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DOI: 10.1055/s-2007-970585
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
„Chronische Krankheit im Sozialgesetzbuch”- Workshop am 30.6.2006 in Lübeck
Workshop on Theme „Chronic Illness in the German Social Code” June 30, 2006 in LübeckPublication History
Publication Date:
21 June 2007 (online)
Am 30. Juni 2006 fand bei der Deutschen Ren-tenversicherung Nord in Lübeck unter der Leitung von Bianca Teichert vom Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa (ISSE) der Christian-Albrechts-Universität Kiel mit Unterstützung des Vereins zur Förderung der Rehabilitationsforschung in Schleswig-Holstein (vffr) und der Deutschen Rentenversicherung Nord (DRV Nord) der zweite Workshop[1] zum Projekt „Chronische Krankheit im Recht der medizinischen Rehabilitation und der gesetzlichen Krankenversicherung” statt.
Dr. Nathalie Glaser-Möller eröffnete den 2. Workshop im Namen des vffr und der DRV Nord. Auch in Zukunft werde der vffr Projekte mit hohem Praxisbezug wie das gegenwärtige fördern. Prof. Dr. Gerhard Igl, geschäftsführender Vorstand des ISSE, führte in seinen Begrüßungsworten aus, es sei wichtig, dass Workshops mit derartigen Themen stattfinden, die in Zeiten der großen Koalition nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. In ihren Einführungsworten warf Teichert die Frage auf, ob die chronische Krankheit im Sozialgesetzbuch ausreichend berücksichtigt werde. Wichtige Grundgedanken hierfür seien, dass erstens der Behinderungsbegriff vom Begriff der chronischen Krankheit differiere und zweitens die Teilhabeleistungen auch zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit erbracht würden.
Im ersten Teil des Workshops ging es um medizinische Rehabilitation und um ihre An-spruchsvoraussetzungen im Einzelnen. Erster Referent war Harry Fuchs (Düsseldorf). Er refe-rierte zum Thema „Die chronische Krankheit im Recht der medizinischen Rehabilitation: Inwieweit werden chronische Kranke nach den geltenden Vorschriften besonders berücksichtigt?”.
Fuchs wies zunächst auf den Unterschied von Leistungen zur Teilhabe und der Akut-/Krankenbehandlung hin: Die unterschiedliche Ziele der Leistungen wirkten sich erheblich auf die unterschiedliche Prozess- und Strukturqualität der Leistungen aus. Teilhabeleistungen hätten zum Ziel, Beeinträchtigungen in der Teilhabe zu beseitigen oder auszugleichen, während bei der Akutbehandlung nur die Wiederherstellung der Gesundheit im Mittelpunkt stehe. Problematisch sei, dass sich in der Praxis dieses Selbstverständnis, welches durch das SGB IX geschaffen wurde, nicht eingestellt habe.
Dann kam Fuchs auf den Begriff der chronischen Krankheit zu sprechen. Das Sozialrecht enthalte keine Legaldefinition. In der Medizin werde meist dann von chronischer Krankheit gesprochen, wenn Krankheit über einen längeren Zeitraum vorliege, wobei die Krankheit kompensatorische Bemühungen erfordere, die meist zu einem hohen Versorgungsbedarf führten. Auch im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung gebe es keine Definition. Aber hier gebe es eine Richtlinie[2] des Gemeinsamen Bundesausschusses, welche in § 2 Abs. 1 den Begriff der Krankheit und in § 2 Abs. 2 den der schwerwiegenden chronischen Krankheit konkretisiere. Danach sei Krankheit ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, der Behandlungsbedürftigkeit zur Folge habe. Nach § 2 Abs. 2 ist schwerwiegend chronisch krank, wer wenigstens ein Jahr lang mindestens einmal pro Quartal ärztlich behandelt wurde (Dauerbehandlung) und bei dem weitere Merkmale bezogen auf den Grad der Pflegebedürftigkeit, den Grad der Behinderung vorliegen oder eine Versorgung zur Vermeidung einer lebensbedrohlichen Verschlimmerung, einer Verminderung der Lebenserwartung oder einer dauerhaften Beeinträchtigung der Lebensqualität erforderlich ist. Daraus schloss Fuchs, dass sich die „normale” chronische Krankheit zwischen beiden Konkretisierungen finden lasse. Für Fuchs ist die Begrifflichkeit weder in der Medizin noch in der gesetzlichen Krankenversicherung praxistauglich geregelt.
Fuchs ging dann auf den Begriff der chronischen Krankheit in §§ 3 und 26 SGB IX ein. Das SGB IX beziehe den Begriff der chronischen Krankheit ausdrücklich in den Behinderungsbegriff mit ein. Über die Vermeidung von chronischer Krankheit solle die Vermeidung von Behinderung erreicht werden. Dies zeige sich auch deutlich daran, dass die medizinische Rehabilitation zum frühestmöglichen Zeitpunkt einsetzen solle, denn es gehe auch darum, die Ursachen von Behinderungen, nämlich chronische Krankheit, zu bekämpfen. Leistungen zur Teilhabe würden im Übrigen für kranke oder chronisch kranke Menschen erst dann möglich, wenn sie die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 SGB IX erfüllten, d. h. entweder behindert oder von einer Behinderung bedroht seien. Für Fuchs ist chronische Krankheit also immer dann in den Behinderungsbegriff einbezogen, wenn eine chronische Krankheit zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt oder eine solche droht.
Allerdings bedeute dies nicht, dass bei der Erbringung von Teilhabeleistungen zwischen chronisch Kranken, die zugleich als behindert i. S. d. § 2 Abs. 1 SGB IX gelten, und jenen, die die Voraussetzungen nicht erfüllen, unterschieden werden müsse. Dies würde die Konvergenz-, Koordinations- und Kooperationsziele des SGB IX konterkarieren. Auch die Rehabilitationsziele in der gesetzlichen Krankenversicherung seien die des § 26 SGB IX. Dies folge aus § 7 Satz 1 SGB IX, wonach die Vorschriften des SGB IX für die Leistungen zur Teilhabe gelten, soweit sich aus den jeweiligen Leistungsgesetzen der Rehabilitationsträger nichts Abweichendes ergibt. Da sich aus dem SGB V nichts Abweichendes ergebe, gälten also die Vorschriften des SGB IX. Außerdem verdeutlichten Querverweise im SGB V, z. B. § 11 Abs. 2 SGB V, dass auch in der Krankenversicherung die Rehabilitationsziele gelten. Dieses ergebe sich zugleich aus § 27 SGB IX.
