Psychother Psychosom Med Psychol 2007; 57(8): 307-308
DOI: 10.1055/s-2007-970961
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Immer auf Achse - der gesundheitliche Preis der Mobilität in einer 24-h-Gesellschaft

Always on the Road - Health Costs as Prize of Mobility in a 24-h SocietySteffen  Häfner1 , Horst  Kächele2 , Stephan  Zipfel1
  • 1Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Medizinische Universitätsklinik und Poliklinik, Tübingen
  • 2Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ulm
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Publication Date:
17 July 2007 (online)

Dr. med. Steffen Häfner

Heute hier, morgen dort, bin kaum da, muss ich fort,
hab' mich niemals deswegen beklagt.
Hab' es selbst so gewählt, nie die Jahre gezählt,
nie nach gestern und morgen gefragt.

Hannes Wader, 1971

„Bahnstreik - Hunderttausende sitzen fest” [1], „Streik legt Zugverkehr lahm - Rund 100 000 Beschäftigte in der Region mit Verspätung zur Arbeit” [2]. Streiks bei der Deutschen Bahn AG, Megastaus auf den Straßen. Abweichungen vom gewohnten Fahrplan durch die Streiks mit der Folge von zusätzlichem Stress durch versäumte Termine oder Anschlüsse sind besonders ärgerlich für diejenigen, die sich aktiv und bewusst dafür entschieden haben, mit der - umweltfreundlichen - Bahn zu pendeln und das Auto zu Hause stehen zu lassen oder erst gar keines anzuschaffen. Der gut gemeinte Ratschlag, bei Bahnstreiks auf Fahrgemeinschaften oder das Fahrrad umzusteigen, ist nicht für jeden Pendler realisierbar - wer kann schon 200 Kilometer mit dem Rad fahren?

Während für Krankheiten die years lost berechnet werden, gibt es kaum Angaben, wie viel Zeit auch ohne Streik im Alltag beim Warten auf öffentliche Verkehrsmittel und in Verkehrsstaus auf der Strecke bleibt. Wir leben in einem Zeitalter der Hypermobilität, in dem das Unterwegssein ein Wert an sich geworden ist [3]. Was sich 1971 bei Hannes Wader noch wie Utopia anhörte, ist für viele längst tägliche Realität geworden. Dabei sind die schleichenden Risiken beim täglichen Bahn- oder Autofahren eher unbekannt.

Dass von der Eisenbahn Gefahren ausgehen, ist spätestens seit dem Aufkommen des Begriffes der „railway spine” am Ende des 19. Jahrhunderts klar. Er beschreibt psychische Folgeerscheinungen wie Kopfschmerzen, Lähmungen, Gedächtnisdefizite, Verwirrungen oder eingeschränkte Arbeitsfähigkeit, eigentlich nach Eisenbahnunfällen, im Volksglauben aber auch durch die Erschütterungen beim Eisenbahnfahren überhaupt [4]. Ein Jahrhundert später wird die Erschütterungstheorie von dem Pariser Gynäkologen Emile Papiernik aufgegriffen, der gehäuft Frühgeburten und Aborte bei schwangeren Frauen in Paris beobachtet hat, die mit der Metro zur Arbeit gefahren sind. Er bemüht als Erklärung hierfür erneut die Vibrationen während der Fahrt in der Untergrundbahn und warnt daher Schwangere, täglich mehr als 90 Minuten mit der Metro zur Arbeit zu fahren [5] [6]. Diese Untersuchung wurde unseres Wissens nie repliziert.

Überhaupt werden die gesundheitlichen Belastungen bei vielen Formen des Unterwegsseins, so auch auf dem Weg zur Arbeit und von der Arbeit nach Hause, eher als quantité négligeable behandelt. Was alles an pendlerspezifischen Beschwerden bekannt ist, haben wir in dieser Zeitschrift veröffentlicht [7]. Einige Studien mit spezifischem Fokus sind in der Zwischenzeit noch hinzugekommen: Das Spektrum reicht von klinischen Beobachtungen wie der von Carmont et al. [8] aus einer orthopädischen Klinik in Großbritannien von gehäuften Ermüdungsbrüchen der Metatarsale II und III durch häufiges Schalten beim Pendeln bis zu der groß angelegten epidemiologischen Studie von Peters et al. [9], die auf den Zusammenhang zwischen Pendeln und Herzinfarktrisiko hinweist. Dass das Fahren auch die Wohlstandskrankheit Adipositas mit unterhält, haben Wen et al. [10] in Australien gezeigt. Bei einer Telefonumfrage an 6810 Autofahrern haben sie herausgefunden, dass das Pendeln zur Arbeit das Risiko, adipös zu sein, erhöht, vermutlich aufgrund der verminderten Möglichkeiten ausreichender körperlicher Aktivität während des Fahrens. Auch die Ergebnisse von Hu et al. [11] in China, einem Land, in dem die Motorisierungswelle gerade so richtig zu rollen anfängt, weisen in diese Richtung.

