-Modell der SOD-1-Maus gewidmet. Allgemein lässt sich jedoch sagen, dass eine gewisse Enttäuschung darüber besteht, dass sich Therapie-Erfolge im Maus-Modell bei klinischen Studien am Menschen häufig nicht bestätigen lassen. Eine weitere Sitzung fokussierte auf die Rolle neurotrophischer Faktoren in der Pathogenese der ALS. Allerdings haben die Experimente in dieser Richtung bisher noch nicht zu schlüssigen Hypothesen betreffend die Pathogene der ALS bzw. zu klinisch erfolgreichen Therapieformen geführt. Trotzdem erscheint die Forschung zum Thema der neurotrophischen Faktoren nicht nur für die ALS, sondern auch für andere neurodegenerative Erkrankungen sehr wichtig. Andere Themen Ferner waren eigene Sitzungen gewidmet der Epidemiologie, dem axonalen Transport wie auch der Rolle nicht neuronaler Zellen bei der ALS. Im letzteren Bereich gewinnt besonders die Forschung zur veränderten Funktion von Astrozyten bei ALS eine zunehmende Rolle, nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der Stammzell-Forschung bzw. mit neuronalen und glialen Progenitor-Zellen. Klinische „Highlights” Am Ende fasste H. Mitsumoto aus den USA die klinischen „Highlights” noch einmal zusammen. Aus seiner subjektiven Sicht heraus waren besonders interessant die Sitzungen zu den verschiedenen Phänotypten der Erkrankung, die Möglichkeiten der Kernspin-Spektroskopie, die Behandlung mit Phrenicus-Schrittmachern zur Hinausschiebung der mechanischen Ventilation und die Einführung von Teams für die häusliche Versorgung von ALS-Patienten, wie es momentan in Kanada geschieht. Daneben plädierte er für die Entwicklung internationaler, harmonisierter ALS-Datenbanken. Mit Vorbehalt nahm er Stellung zum Arzt-assistierten Selbstmord, wie er in den Niederlanden möglich ist. Ferner reflektierte er zur Langzeitbeatmung am Beispiel Japans, dem Gastgeberland, wobei er die Frage in den Mittelpunkt stellte, wie häufig das Auftreten von demenziellen Entwicklungen oder eine Multisystembeteiligung zu beobachten ist und wie die unweigerlich entstehenden Kommunikationsprobleme gelöst werden können. In diesem Kontext bezog er sich auch auf einen Vortrag von X. Hochberg aus den USA, der über die Möglichkeiten intrakortikal implantierter Elektroden zur willentlichen Steuerung von Computer-Kursoren und ähnlichen berichtete. Wissenschaftliche „Highlights” G. Sobue aus Japan referierte zu den wissenschaftlichen „Highlights”. Ihm erschien die Forschung zur Rolle der Mikroglia-Zellen und der Astrozyten bei der ALS besonders wichtig und aussichtsreich, auch im Hinblick auf die Entwicklung neuer Therapie-Methoden. Ferner stellte er die Berichte zur Immunisation gegen pathologische SOD-1 heraus, die möglicherweise Türen für die Immunbehandlung auch bei der sporadischen ALS, wenn nicht sogar für Impfungen in der Zukunft eröffnet. Er betonte die Wichtigkeit von Genom-weiten Assoziations-Studien auch bei der sporadischen ALS. Besonders hob er die Bedeutung der Suche nach genetischen Modifikatoren heraus, die in der phänotypischen Ausprägung der Erkrankung im Tier-Modell der SOD-1-Maus eine Rolle spielen und auch beim Menschen Einfluss auf die Entwicklung und klinische Ausprägung der Erkrankung nehmen könnten. Abschluss des ALS/MND-Symposiums Der Kongress wurde abgeschlossen mit einem Referat von B. Halliwell aus Singapur zur Bedeutung anti-oxidativer Substanzen in der Therapie der ALS. Er machte deutlich, dass oxidative Schädigungen im Stoffwechsel der Zelle letztlich unvermeidlich sind und keine kritische Bedeutung haben, solange die Zelle die Schäden reparieren kann oder die beschädigten Proteine ersetzt. Pathogenetisch relevant werden oxidative Schäden erst dann, wenn diese Möglichkeiten der Zelle eingeschränkt sind z. B. bedingt durch genetische Prädisposition (z. B. SOD 1-Mutationen) oder durch ungünstige Umwelteinflüsse. Workshop zur Rolle der klinischen Neurophysiologie in der ALS-Diagnostik Im Anschluss an obigen Kongress nahm der Verfasser dieses Beitrages an einem speziellen Wirkshop auf der Insel Awaji in Südjapan teil, zu dem die Internationale Föderation für Klinische Neurophysiologie (IFCN) eingeladen hatte und der von R. Kaji aus Tokushima organisiert wurde. Teilnehmer waren M. Swash (London), K. R. Mills (London), A. Eisen (Vancouver), J. Shefner (Syracuse/New York), M. D. Carvalho (Lissabon), J. D. England (Billings/Montana) J. Kimura (Kyoto), H. Shiwasaki (Kyoto), H. Nodera (Tokushima), R. Dengler (Hannover). Ziel dieses Workshops war es, die Rolle der Elektromyographie und der Elektroneurographie für die Diagnostik der ALS, insbesondere für die Frühdiagnostik, herauszuarbeiten und den Stellenwert entsprechend darzustellen. Es ging nicht darum, die von der WFN erarbeiteten revidierten El-Escorial-Kriterien neu zu formulieren, sondern sie um geeignete klinisch-neurophysiologische Kriterien zu ergänzen, wie es ansatzweise ja bereits in Form der Kategorie „wahrscheinliche ALS, labor (EMG-) unterstützt), geschehen ist. Ziel der Arbeitsgruppe ist es