Sehr problematisch sei, dass § 27 SGB IX und § 2a SGB V bis heute nicht ausreichend in der Krankenversicherung berücksichtigt würden. Sie würden schlichtweg ignoriert. Dabei ließe sich durch eine konsequente Berücksichtigung des SGB IX - also eine frühestmögliche Ausrichtung der Leistungen auf Teilhabedefizite - viel Geld sparen. Denn Zielorientierung der Rehabilitation sei die Erfüllung der Teilhabeziele nach § 4 Abs. 2 Satz 1 SGB IX. Die Ziele für die Krankenbehandlung nach § 27 SGB V gälten ausdrücklich nur noch für die medizinische Rehabilitation von Müttern und Vätern nach § 41 SGB V. Die allgemeine Regelung für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in der Krankenbehandlung (§ 40 SGB V) enthalte aber keine entsprechende Bezugnahme auf § 27 SGB V, so dass über § 11 Abs. 2 SGB V das SGB IX gelte und somit die Ziele nach § 26 SGB IX zu erreichen seien. Nach § 27 SGB IX bestehe eine ausdrückliche Verpflichtung, den individuellen funktionsbezogenen Leistungsbedarf gem. § 10 SGB IX auch bei der Krankenbehandlung festzustellen.
Außerdem gelte bei allen Verfahren, welche in Zusammenhang mit einer Behinderung stehen, die Prüfverpflichtung nach § 8 SGB IX, wonach der Rehabilitationsträger zu prüfen hat, ob Teilhabeleistungen Erfolg versprechend seien. Diese Prüfung des individuellen funktionsbezogenen Leistungsbedarfs müsse der Rehabilitationsträger vornehmen, um dann die jeweilige Leistung in der am besten geeigneten Rehabilitationseinrichtung durchführen zu lassen (§ 17 Abs. 1, § 19 Abs. 4 Satz 1 SGB IX). Solche Einrichtungen seien dabei nur diejenigen, nach deren Struktur- und Prozessqualität die auf Teilhabe orientierten Rehabilitationsziele mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erreicht werden könnten.
Größtes Problem sei allerdings, dass Anträge auf Rehabilitationsleistungen in 80 % der Fälle von den Rehabilitationsträgern rechtswidrig abgelehnt statt rechtskonform verwiesen würden, denn oftmals sei lediglich ein anderer Rehabilitationsträger zuständig. Dies zeige sich zum Beispiel auch bei der Abgrenzung von Vorsorge- zu Rehabilitationsleistungen; auch hier bestehe kein Problem des Rechts, sondern der Rechtsanwendung. Ent-scheidend seien ICF-relevante Assessments für die nach § 10 SGB IX zu treffenden Feststellungen. Das Recht grenze klar ab. Nach § 23 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 SGB V bestehe im Vorfeld von manifesten Krankheiten die Pflicht zur Individualprävention zur Vermeidung von Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 SGB V bestehe des Weiteren die Pflicht zur Vermeidung einer Verschlimmerung einer Krankheit. Davon sei auch die Chronifizierung erfasst.
Zum Schluss wies Fuchs darauf hin, dass auch die neue Begutachtungsrichtlinie „Vorsorge und Rehabilitation” des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen e. V. vom 28.10.2005 das SGB IX nicht operationalisiert habe. Dies zeige sich eindrucksvoll daran, dass das SGB IX lediglich einmal erwähnt werde. So könne man der Pflicht des § 10 SGB IX zur Koordinierung der Leistungen zur Teilhabe nicht genügen. Fuchs sprach ein weiteres Problem an: Pflegebedürftige Menschen seien größtenteils behinderte Menschen. Alle pflegebedürftigen Menschen hätten, soweit § 2 SGB IX erfüllt sei, auch Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe.
Zweiter Referent war Dr. Johann Brunkhorst, Leiter der Landesvertretung Schleswig-Holstein der Techniker Krankenkasse. Er referierte über „Chronische Krankheiten im Kontext des SGB V - Prävention, Akutbehandlung und Rehabilitation”. Brunkhorst legte einführend dar, dass Krankenbehandlung und Rehabilitation nur in der Gesamtschau betrachtet werden könnten. Hierfür gelte der Grundsatz des § 10 SGB IX. Chronische Krankheit sei gesetzlich nicht definiert. Dies sei auch richtig, da medizinischer Fortschritt gesetzlich nicht fassbar sei. So sei vernünftigerweise das Recht zur Definition an den Gemeinsamen Bundesausschuss delegiert worden[3]. Die gefundene Definition in § 2 Abs. 2 der Richtlinie sei gut operationalisierbar. Auch gebe es weitere Konkretisierungen, und zwar in den strukturierten Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke (Disease-Management-Programme, DMP). Nach § 137 f SGB V könnten für geeignete chronische Erkrankungen strukturierte Behandlungsprogramme entwickelt werden, die den Behandlungsablauf und die Qualität der medizinischen Versorgung verbessern. Da mittlerweile für einige Erkrankungen (Diabetes mellitus Typ 1 und 2, Brustkrebs, koronare Herzkrankheit und Asthma bronchiale) solche Programme vorlägen, habe auch hier untergesetzlich eine Konkretisierung des Verständnisses von chronischer Krankheit stattgefunden. Gefordert sei die Behandlung nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft unter Berücksichtigung von evidenzbasierten Leitlinien oder der jeweils besten verfügbaren Evidenz. Bei den DMPs fehle es in der Praxis an der Evaluation. Diese werde aber dringend benötigt. Ziel sei es, die Ver-sorgung chronisch kranker Menschen zu verbessern. An den DMP seien außerdem der Verteilmodus der Gelder aus dem Risikostrukturausgleich und die mangelnde Akzeptanz bei Ärzten und Krankenhäusern problematisch. Die Ärzte fühlten sich gegängelt. Unklar sei auch, inwieweit gesetzliche Standards wirklich realisiert worden seien.
