PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(2): 194-195
DOI: 10.1055/s-2007-970874
Im Dialog
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Achtsamkeit und Akzeptanz: Opium für das Volk?

Eine Antwort auf den Kommentar von Herrn Dr. med. Willy Herbold (PiD Heft 4, Dezember 2006)Thomas  Heidenreich, Esslingen Johannes  Michalak, Bochum
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Publication Date:
01 June 2007 (online)

Wir bedanken uns für die Anregungen, die uns Herr Dr. Herbold in seinem Leserbrief zu dem von uns herausgegebenen PiD-Heft „Achtsamkeit und Akzeptanz” (PiD Heft 3, September 2006) gegeben hat und die es uns ermöglichen, unsere eigene Position deutlicher zu klären und einige Aspekte stärker zu explizieren. Zunächst möchten wir noch einmal die aus unserer Sicht wichtigsten Argumente des Leserbriefs zusammenfassend darstellen, um den Leserinnen und Lesern den Kontext unserer Antwort zu liefern: Das unserer Einschätzung nach zentrale Argument betrifft die Einbettung von Psychotherapie in den gesamtgesellschaftlichen Kontext („in der Psychotherapie ändern sich die Paradigmen ähnlich wie in anderen Bereichen der Kultur im Wechselspiel mit den Veränderungen herrschender gesellschaftlicher Strukturen”). Insbesondere die Prinzipien Achtsamkeit und Akzeptanz bergen nach Herbold die Gefahr, dass Widerstand gegen Marginalisierung und ungerechte sozioökonomische Verhältnisse als Handlungsoption aus dem Blick gerät; oder einfacher ausgedrückt: Wer immer besser akzeptieren lernt, lässt alles mit sich machen! Auf der anderen Seite sieht Herbold aber auch den Wert dieser Prinzipien. So geht er davon aus, dass das Prinzip der radikalen Akzeptanz in der Behandlung bestimmter psychischer Störungen (z. B. Borderline-Störungen) „Gold wert” sein kann. Er sieht allerdings eine Gefahr darin, „dass es mittlerweile als völlig störungsunspezifischer Behandlungsansatz verbreitet wird” und damit - zum Lebensprinzip erhoben - die oben dargestellte Problematik aufweist.

In dieser Argumentation scheint ein zentraler Aspekt von Achtsamkeit und Akzeptanz auf: die auch in einzelnen Beiträgen des Themenhefts benannte Dialektik von Akzeptanz und Veränderung. Wir möchten an dieser Stelle unsere Gedanken zu den aufgeworfenen Fragen darstellen. Uns ist dabei gleichzeitig bewusst, dass wir dabei keine erschöpfenden Antworten liefern können. Dies mag zum einen daran liegen, dass wir uns selbst als in unserem Verständnis dieser Prinzipien „auf dem Weg” befindlich wahrnehmen. Zum anderen erscheint uns zum heutigen Zeitpunkt auch noch weitgehend offen, wie genau eine Integration dieser Prinzipien in die westliche Psychotherapie in den nächsten Jahren und Jahrzehnten verlaufen wird. Dieser Prozess ist noch in starkem Maße ergebnisoffen und hängt davon ab, wie unterschiedliche Fragen (wie auch die von Herbold aufgeworfenen) beantwortet und in der Praxis realisiert werden.