Eine eigene Untersuchung an Bahnpendlern auf den Bahnhöfen in Stuttgart und Ulm ergab ein Symptomprofil aus Müdigkeit, Schmerzen und verschiedenen funktionellen Beschwerden. Allerdings weisen diejenigen weniger Pendelstress auf, die es schaffen, der Fahrzeit eine sinnvolle Bedeutung zu geben, indem sie beispielweise lesen oder arbeiten [12]. Diese Untergruppe gab weniger Beschwerdedruck und eine bessere Lebensqualität an. Es verwundert daher nicht, dass nach früheren Versuchen in der Schweiz mit einer Zeitung für Bahnpendler jetzt auch überregionale Tageszeitungen auf das pendlerfreundliche kleine „Halbnordische Format” umstellen. Die „Welt Kompakt” warb bei der Einführung in der Region Stuttgart auf zentralen S-Bahnhöfen gezielt mit dem Slogan „Die können Sie in einem Zug durchlesen”. Inwieweit mit dieser arbeitsbetonten Haltung bei südwestdeutschen Pendlern der protestantischen Ethik im Sinne Max Webers gefrönt wird, sei dahingestellt. Immerhin hat Greenberg [13] in England an Bahnpendlern herausgefunden, dass Protestanten das Pendeln als Teil ihres Arbeitstages sehen und von daher die Zeit unterwegs nutzen, um zu arbeiten. Am Rande bemerkt, erinnert das wieder an den Missstand, dass wir bei den soziodemografischen Daten vieler Studien so gut wie nie etwas über die Religionszugehörigkeit der Probanden oder Patienten lesen.

Im katholischen Italien hingegen hat man ganz andere Sorgen: In einer Untersuchung von Palumbo vom Centro di Psicologia Clinica in Mailand an 1024 Pendlern aus dem Latium erstaunt es nicht so sehr, dass 60 % der Menschen, die täglich 80 Minuten bis 3 Stunden im Zug nach Rom pendeln, unter Ängsten, Appetitlosigkeit oder Depressionen leiden, vielmehr der Kommentar des Präsidenten der Pendler-Vereinigung Latium bei Rom, Giorgio Pacetti, hierzu: „Es ist wirklich schlimm. Wenn die Leute abends nach Hause kommen, sind sie sogar zu gestresst für die Liebe” [14]. Die Sorge um das Sexualleben von Pendlern in Italien ist zwar noch nicht in einer wissenschaftlichen Zeitschrift publiziert, sollte aber dennoch zum Nachdenken Anlass geben. Offenbleibt, ob man(n) nicht mehr will oder gar nicht mehr kann.

Wir ziehen daher noch eine andere Studie von Gerstel und Gross [15] zurate. Hier wurde untersucht, wie sich die Paarbeziehung durch Fernpendeln oder längere Abwesenheit eines Partners verändert. Untersucht wurde auch, ob Pendler verstärkt zu außerehelichen sexuellen Beziehungen tendieren, ob ihre modifizierte Ehestruktur mit geringer sozialer Kontrolle und veränderten Gelegenheitsstrukturen also ein verändertes sexuelles Verhalten zur Folge hat. Dabei ergab sich, dass die Angst vor dem Fremdgehen des Partners zwar immer präsent ist, die reale Gefahr eines Fremdgehens allerdings gering zu sein scheint: dies trifft nur für eine Minorität von ca. 8 % zu, d. h. die meisten Pendler sind überwiegend treu.

Eigentlich sind Fernpendler ja auch ganz ausgeprägte Familienmenschen, sonst würden sie die Belastungen des täglichen Fahrens, um abends zu Hause zu sein, gar nicht auf sich nehmen. Zu Hause gibt es nämlich in der kurzen Zeit der Anwesenheit meist genügend Probleme zu lösen [16]: Pendlerfamilien mit kleinen Kindern leiden beispielsweise unter den strengen Hol- und Bringzeiten in Kindertageseinrichtungen, die für pendelnde Eltern oft eine Zumutung darstellen. Einfacher wäre es sowieso, wenn das Kind am jeweiligen Arbeitsort in den Hort könnte, da so für die Fahrzeit weder ein finanzieller noch ein zeitlicher Mehraufwand entstehen würde. Fragwürdige Argumentationen der Träger von Kindergärten und -horten gehen allerdings in die Richtung, dass die Kinder in ihrem sozialen Umfeld verbleiben sollen.