Dann kam Brunkhorst auf die verschiedenen Ebenen: Prävention, Krankenbehandlung und Rehabilitation zu sprechen. Prävention gebe es in drei Stufen, und zwar primäre, sekundäre und tertiäre Prävention. Über die primäre lasse sich oft die Entstehung einer chronischen Krankheit vermeiden oder ihr Eintritt aufschieben. Primäre Prävention bedeute daher, zu verhindern, dass chronische Erkrankungen, verursacht durch Über- und Fehlernährung, Bewegungsmangel, Rauchen und andere Risikofaktoren, auftreten. Die Ansatzpunkte der Primärprävention seien in Schule und Kindergarten, Arbeitsplatz oder sozialem Umfeld („Settings”). Mit diesem Ansatz seien die Krankenkassen schon sehr erfolgreich. Unter sekundärer Prävention seien Vorsorgeleistungen und Früherkennungsmaßnahmen zu verstehen, die das Auftreten bzw. das Ausbrechen einer Krankheit verhindern sollen. Beispielhaft für die Früherkennung von chronischen Erkrankungen seien ärztliche Gesundheitsuntersuchungen wegen koronarer Herzkrankheit und Diabetes und die Früherkennung von Krebserkrankungen. Weitere Screenings zur Früherkennung seien geplant. Tertiäre Prävention meine die Rückfallprophylaxe; dies bedeute, dass nach einer Operation oder einer akuten Erkrankung der Organismus und die Psyche so weit gestärkt werden, dass die Krankheit auf Dauer bewältigt werden könne. Dies werde gemeinhin durch Rehabilitation erreicht, welche durch die Kranken-, Unfall- oder Rentenversicherung durchgeführt werde. Dabei stehe die Bewältigung der chronischen Erkrankung im Vordergrund, also das Leben mit der Krankheit und Beeinträchtigung. Reiche dafür eine ambulante Krankenbehandlung nicht mehr aus, könne die Krankenkasse nach § 40 SGB V Rehabilitationsleistungen erbringen. Die Rehabilitation nach dem SGB V sei weitestgehend die Behandlung von chronischen Erkrankungen.
Danach sprach Brunkhorst die Krankenbehandlung an. Diese sei allgemein in § 27 SGB V definiert und berücksichtige grundsätzlich auch die Belange chronisch Kranker. Dazu biete die integrierte Versorgung nach § 140 a SGB V noch mehr Möglichkeiten für chronisch Kranke, eine disziplin- und fächerübergreifende Versorgung in Anspruch zu nehmen. Dies sei ein wichtiger Ansatzpunkt zur Verbesserung der Versorgung chronisch Kranker. In einem Zwischenfazit stellt Brunkhorst fest, dass es vielfältige Möglichkeiten gebe, die Behandlung chronisch kranker Menschen im Rahmen der Krankenversicherung zu berücksichtigen. Die bestehenden Regelungen für DMP setzten teilweise falsche bzw. kontraproduktive Anreize. Aber es hänge immer auch vom Engagement der jeweiligen Krankenkasse ab, ob sie sich verstärkt -über die jeweilige Regelversorgung hinaus - für die Belange ihrer Mitglieder einsetze. Hiernach sprach Brunkhorst die Rehabilitation und ihre Berücksichtigung der Belange chronisch kranker Menschen an. Probleme im System der Rehabilitation seien dabei, dass die bestehenden Rehabilitationskonzepte zu statisch auf drei Wochen ausgerichtet seien. Hier seien flexible Konzepte, sowohl ambulant als auch stationär, mit längerfristigen Schulungskonzepten und Informationsanteilen erforderlich. Ebenfalls fehle es an einer stärkeren Ausrichtung auf eine nachhaltige Verhaltensänderung. Letztlich kam Brunkhorst zu dem Ergebnis, dass es nach einer juristischen Analyse auf der Anspruchsebene eine ausreichende Berücksichtigung der Belange chronisch kranker Menschen gebe. Der Begriff der Chronizität sei auch juristisch ausreichend definiert worden. Es mangele aber an der Umsetzung in die Praxis und der nötigen Vernetzung auf Basis des § 10 SGB IX.
Der zweite Teil des Workshops stand unter dem Titel „Chronische Krankheit und Pflegebedürftigkeit”. Referent war Prof. Dr. Ingo Heberlein (Hochschule Fulda). Er referierte zur Berücksichtigung der Vorschrift des § 8 Abs. 3 SGB IX in der Praxis und der Frage, ob ein Leistungsanreiz der Rehabilitationsträger für Rehabilitationsleistungen zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit fehle. Heberlein führte aus, dass § 8 SGB IX den allgemeinen Grundsatz statuiere, dass Leistungen zur Rehabilitation vor Rentenleistungen zu erbringen seien. § 8 Abs. 3 SGB IX erweitere diesen Grundsatz auf die Pflegebedürftigkeit. Zu beachten sei, dass Leistungen zur Rehabilitation nicht nur vor Rentenleistungen oder Pflegeleistungen erbracht werden sollen, sondern auch neben solchen Leistungen. § 8 Abs. 3 SGB IX gelte für alle Rehabilitationsträger (§ 6 SGB IX). Aus § 8 SGB IX folgten fünf Dimensionen, in denen Rehabilitation und Pflege aufeinander treffen könnten: Teilhabeleistungen zur Vermeidung von Pflege, Teilhabeleistungen vor Pflege, Teilhabeleistungen bei Pflegebedürftigkeit, Rehabilitation durch Pflege und Pflege als Voraussetzung der Teilhabe.
Bei der Teilhabeleistung zur Vermeidung von Pflegebedürf-tigkeit gehe es um Prävention, den Leistungsumfang und die Frage der leistungsrechtlichen Zuständigkeit. Es bestehe die Verpflichtung der Rehabilitationsträger, die Versicherten aufzuklären, zu beraten und dies auch gegen das eigene fiskalische Interesse. Es müsse begriffen werden, dass bei Rehabilitation im Zusammenhang mit Pflege nicht nur die Krankenkasse Rehabilitationsträger sei. Allen Rehabilitationsträgern komme die umfassende Verpflichtung zu, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden und zu mindern.