Zunächst scheint uns die Argumentation von Herbold auf einem Missverständnis dessen zu beruhen, was unter Akzeptanz und Achtsamkeit zu verstehen ist: Unter Akzeptanz - auch unter radikaler Akzeptanz - ist nicht Resignation oder „Hände in den Schoß legen” zu verstehen. Dies gilt zum einen auf der Ebene des Individuums (beispielsweise einer Frau, die in einer durch Missbrauch und Misshandlung geprägten Beziehung lebt), zum anderen aber auch auf gesellschaftlicher Ebene (Missstände und faktische Ungerechtigkeiten). Achtsamkeit bedeutet hier gerade die „Wahr”nehmung dieser Verhältnisse, radikale Akzeptanz das existenzielle Eingestehen des derzeitigen Zustands bzw. der derzeitigen Situation ohne vorschnelle automatisierte Reaktionen und Handlungen, die häufig lediglich kurzfristig Erleichterung verschaffen, langfristig aber Leiden verstärken. Achtsamkeit und Akzeptanz können in diesem Sinne Sensibilität für Ungerechtigkeiten und Missstände erhöhen und eine „geklärte” Motivation für Veränderungen schaffen. Unserer Meinung nach haben aber diese auf der Basis von Achtsamkeit und Akzeptanz erfolgten Handlungen einen anderen „Geschmack” als einfacher Aktionismus: Sie versuchen, so gut es geht, starre Subjekt/Objekt-Dichotomien zu transformieren und einen „weisen”, „nachhaltigen” Umgang mit sich, dem Problem und dem „anderen” zu pflegen. Beispiele für einen solchen Umgang finden sich etwa auf „östlicher Seite” bei Vertretern des engagierten Buddhismus wie Thich Nhat Hanh oder auch dem Dalai Lama, auf „westlicher Seite” in Menschen wie Martin Luther King, die gesellschaftliche Aspekte von Problemen wahrnehmen, benennen und Schritte zu ihrer Veränderung unternehmen, sich gleichzeitig aber nicht von „Feindbildern” leiten lassen und eine Empathie für alle an einem Konflikt beteiligten Seiten anmahnen und selber praktizieren.

Die von Herbold aufgeworfenen Fragen ausschließlich auf ein bloßes Missverständnis reduzieren zu wollen, scheint uns aber verkürzend. Wir haben wiederholt darauf hingewiesen, dass die Integration von Achtsamkeit und Akzeptanz in die westliche Gesellschaft, insbesondere in die Psychotherapie, achtsam erfolgen sollte: Sicherlich birgt diese auch die Gefahr einer einseitigen Betonung von „Innerlichkeit”, die das Erreichen von individueller „Glückseligkeit” unter Außerachtlassung der elementaren Bezogenheit des Einzelnen anstrebt und in der Tat kann dies auch letztlich zu einer unguten Entpolitisierung und einer Reduzierung von Engagement führen.

Auf der anderen Seite sollte man unserer Meinung nach aber auch nicht die Augen davor verschließen, dass politisches Handeln in der aktuellen gesellschaftlichen Situation aus unterschiedlichen Gründen schwierig ist. Ein tief greifender Grund liegt unseres Erachtens darin, dass viele das 20. Jahrhundert dominierende Emanzipationsbestrebungen gesamtgesellschaftlich deutlich an Anziehungskraft verloren haben. Auch wenn wir heutzutage sicherlich von den Früchten dieser Bewegungen profitieren, scheint es uns doch so zu sein, dass auf breiter gesellschaftlicher Ebene der Glaube an „Seligwerdung” durch ausschließliche gesellschaftliche Veränderungen massiv an Anziehungskraft verloren hat. Es scheint derzeit noch offen, wie das dadurch entstandene Sinnvakuum gefüllt werden kann. An dieser Stelle scheinen uns Prinzipien wie Achtsamkeit und Akzeptanz auch ein gesamtgesellschaftliches Potenzial zu haben und Wirkungen zu zeigen (z. B. Sensitivierung bezüglich der langfristigen Konsequenzen von Handlungen; Erfahrung, dass „weniger mehr sein kann”; Sensitivierung und erfahrungsmäßige Einsicht in die wechselseitige Bezogenheit von Menschen untereinander und des Menschen mit seiner Umgebung), die eine heilsame Form von Engagement gerade ermöglichen.

Aber wir wollen die von Herbold aufgeworfenen Fragen an dieser Stelle auch nicht wegharmonisieren: Letztendlich wird es immer eine Frage der persönlichen Entscheidung und Lebensausrichtung sein, wie ich mich innerhalb der Dichotomie von „vita activa” (tätige Veränderung der Welt und ihrer Verhältnisse) und „vita contemplativa” verorte. Aus unserer Sicht haben aber die Prinzipien Achtsamkeit und Akzeptanz ein großes Potenzial einer Ausbalancierung dieser Gegensätze, möglicherweise sogar einer dialektische Überwindung dieser Dichotomie und infolge davon einer vertieften Form des Engagements.

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