Psychother Psychosom Med Psychol 2007; 57 - A108
DOI: 10.1055/s-2007-970727

Vom Placebo zum Pseudoplacebo

U Wiesing 1, P Enck 2
  • 1Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Tübingen
  • 2Abteilung Innere Medizin VI, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tübingen

Die Medizin hat in den letzten Jahren einen unspektakulären, gleichwohl folgenreichen Wandel vollzogen: Sie ist pragmatischer geworden und hat in diesem Zusammenhang ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen revidiert. Das deutlichste Zeichen dieser Entwicklung ist die evidence based medicine. Bei ihr tritt die Frage, warum eine Therapie wirkt, in den Hintergrund zugunsten einer empirischen Klärung der Frage, ob sie wirkt. Überdies und unabhängig von der evidence based medicine hat sich das Spektrum der therapeutischen Ansätze erweitert: zumindest in der ärztlichen Praxis hat sich eine eklektische Nutzung verschiedener Therapierichtungen durchsetzen können. Unter diesen Prämissen soll die Frage erörtert werden, wie eine Medizin dieser Ausrichtung mit einem ihrer lange bekannten Phänomene umgeht soll: mit dem Placebo-Phänomen. Zu unterscheiden sei hier zwischen der Placebo-Wirkung und der Placebo-Gabe: erstere lässt sich auch in einer an evidence orientierten Medizin nicht eliminieren, und es bliebe zu bedenken, ob sich nicht eine gewisse moralische Pflicht der Ärzte begründen ließe, den unvermeidlichen Placebo-Effekt zu nutzen. Die Placebo-Gabe demgegenüber verschiebt das Problem von der wissenschaftstheoretischen Ebene auf eine praktische Ebene (Information des Patienten/Probanden) mit ethischen Konsequenzen, insbesondere in Bezug auf die Selbstbestimmung des Patienten/Probanden. In diesem Konflikt hat sich in der praktischen Medizin durch den Verzicht auf die bewusste Gabe von „reinen“ Placebos die Tendenz zur Verabreichung wissenschaftliche bemäntelter Pseudoplacebos durchgesetzt, die ihrerseits ethisch zu hinterfragen ist..