Dann kam Heberlein auf die Teilhabeleistungen bei Pflegebedürftigkeit zu sprechen. Liege Pflegebedürftigkeit vor, würden Leistungen aus der Pflegeversicherung bezogen. Aber obwohl die Pflegekassen nicht zu den Rehabilitationsträgern gehörten, gälten für sie ebenfalls die Vorschriften des SGB IX, welche eine Unterversorgung von Pflegebedürftigen verhindern sollen. Der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege” werde auch durch die Begutachtungsvorgaben in der Pflegeversicherung unterstützt: So habe der MDK im Begutachtungsverfahren nach § 18 SGB XI eine Empfehlung zur Rehabilitation abzugeben. Heberlein entnimmt § 18 SGB XI, dass sich aus den Empfehlungen in dem Gutachten durch ein Bündel gesetzlicher Pflichten die Qualität eines Antrags auf Rehabilitationsleistungen ergebe und somit das sozialrechtliche Antragserfordernis für die Erbringung von Leistungen zur Rehabilitation erfüllt sei.
So bedürfe es dann im Sinne von § 18 Abs. 1 Satz 3 SGB XI keiner neuen Begutachtung zur Erbringung von Rehabilitationsleistungen mehr, unabhängig davon, ob es sich um eine Krankenkasse oder um einen anderen Rehabilitationsträger handele. Dem Gutachten für die Pflegeversicherung komme eine Bindungswirkung nicht nur für die Krankenversicherung, sondern für alle Rehabilitationsträger zu. Bei der Begutachtung durch den MDK liege aber das Problem darin, dass nur eine Stunde zur Begutachtung zur Verfügung stünde und dass der Blickwinkel auf die Träger und Verfahren orientiert sei.
Für den Alltag der Pflegebedürftigen seien aber die „kleinen” Leistungen, wie Heil- und Hilfsmittel, viel prägender. Diese würden ohne Durchführung eines Verwaltungsverfahrens erbracht. Hier nehme der Vertragsarzt eine faktische Schlüsselstellung ein. Aber die ärztliche Versorgung in der Langzeitpflege sei prekär. Problematisch sei auch, dass in Zukunft Rehabilitation nur noch von Ärzten mit entsprechender fachlicher Zusatzqualifikation verordnet werden dürfe. Dass diese Frist zur Erlangung der neuen Zusatzqualifikation erneut habe verschoben werden müssen, weil sich bislang nicht genügend Ärzte qualifiziert haben, sei ein Armutszeugnis.
Ein weiteres Problem ergebe sich aus den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Diese seien ursprünglich an einer Steuerung der Leistungserbringer ausgerichtet gewesen. Mittlerweile würden sie aber alle Beteiligten, also auch die Krankenkassen und die Versicherten binden.
Zum Schluss machte Heberlein folgende Vorschläge: die Ausgestaltung der Rehabilitationsleistung als Mussleistung, die Pflegekasse als Rehabilitationsträger, die Übertragung der Rehabili-tationslast für Pflegebedürftige auf die Pflegekassen, damit das Risiko des Gelingens wie auch des Scheiterns in einer Hand liegen, Anpassung der Begrifflichkeiten des SGB XI an das SGB IX, Konzentrationswirkung der Verfahren steigern durch Verbindlichkeit des Gutachtens des MDK und Anpassung der Richtlinien des Gemeinsamen Bundessauschusses an das SGB IX.
Der dritte Teil zum Begriff der chronischen Krankheit wurde durch einen Vortrag von Bianca Teichert eröffnet. Sie referierte zur Frage, ob auch Personen, die von einer chronischen Krankheit bedroht sind, vom Präventionsvorrang des § 3 SGB IX umfasst seien. Maßgeblich für die Antwort, so Teichert, seien §§ 3 und 26 SGB IX. Danach gehöre das Vermeiden des Eintritts einer chronischen Krankheit zu den Zielen des SGB IX. Deutlich werde, dass die Prävention ein Grundprinzip sei. Dies werde auch aus der Gemeinsamen Empfehlung „Prävention nach § 3 SGB IX” der Rehabilitationsträger deutlich, die in § 1 festlege, dass Prävention im Zusammenhang mit allen Leistungen zur Teilhabe zu beachten sei. Allerdings seien laut Teichert die maßgebliche Zielgruppe im SGB IX nach § 1 SGB IX nur die behinderten oder die von Behinderung bedrohten Menschen, nicht aber chronisch Kranke oder von einer Chronifizierung einer Krankheit bedrohte Menschen.
Somit stelle sich die Frage, ob und welche Unterschiede es zwischen den Begrifflichkeiten der drohenden Behinderung und der (drohenden) chronischen Krankheit gebe. Es sei auch fraglich, welche präventiven Ziele und Leistungen gemeint seien, wenn innerhalb des SGB IX von Prävention gesprochen werde. Da nach § 4 SGB IX keine rein präventiven Leistungen von den Leistungen zur Teilhabe umfasst seien, sei Primärprävention nicht Bestandteil der Rehabilitation. Zu den präventiven Zielen des SGB IX gehörten etwa die Maßnahmen nach § 84 Abs. 2 SGB IX (betriebliches Eingliederungsmanagement). Hier zeige sich, dass für die Prävention i. S. d. SGB IX bereits ein Zustand der Arbeitsunfähigkeit, also ein krankheitsbedingter teilhabegefährdender Zustand vorliegen müsste. Ziel der Prävention des SGB IX sei folglich, die Chronifizierung einer bereits bestehenden Krankheit zu verhindern. Entsprechende Leistungen seien Teilhabeleistungen mit einem präventiven Ansatz, welche begrifflich der Tertiärprävention zugeordnet würden. Im Ergebnis bedeute dies, dass erst dann die präventiven Zielsetzungen des SGB IX eingreifen könnten, wenn z. B. bereits ein Rückenleiden bestehe und eine Chronifizierung dieses Leidens drohe. Es sei dann zu fragen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Chronifizierung einzutreten drohe, damit Rechte nach dem SGB IX geltend gemacht werden könnten. Nach § 2 Abs. 2 der Gemeinsamen Empfehlung „Prävention” solle Prävention nach dem Grundsatz der möglichst frühzeitigen Intervention erbracht werden. Konsequenz daraus sei, dass die Rechte nach § 3 SGB IX bereits bei einer verhältnismäßig geringen Wahrscheinlichkeit von drohender Chronifizierung eines Leidens geltend gemacht werden müssten.
