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DOI: 10.1055/s-2007-963676
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Fehlentwicklung bei der Versorgung von Schwerst- und Todkranken: Pflegeheim lässt Wachkomapatientin lebend mumifizieren
Publication History
Publication Date:
26 October 2007 (online)
Der Münchner Merkur berichtete in seiner Ausgabe vom 22.8.2006 über den Fall einer 75-jährigen Wachkomapatientin, die von einem Caritas-Pflegeheim entgegen der gemeinsamen Anordnung des Rechtlichen Betreuers (gesetzlicher Vertreter) und des Arztes künstlich ernährt wurde.
Die Reportage des Münchner Merkurs „Wachkoma-Patientin lebend mumifiziert - Heim verweigert Ernährungs-Einstellung” ist im Internet auffindbar unter
http://www.merkur-online.de/nachrichten/vermischtes/blickpkt/art281,702812.html.
Die Familie und der Arzt sowie die Ärzte des örtlichen Krankenhauses waren Ende 2005 übereingekommen, die Frau an ihrer Gehirnschädigung sterben zu lassen, nachdem die Beine begannen, abzusterben und zu mumifizieren. Eine Amputation war nach den Gesamtumständen des Falles kontraindiziert (unvertretbar aus ärztlicher Sicht). Ebenso war die weitere lebenserhaltende Therapie kontraindiziert. Doch das Pflegeheim setzte sich über all diese Erwägungen hinweg. Heimleitung und Pflegekräfte sowie die zuständige höchste Stelle der Caritas in der Diözese Augsburg beriefen sich auf eigene Wertvorstellungen und auf die Tatsache, dass die Pflegekräfte zu der Frau eine starke Beziehung aufgebaut hätten.
Nachdem rechts der Unterschenkel bis zum Knie steinhart mumifiziert war und sowohl Kniescheibe als auch Patellasehne schon offen lagen und ebenfalls am linken Fuß die Mumifizierung fortschritt, schaltete die Familie der Wachkomapatientin die Anwaltskanzlei Putz & Steldinger, München, ein. Da das Pflegeheim sich weiterhin weigerte, ein natürliches Sterben der Frau zuzulassen, erfolgte auf Veranlassung der Anwaltskanzlei sofort die Verlegung in das örtliche Kreiskrankenhaus, wo die Frau innerhalb von fünf Tagen friedlich versterben konnte, nachdem die künstliche Lebensverlängerung über die Magensonde eingestellt worden war.
Die Anwaltskanzlei Putz & Steldinger beurteilt das Verhalten der zuständigen Mitarbeiter im Kreiskrankenhaus in einer Erklärung vom 22.8.2006 wie folgt: „Dem Kreiskrankenhaus gebührt Respekt und Anerkennung für diesen menschlichen Akt, der ein zeitraubendes gerichtliches Verfahren gegen das Pflegeheim ersparte, währenddessen die Komakranke weiter zwangsernährt worden wäre.”
Der Fall mache, so die Anwaltskanzlei weiter, eine Fehlentwicklung bei der Versorgung von Schwerst- und Todkranken augenscheinlich: Bei der Fokussierung auf den Patientenwillen sei zunehmend der Blick verloren gegangen, dass für jede ärztliche Behandlung zunächst eine Indikation gegeben sein muss. Nach dem deutschen Medizinrecht bedürfe jede ärztliche Behandlung zu ihrer Rechtfertigung einer ärztlichen Indikation und eines entsprechenden Patientenwillens. Fehle es an einer Indikation, so dürfe schon deshalb nicht weiterbehandelt werden; die Frage nach dem Patientenwillen stelle sich dann nicht mehr.
Der Arzt im Kreiskrankenhaus, der korrekt das Sterben der Patientin zuließ, formulierte: „Was mit dieser Frau passiert, kann kein Mensch wollen.” Damit habe er korrekt die Vorgabe durch die höchstrichterliche Rechtsprechung getroffen (so genanntes Kemptener Urteil vom 13.9.1994), wonach eine lebensverlängernde Behandlung jedenfalls dann eingestellt werden muss, wenn dies nach allgemeinen Wertvorstellungen geboten ist. Der Bundesgerichtshof habe in den Jahren 2003 und 2005 diese Rechtsprechung verfestigt, wonach Ärzte nicht mehr behandeln dürfen, wenn die Weiterbehandlung „keinen Sinn” mehr macht.
Die medizinrechtliche Sozietät der Rechtsanwälte Putz & Steldinger sieht eine gefährliche Entwicklung aufgrund der an sich gebotenen Fokussierung auf Patientenverfügung und mutmaßlichen Patientenwillen. Immer häufiger erlebt die Kanzlei, dass der Blick für die Indikation verloren geht.
Abb. 1 Foto: Boris Forstner
Werner Schell
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