dabei, Einverständnis darüber herzustellen, dass in der ALS-Diagnostik klinische und elektromyographische Befunde gleiches Gewicht bekommen und der Begriff „labor-unterstützt” damit überflüssig wird. Der Wert von Fibrillationspotenzialen und positiv scharfen Wellen in entspannten Muskel für die ALS-Diagnostik ist allen EMGisten klar und ist unbestritten. Besonders wichtig ist jedoch die Verteilung dieser Veränderungen über verschiedene Muskeln hinweg, die entweder zu unterschiedlichen Körperregionen gerechnet werden, oder die eine unabhängige Nerven- oder Wurzelversorgung besitzen. Als Körperregionen wurden in den El-Escorial-Kriterien die kraniale (bulbäre), die zervikale (obere Extremität), thorakale (paravertebral, interkostal, abdominal) und die lumbosakrale (untere Extremität) Region definiert, was auch aus elektromyographischer Sicht sinnvoll erscheint. Nach Meinung der EMG-Experten wäre es jedoch gerechtfertigt, auch den Nachweis von Faszikulationspotenzialen, wenn zusätzlich chronisch-neurogene Veränderungen erkennbar sind, im Sinne eines Denervierungsprozesses zu werten. Bislang sagen die EL-Escorial-Kriterien nur, dass der Nachweis von Faszikulationen hilfreich ist, ordnen ihm jedoch keine eindeutige diagnostische Bedeutung zu. Komplex repetitive Entladungen dagegen wurden von der Gruppe mehrheitlich nicht als beweisend für „aktive”, d. h. progressive Denervierung angesehen, die ja bei ALS zu fordern ist. Bei den chronisch-neurogenen Zeichen wurden, wie ja allgemein akzeptiert, eine Erhöhung der Amplitude, eine Verlängerung der Dauer und eine Erhöhung der Phasenzahlen der Potentiale motorischer Einheiten als beweisend angesehen. Ganz besonders wurde jedoch der Wert sog. instabiler Potenziale zum Nachweis chronisch-neurogener Veränderungen herausgestellt. Hierunter versteht man, dass bei komplexen Potentialen motorischer Einheiten einzelne Komponenten ihre Entladungszeitpunkte gering variieren oder einmal auch entfallen können, sodass sich die Konfiguration des Potenzials immer wieder leicht ändert. Besonders gut lassen sich diese Veränderungen nachweisen, wenn man die untere Grenzfrequenz des EMG-Verstärkers auf 500 bzw. 1000 Hz anhebt („Unblanketing”), wobei die abgeleiteten Potentiale Ähnlichkeit zum Einzelfaser-EMG zeigen. Man kann auf diese Weise einen „Jitter” wie auch Leitungsblöcke in axonalen Terminalen Nachweisen, wie sie in Folge der axonalen Aussprossung bei kollateraler Reinnervation auftreten. Aus der Sicht des Verfassers ist es in der Tat lohnend, in der ALS-Diagnostik die Bewertung instabiler Potentiale mit einzubeziehen. Ähnlich wie bei den Zeichen der aktiven Denervierung ist für die ALS-Diagnostik das Auftreten von Zeichen der chronischen Denervierung in verschiedenen/mehreren Körperregionen bzw. Innervationsgebieten entscheidend. Betreffend die klinisch wichtige Beteiligung des oberen Motoneurons wurde intensiv zum Stellenwert der transkraniellen Magnetstimulation diskutiert. Insbesondere wurden auch die Möglichkeiten der Doppel-Puls-Stimulation und der modernen Trippel-Stimulations-Technik besprochen. Es konnte jedoch kein Konsens erreicht werden, dass TMS-Befunde einen gleichen Stellenwert haben sollen wie klinische Zeichen der Pyramidenbahnbeteiligung. Hier wurde von der Gruppe mehrheitlich weiterer Forschungsbedarf gesehen, bevor man eine solche Stellungnahme im Sinne von Empfehlungen aussprechen kann. Dies bedeutet nicht, dass das hohe Potenzial der TMS, insbesondere der Trippel-Stimulations-Technik, in Frage gestellt wurde. Es wurde lediglich konstantiert, dass die bisher vorliegenden Erfahrungen nicht ausreichen, zumal die Mehrheit der Mitglieder der Arbeitsgruppe diesbezüglich keine eigenen Erfahrungen hatte. Aus der Sicht des Verfassers ist es wichtig, intensiv in dieser Richtung weiter zu forschen, da gerade der Nachweis der Beteiligung des oberen Motoneurons häufig klinisch größte Schwierigkeiten macht und deshalb die Diagnosestellung einer ALS bei Patienten nicht möglich ist, die im übrigen einen für die Erkrankung typischen Verlauf zeigen. Insgesamt wurde die Diskussion im Rahmen des Meetings nicht, was auch nicht zu erwarten war, zum Abschluss gebracht. Es wurde vereinbart, noch einmal die einschlägige Literatur nach Evidenzkriterien zusammenzutragen, bevor man der IFCN Empfehlungen zur Wertigkeit der Klinischen Neurophysiologie in der ALS-Diagnostik macht, die dann auch von der World Federation of Neurology übernommen werden könnten. Von den Mitgliedern der Gruppe wurde jedoch kein Zweifel daran gelassen, dass man auf jeden Fall erreichen will, dass zumindest dem EMG und seinen Veränderungen der gleiche Stellenwert wie den klinischen Befunden zugeordnet wird. Aus der Sicht des Verfassers ist dies gerechtfertigt und wird de facto in der ALS Diagnostik bereits so gehandhabt.Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. R. Dengler
Neurologische Klinik mit Klinischer Neurophysiologie · Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Email: dengler.reinhard@mh-hannover.de