Da es nach Teichert nicht eindeutig sei, ob eine Leistung zur Milderung einer Chronifizierung oder zur Verhütung von Behinderung erbracht werde, sei es unklar, wann man von präventiven und wann von rehabilitativen Leistungen nach dem SGB IX sprechen könne. Für Teichert stiftet daher die Verwendung des Wortes Prävention im SGB IX mehr Verwirrung, als einen klärenden Beitrag zu leisten. Im Ergebnis resultiert für Teichert daraus Verbesserungsbedarf: Chronisch Kranke sollten zu einer Zielgruppe des SGB IX werden und ihre Rechte und Ansprüche von vornherein klar festgelegt werden, denn nur auf diesem Wege könne der oftmals bemängelten Unterversorgung chronisch Kranker entgegengewirkt werden.
Nächster Referent war Dr. Michael F. Schuntermann (Deutsche Rentenversicherung Bund) mit dem Thema „Chronische Krankheit und ICF - Welche Brücken gibt es zwischen Krankheits- und Behinderungsbegriff?”. Schuntermann legte dar, dass es keinen allgemein gültigen Krankheitsbegriff gebe. Krankheitsbegriffe seien zeit- und kulturabhängig sowie von der Entwicklung der medizinischen Wissenschaft abhängig. Aber für den korrekten Umgang mit einem Begriff sei dessen explizite Definition auch nicht erforderlich. Der Begriff der chronischen Krankheit sei in erster Linie praktisch. Wie schon die Bezeichnung chronisch zeige, habe diese Klasse von Krankheiten eine ausgeprägte zeitliche Dimension. Kennzeichnend sei auch, dass Intensität und Dauer dieser Krankheiten im Allgemeinen mit Phänomenen einhergehen würden, die jenseits des medizinischen Krankheitsmodells lägen, wie Einschränkungen in den üblichen Aktivitäten oder der Beeinträchtigung von Teilhabe.
Hier setze die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO an. Ausgangslage der ICF sei aber nicht chronische Krankheit, sondern „health condition”. Im Deutschen, so Schuntermann, werde „health condition” mit Gesundheitsproblem umschrieben. Außerdem komme im Deutschen der Begriff der funktionalen Gesundheit hinzu. Die ICF liefere mit ihren vier Klassifikationen die Möglichkeit, den Zustand der funktionalen Gesundheit und damit Ressourcen und Defizite einer Person zu dokumentieren. Die ICF basiere auf dem bio-psycho-sozialen Modell: Danach sei die funktionale Gesundheit einer Person mit einem Gesundheitsproblem (ICD, Internationale Klassifikation der Krankheiten) das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen der Person und ihren Kontextfaktoren auf ihre Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Teilhabe. Mit diesem bio-psycho-sozialen Modell sei ein bedeutender Paradigmenwechsel vollzogen worden. Nun seien funktionale Probleme nicht mehr Attribute einer Person, sondern das negative Ergebnis einer Wechselwirkung, also Relationen.
Dann kam Schuntermann auf den Behinderungsbegriff zu sprechen. Laut Schuntermann sei es zweckmäßig, zwei Behinderungsbegriffe der ICF zu unterscheiden: einen allgemeinen und einen speziellen Behinderungsbegriff. Der allgemeine Behinderungsbegriff sei formal ein Oberbegriff für jede beliebige Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit, etwa ein Strukturschaden, eine Funktionsstörung oder eine Be-einträchtigung der Teilhabe an einem Lebensbereich. Der spezielle Behinderungsbegriff beschränke sich dagegen auf die Betrachtung von Teilhabestörungen, also auf einen Teilaspekt der funktionalen Gesundheit. Dieser spezielle Behinderungsbegriff der ICF bilde auch die Grundlage für den Behinderungsbegriff nach § 2 SGB IX. Das bio-psycho-soziale Modell der ICF könne nach Schuntermann als Brücke zwischen Krankheit und Behinderung dienen. Denn Krankheit sei wesentlicher Bestandteil dieses Modells. Ohne Gesundheitsproblem im Sinne der ICD gebe es keine Behinderung. Allerdings könnten Kontextfaktoren als bestehende Barrieren oder fehlende Förderfaktoren ausschlaggebend für die Behinderung sein.
Problem sei, dass das Konzept der Teilhabe in der ICF nicht eigenständig operationalisierbar sei. Laut Schuntermann können das bio-psycho-soziale Modell und der damit verbundene Paradigmenwechsel Grundlage für die Umsetzung der Konzepte der ICF in der Praxis der Rehabilitation sein. Im Ergebnis systematisiere die ICF rehabilitatives Denken und eröffne insbesondere durch die Einbeziehung von Kontextfaktoren erweiterte Perspektiven für rehabilitatives Handeln.
Dr. Angela Schürmann (Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Neustadt/Heiligenhafen) referierte über die Gesamtversorgung chronischer Krankheiten in der Praxis am Beispiel von chronisch-psychischen Erkrankungen. Schürmann, seit über 25 Jahren als Krankenhauspsychiaterin in psychiatrischen Kliniken tätig, führte eingangs aus, dass es dort vor allem um organische psychische Störungen, Abhängigkeitserkrankungen, Schizophrenie und wahnhafte Störungen, Depression und manisch-depressive Erkrankungen, neurotische Störungen, Verhaltens-auffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren sowie Persönlichkeitsstörungen gehe. Bei Alkoholabhängigkeit, Depression und Schizophrenie handele es sich um Volkskrankheiten. Bei psychischen Erkrankungen komme es häufig zu einer Stigmatisierung, deren Folgen zum Beispiel Selbstwertminderung, soziale Isolation und verminderte Behandlungscompliance seien. Weitere Besonderheiten psychischer Erkrankungen seien, dass die Verlaufsprognose und die Abgrenzung von kurativer Behandlung und Rehabilitation schwieriger sind als in der Somatik. Dies liege daran, dass bei psychischen Erkrankungen eine Vielzahl von Funktionen gestört sein könne, wie z. B. der Antrieb, die emotionale Stabilität oder das Selbstvertrauen.