So ergibt sich ein weites Feld, in dem Psychotherapeuten und Arbeitsmediziner zusammenarbeiten und sich ergänzen könnten. Während früher die Arbeitsmedizin gesundheitliche Folgen des Arbeitsweges eher stiefmütterlich behandelte [17], findet neuerdings ein Sinneswandel statt. Beispielsweise finden auch in den Standardwerken des Fachgebietes die Auswirkungen der beruflichen Mobilität in der neuen Arbeitswelt Berücksichtigung [18]. Das gibt doch Anlass zur Hoffnung, dass gemeinsam eine pendlerorientierte Therapieforschung entwickelt werden kann „und nichts bleibt, und nichts bleibt wie es war” (Hannes Wader).

Literatur

  • 1 Bahnstreik - Hunderttausende sitzen fest. Stuttgarter Nachrichten 4.7.2007
  • 2 Streik legt Zugverkehr lahm - Rund 100 000 Beschäftigte in der Region mit Verspätung zur Arbeit. Stuttgarter Nachrichten 4.7.2007
  • 3 Rosa H. Technische Beschleunigung und die Revolutionierung des Raum-Zeit-Regimes. In: Rosa H Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main; Suhrkamp 2005: 161-175
  • 4 Löwe B, Henningsen P, Herzog W. Geschichte einer politisch unerwünschten Diagnose: Die posttraumatische Belastungsstörung.  Psychother Psych Med. 2006;  56 182-187
  • 5 Papiernik E, Kaminski M. Multifactorial study of the risk of prematurity at 32 weeks of gestation. I. A study of the frequency of 30 predictive characteristics.  J Perinat Med. 1974;  2 30-36
  • 6 Kaminski M, Papiernik E. Multifactorial study of the risk of prematurity at 32 weeks of gestation. II. A comparison between an empirical prediction and a discriminant analysis.  J Perinat Med. 1974;  2 37-44
  • 7 Häfner S, Kordy H, Kächele H. Psychosozialer Versorgungsbedarf bei Berufspendlern.  Psychother Psych Med. 2001;  51 373-376
  • 8 Carmont M R, Chaudhry S, McBride D J. Clutch foot stress fracture: another complication of commuting?.  Foot Ankle Surg. 2004;  10 159-162
  • 9 Peters A, Klot S von, Heier M. et al . Exposure to traffic and the onset of myocardial infarction.  New Engl J Med. 2004;  351 1721-1730
  • 10 Wen L M, Orr N, Millett C, Rissel C. Driving to work and overweight and obesity: findings from the 2003 New South Wales Health Survey, Australia.  Int J Obesity. 2006;  30 782-786
  • 11 Hu G, Pekkarinen H, Hänninen O. et al . Commuting, leisure-time physical activity, and cardiovascular risk factors in China.  Med Sci Sports Exerc. 2002;  34 234-238
  • 12 Rapp H. Die Auswirkungen des täglichen Berufspendelns auf den psychischen und körperlichen Gesundheitszustand. Dissertation Medizinische Fakultät der Universität Ulm,. 2003 (available http://vts.uni-ulm.de/doc.asp?id=4904)
  • 13 Greenberg J. Protestant ethic endorsement and attitudes toward commuting to work among mass transit riders.  J Appl Psychol. 1978;  63 755-758
  • 14 Gestresste Pendler. Neue Luzerner Zeitung 12.4.2002
  • 15 Gerstel N, Gross H. Commuter Marriage: a Study of Work and Family. New York, London; Guilford Press 1984
  • 16 Koller C. Liebe auf Distanz. Fernbeziehungen - und wie man sie meistert. Heidelberg; Moderne Verlagsgesellschaft mvg 2006
  • 17 Häfner S, Haug S, Kächele H. Psychosozialer Versorgungsbedarf bei Arbeitnehmern.  Psychotherapeut. 2004;  49 7-14
  • 18 Weber A, Hörmann G. Psychosoziale Gesundheit im Beruf: Mensch, Arbeitswelt, Gesellschaft. Stuttgart; Gentner 2007

Dr. med. Steffen Häfner

Medizinische Universitätsklinik und Poliklinik, Abteilung Innere Medizin VI, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Osianderstr. 5

72076 Tübingen

Email: steffen.haefner@med.uni-tuebingen.de

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