Es komme hinzu, dass das Versorgungssystem für psychische Störungen unübersichtlich und fragmentiert sei. Außerdem gebe es einen ausgeprägten „Institutionalismus” des Versorgungssystems. Dies zeige schon anschaulich die Vielzahl der Institutionen der Behandlung, Rehabilitation und Betreuung psychisch Kranker, beispielsweise psychiatrisch-psychotherapeutische Kliniken, psychosomatisch-psychotherapeutische Kliniken, Tageskliniken, Institutsambulanzen, Hausarztpraxen, Facharztpraxen, ärztliche Psychotherapeuten, Rehabilitationseinrichtungen, Übergangswohnheime, Werkstätten für behinderte Menschen, Beratungsstellen oder sozialpsychiatrische Dienste.
Zum Schluss sprach Schürmann besondere Probleme der psychischen Erkrankungen am Beispiel der Alkoholabhängigkeit und der Depressionsbehandlung an. Alkoholabhängigkeiten seien praktisch immer chronisch, hätten jedoch extrem unterschiedliche Verläufe. Die beiden Extreme, in denen sie verlaufen könnten, seien einerseits die lebenslange Alkoholabstinenz und andererseits kaum abstinente Phasen mit frühzeitigen körperlichen Komplikationen und einem frühen Tod. Probleme der Depressionsbehandlungen seien, dass die Erkrankung selten rechtzeitig diagnostiziert und oftmals unzureichend behandelt werde und dass das soziale Umfeld/die Familie häufig nicht ausreichend in die Behandlung mit einbezogen werde.
Dr. Wolfgang Heine (Deutsche Gesellschaft für Medizinische Rehabilitation, DEGEMED) befasste sich mit „Case-Management als Alternative zum Disease-Management?”. Er stellte klar, dass der Bedarf chronisch Kranker an Management, also zur Anleitung, Wegweisung und Vernetzung deshalb entstehe, weil sich chronisch Kranke in kein sequentielles Modell von Krankheitsverläufen einordnen ließen. Anstelle des üblichen Phasenmodells der Versorgung werde eine simultane und verzahnte Interventionsform benötigt, die kurative, rehabilitative, präventive und palliative Maßnahmen der jeweils zuständigen Professionen und Experten miteinander verbinde. Chronisch Kranke bräuchten eine integrierte Versorgung auf der Basis definierter Versorgungsziele und -inhalte. Weil chronische Krankheiten nicht heilbar seien, müsse der Kranke lernen, mit seinem Leiden zu leben. Daher komme für chronisch Kranke im Wesentlichen das Instrumentarium der Rehabilitation in Betracht, welches im Behandlungszusammenhang fokussiert und verallgemeinert werden müsse. Hier sei die Rehabilitation mit ihren multiprofessionellen Teams, ihrem ganzheitlichen, bio-psycho-sozialen Ansatz und ihrem synergetischen Handeln das wesentliche Optimierungsfeld für den Umgang mit Chronifizierungen und die Integration der Betroffenen in ihre jeweilige Lebenssphäre. Eine solche auf Dauer ausgerichtete, rehabilitationsgeleitete, integrierte und integrierende Versorgung für chronisch Kranke bezeichnete Heine als „reha-vernetzte Gesundheitssicherung”.
Dabei müsse der Patient als Akteur im Mittelpunkt stehen. Daher bedürfe es eines sektorenübergreifenden, rehabilitationskonformen Fallmanagements, das sich auf Leistungsberechtigte aller Systeme erstrecken müsse. Eine solche integrierte Versorgung gehe über die integrierte Versorgung nach §§ 140 a ff. SGB V weit hinaus. Sie sei eine SGB-IX-konforme, integrierte Versorgung für chronisch erkrankte, von Chronifizierung bedrohte oder behinderte Personen, die dazu beitragen könne, die Aufwendungen der Sicherungssysteme besser zu fokussieren, die Qualität der Versorgung nach definierten Standards zu erhöhen und Integrationsdienstleistungen betroffenenzentriert umzusetzen. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass sich die erforderlichen Leistungssektoren und Leistungserbringer zu Leistungsgemeinschaften zusammenschlössen, die nach gleichen professionellen Auffassungen, Qualitätsstandards und Vergütungsplafonds agierten.
Dem stehe freilich die Versäulung des Gesundheitssicherungs-systems im Wege. Einem Case-Manager komme also die Funktion eines „Entsäulungsmanagers” zu. Das heutige Disease-Management nach dem SGB V leiste diese Funktion nicht, es sie lediglich ein Edukationsprogramm für zu wenig informierte Ärzte. DMPs sollen zwar das Wissensniveau erhöhen und die Versorgungsqualität verbessern, doch Rehabilitation und rehabilitationsspezifisches Wissen treten hier, so Heine, nur in der Form der Appendix-Leistung auf. Schuld daran seien insbesondere die akutlastige Perspektive des Gemeinsamen Bundesauschusses, das blinde Evidenzverständnis der im zuständigen Unterausschuss beteiligten Fachärzte und die Anti-Kollisionshaltung des Verordnungsgebers (also des Bundesgesundheitsministeriums). So lange Patientenführungsprogramme an den Risikostrukturausgleich gekoppelt seien, werde der immer wieder aufbrechende Finanzierungsstreit zwischen den Kassen jedwede sinn- und zweckgerichtete rehabilitative Fundierung der Chronikerprogramme blockieren.
Natürlich sei Case-Management auch Disease-Management. Es sei jedoch zu bedenken, dass der chronisch Kranke selbst der Manager seiner eigenen Befindlichkeit ist. Hier müsse Case-Management einsetzen: mit seinen Betreuungs-, Frühwarn-, Hindernisbeseitigungs-, Antragserleichterungs-, Finanzierungsermöglichungs-, Vernetzungs-, Supervisions- und Monitoringfunktionen. Nach Heine sind dies alles Funktionen, die idealiter die gemeinsamen Servicestellen nach § 22 SGB IX hätten übernehmen können, doch seien die Servicestellen viel zu sehr auf die Rehabilitation fixiert und hätten Versorgungszusammenhänge nicht im Blick. Zwar schulten einzelne Sicherungszweige Case-Manager, doch würden diese nicht in dem oben genannten Sinne übergreifend tätig. Für leistungssektoren- und trägerübergreifende Case-Manager sei ferner zu fragen, wer die Kosten für sie tragen solle; hierfür bedürfe es, schon aus verfassungsrechtlichen Gründen, einer Ko-Finanzierungsregelung für die Leistungsträger im Dritten (Zusammenarbeits-)Kapitel des SGB X.
Im Ergebnis bedürften chronisch Kranke gesetzlich verankerter und institutionalisierter „Kümmereragenturen”. Das Normbeispiel dafür sei nach Heine bereits mit dem betrieblichen Integrationsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX vorhanden, bei dem der Arbeitgeber die Kümmerer- und Case-Management-Finanzierungs-Funktion innehabe. Nach Heine bräuchte dieses Normbeispiel lediglich verallgemeinert und verbreitert zu werden.
Dann referierte PD Dr. Felix Welti (Universität Kiel) zum Erfordernis einer Vereinheitlichung der Begrifflichkeiten innerhalb des Sozialgesetzbuchs. Einführend legte Welti dar, dass chronische Krankheit erst seit 2001 im SGB IX bei den Zielen der medizinischen Rehabilitation und der Prävention sowie seit 2003 und 2004 im SGB V bei den strukturierten Behandlungsprogrammen und bei den Patienten- und Selbsthilfeorganisationen erwähnt werde. Chronische Krankheit ergänze seitdem die sozialrechtlichen Begriffe Krankheit, Behinderung, Erwerbsminderung und Pflegebedürftigkeit. Ihr Verhältnis zu den Leistungen, vor allem Vorsorge und Prävention, Krankenbehandlung und medizinische Rehabilitation, müsse bestimmt werden. § 2 a SGB V und § 137 f SGB V zeigten, dass chronische Krankheit als Sonderfall von Krankheit gelte, der bislang zu wenig beachtet wurde. § 2 a SGB V stelle ein Berücksichtigungsgebot dar. Schaue man aber danach, wo die Mehrheit des Behandlungs- und Geldaufwands im System liegt, so werde deutlich, dass chronische Krankheit eher Regelfall sei, an dem sich zumindest erhebliche Teile des Systems orientieren müssten.
Sinnvoll wäre es, Krankenbehandlung insgesamt darauf auszurichten, dass Krankheiten heute oft chronisch seien oder chronisch würden. Chronisch Kranke sollten nicht mehr wie in § 2 a SGB V als feststehende Gruppe betrachtet werden und strukturierte Behandlungsprogramme nach § 137 f SGB V nicht mehr die Ausnahme bleiben, sondern zum Regelfall der gesundheitlichen Versorgung werden. Welti schätzt es als wenig zielführend ein, scharf zwischen chronisch Kranken und „normal” Kranken zu differenzieren. Genau dies sei aber durch die Verkoppelung der strukturierten Behandlungsprogramme mit dem Risikostrukturausgleich angelegt.
Chronische Krankheit müsse ebenso wie Behinderung nur als eine andere Art verstanden werden, auf die Gesundheitsprobleme aller Menschen zu schauen. Die Formulierung „Behinderung einschließlich chronischer Krankheit” in §§ 3 und 26 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX müsse als Regelvermutung verstanden werden: Wer chronisch krank sei, sei regelmäßig von Behinderung bedroht. Die Last der chronischen Krankheit drohe sich als Behinderung auszuprägen - dies könne auch umgekehrt sein, z. B. bei psychischen Krankheiten, bei denen die aus einer Behinderung folgende soziale Last Risikofaktor für die Chronifizierung einer Krankheit sein könne. Rehabilitation sei also die Behandlung der chronischen Krankheit. Chronische Krankheit benötige medizinische Rehabilitation als eine Interventionsform, die soziale Kontextfaktoren systematisch mit einbeziehe und nicht nur Heilung und Linderung der Gesundheitsstörung, sondern auch Teilhabe trotz Krankheit anstrebe. Vom leistungsrechtlichen Anspruch legitimierten §§ 3 und 26 SGB IX ein frühzeitiges Einsetzen der medizinischen Rehabilitation.
Gesundheitspolitisch zeigten die Normen den berechtigten Anspruch der medizinischen Rehabilitation, als zentraler Sektor wahrgenommen zu werden. Normiert sei dieser expansive An-spruch bereits in § 27 SGB IX, er werde jedoch bislang völlig ignoriert. Konsequenz des § 27 SGB IX müsste sein, dass mit jeder einzelnen Leistung, die nach dem SGB V außerhalb von medizinischer Rehabilitation erbracht werde, Behinderung einschließlich chronischer Krankheit abzuwenden sei. Aber auch in Deutschland, wo der Buchstabe des Gesetzes viel zähle, seien, so Welti, die Behördenroutine und finanzielle Anreize mächtiger als der Wortlaut.
Nicht nur im SGB IX werde chronische Krankheit im Kontext von Prävention gesehen. Dies zeige auch das in der letzten Wahlperiode beratene Präventionsgesetz. Prävention und Rehabilitation seien nicht an zwei unterschiedlichen Enden eines Systems anzusiedeln. So hätten beispielsweise beide oft die gleichen Leistungserbringer, die nach dem Gesetz (§ 107 Abs. 2 SGB V) unterschiedliche Ziele mit einem gleichen Leistungsspektrum erreichen sollen. Prävention, so könne festgehalten werden, beschränke sich sicher nicht auf chronische Krankheiten, ihr Schwerpunkt sei aber dort zu setzen.
So könne ein Gesetzgeber, der gleichzeitig meine, mehr für Rehabilitation, mehr für chronisch Kranke und mehr für Prävention tun zu müssen, aber nicht erkenne, dass es oft um die gleichen Menschen gehe, erheblichen Schaden anrichten, wenn mit neuen Normen auch neue Abgrenzungen in Finanzierung und Behandlung einhergingen. Diese Befürchtung werde dadurch gestützt, dass inzwischen wieder verschiedene Ministerien und Ausschüsse im Deutschen Bundestag für diese Materien zuständig seien.
Trotzdem seien Definitionen und Abgrenzungen notwendiges Handwerkszeug des Rechts. Für chronische Krankheit und ihre typischen Folgen stehe fest, dass sie weniger in den bisherigen Begriffen und Institutionen des Gesundheitswesens bewältigt werden können als vielmehr durch einen integrativen Ansatz. Es gehe um ein einheitliches Verständnis der Gefahren und Störungen, denen die Gesundheit von Menschen ausgesetzt sei, im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuchs. Normen alleine könnten das nicht bewirken, wie das Schicksal von § 2a SGB V und § 27 SGB IX belege. Diese Normen müssten, so Welti, durch Verfahren, Anreize und Vergütungen unterlegt werden.
Zu überdenken sei auch, wie die Verantwortlichkeit für chronisch Kranke gegenwärtig organisiert sei. Für die medizinische Rehabilitation sei bei erwerbsfähigen chronisch Kranken zumeist die Rentenversicherung, für die Krankenbehandlung einschließlich möglicher strukturierter Behandlungsprogramme die Krankenkasse zuständig. Damit seien für den Zugang zur Rehabilitation eher Bruch- als Nahtstellen vorhanden. Auch der Kassenwettbewerb sei nach wie vor Wettbewerb um gute Risiken - und damit einer gegen das Interesse chronisch kranker Menschen. Der Geist des Wettbewerbs wäre, so Welti, besser aufgehoben im Wettbewerb der Leistungserbringer um die beste integrierte Versorgung chronisch kranker Menschen. Eine angemessene Versorgung chronisch Kranker könne nur dann stattfinden, wenn weder Kassen noch Leistungserbringer Risikoselektion betreiben würden. Dies zu bewirken, schloss Welti, wäre etwas Anderes als das, was heute als Gesundheitsreform daherkommt; gespart werden könne bei einer solchen Reform auch mehr.
Letzter Referent des Tages war Dr. Hartmut Haines (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Referatsleiter für Prävention, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) zum Thema „Die chronische Krankheit innerhalb der Normen des SGB IX”. Das SGB IX fasse das Recht der Rehabilitation zusammen. Es sei im Bereich der Sozialpolitik die Umsetzung des Benachteiligungsverbotes aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Zentrales Feld für den Umgang des SGB mit chronischen Krankheiten sei und bleibe das SGB V. Zielgruppe des SGB IX seien im Kern behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen im Sinne des § 2 SGB IX. Dies könnten auch Menschen mit chronischen Erkrankungen sein. Im Gesetzesschaffungsprozess sei es abgelehnt worden, chronisch Kranke explizit als eigenständige Zielgruppe mit aufzunehmen. Dafür würden sie aber in den §§ 3 und 26 SGB IX explizit angesprochen. Weitergehende Forderungen zu Leistungen wegen chronischer Krankheit seien im Gesetzgebungsverfahren zwar gestellt, aber im Ergebnis abgelehnt worden. Nach Haines könnten sie daher auch nicht nachträglich in das geltende Recht hineininterpretiert werden. Angesprochen seien chronische Krankheiten in §§ 3 und 26 SGB IX deshalb, weil in Prävention und mit Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nicht erst drohenden Behinderungen, sondern bereits chronischen Krankheiten als Vorstufe zu anschließend möglichen Behinderungen entgegengewirkt werden solle. Damit müsse die Frage, ob auf diese Weise innerhalb des SGB IX überhaupt eine ausreichende Berücksichtigung chronischer Krankheiten erreicht wurde, verneint werden.
Dies sei aber auch nicht Ziel der zum SGB IX bisher getroffenen politischen Entscheidungen gewesen. Wünschenswert sei eine stärkere Aktivierung des § 27 SGB IX mit dem Ziel, auch chronisch kranke Menschen in die Ziele Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe (§ 1 SGB IX) einzubeziehen. Auch § 11 Abs. 1 SGB IX und seine Vorläuferregelungen schreiben - in der Sache seit über 30 Jahren kaum verändert - vor, gleichzeitig mit der Einleitung medizinischer Leistungen und auch während ihrer Ausführung zu prüfen, ob nicht durch Veränderungen im beruflichen Umfeld die Erwerbsfähigkeit behinderter und von Behinderung bedrohter Versicherter erhalten, gebessert oder wiederhergestellt werden könne. So eröffne § 11 Abs. 2 SGB IX ein weiteres konkretes Arbeitsfeld, falls während medizinischer Leistungen erkennbar werde, dass der bisherige Arbeitsplatz gefährdet sei. Je früher der zuständige Rehabilitationsträger wisse, dass Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich sind, desto früher könne er sie einleiten und so versuchen, Erwerbsminderung abzuwenden. Eine weitere Aktivierung könne die Erkenntnis sein, dass auch alle Leistungen der Krankenversicherung budgetfähig seien (§ 2 Abs. 2 Satz 2 SGB V).
Abschließend kam Haines auf § 84 Abs. 2 SGB IX zu sprechen, wonach alle Arbeitgeber und weitere Beteiligte verpflichtet sind, mit betrieblichem Eingliederungsmanagement gerade auch bei chronischen Krankheiten für frühzeitige und sachgerechte Intervention zu sorgen. Dies ziele darauf ab, den Interventionszeitpunkt noch weiter vorzuverlegen, als dies innerhalb des Sozial-leistungssystems selbst üblich oder möglich sei, und dabei auch einer Chronifizierung von Krankheiten entgegenzuwirken, wo immer dies möglich sei. Nach Haines würden damit im Interesse einer individuell möglichst umfassenden Teilhabe die „medizinkritischen” Ansätze des SGB IX konsequent ausgebaut.
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass es unterschiedliche Meinungen zu der Frage gibt, ob die chronische Krankheit ausreichend im SGB berücksichtigt wurde. Ein großer Teil ist sich jedoch einig darin, dass noch mehr getan werden muss, um die bereits vorhandenen Normen in der Praxis umzusetzen. Auch eine neuerliche Gesundheitsreform muss sich mehr mit den Belangen chronisch Kranker auseinander setzen.
1 Tagungsbericht zum ersten Workshop siehe SGb 2005, S. 610-612 und 671-672.
2 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Definition schwerwiegender chronischer Krankheiten im Sinne des § 62 SGB V.
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