Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2007; 12: 1-2
DOI: 10.1055/s-2007-963121
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Konsens oder Purismus? - die deutsche Arzneimittelversorgung von morgen

R. Rychlik1
  • 1Institut für Empirische Gesundheitsökonomie
Further Information

Publication History

Publication Date:
20 April 2007 (online)

Im deutschen Gesundheitswesen stehen Ausgaben für Arzneimittel an zweiter Stelle nach den Krankenhausausgaben. Grund genug für den Gesetzgeber, mit einer nicht enden wollenden Flut von Regulierungen eine Kostendämpfung zu erreichen.

Seit 1. April komplettiert das Wettbewerbs-Stärkungsgesetz das Arsenal der Maßnahmen mit Kosten-Nutzen-Bewertungen. Bereits vorher wurden Nutzenbewertungen von einem eigenständigen privatwirtschaftlichen Institut als quasi Behörde durchgeführt: Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) führte die ökonomische Betrachtung von vornherein im Namen, so wundert es eigentlich nicht, dass offenbar ab 2008 auch die Wirtschaftlichkeit mit überprüft wird.

Dabei richtet sich das Institut nach einem selbst gewählten „Methodenpapier”, seit dem 19.12.2006 in der Version 2.0 erhältlich, einer Art SOP (Standard Operating Procedure), die eigentlich niemanden aufregte, weil so recht keiner wusste, was Nutzen ist - außer dem IQWiG.

Mit der Einführung von Kosten-Nutzen-Bewertungen ist jedoch alles anders. Kosten-Nutzen-Bewertungen sind essentieller Bestandteil der Gesundheitsökonomie seit etwa dem 18. Jahrhundert, als Laplace seine Wahrscheinlichkeitstheoreme entwickelte. Die Übertragung der ökonomischen Theorie auf Arzneimittel beschäftigt die sog. Pharmakoökonomie mit einer internationalen Dachgesellschaft, der ISPOR. Die „International Society of Pharmacoeconomics and Outcomes Research” verkörpert den Standard in der Welt, der eigentlich in fast jedem Lehrbuch zur Pharmakoökonomie nachzulesen ist, nicht jedoch im Methodenpapier des IQWiG.

Statt sich auf Lehrbuchwissen zu verlassen - immerhin ist das IQWiG keine Universität und verfügt auch sonst nicht über einschlägige Expertise in der Pharmakoökonomie - pochte das IQWiG auf „passende” Exzerpte des internationalen Standards.

Grund genug für eine Intervention der deutschen Gesundheitsökonomen, die der Gesetzgeber immerhin umsetzte: Er verpflichtete das IQWiG, Methoden und Kriterien für die Bewertung auftragsbezogen nach internationalen Standards festzulegen.

Da das IQWiG den „internationalen Standard” nicht in seinem Methodenpapier vorlegte, war es längst überfällig, diesen einmal zusammenhängend und auf Deutschland angewendet darzustellen.

Der Hannoveraner Gesundheitsökonom Matthias Graf von der Schulenburg stellt in diesem Supplement in Kooperation mit Wolfgang Greiner, Christoph Vauth und Thomas Mittendorf eine Gegenposition zum Methodenpapier des IQWiG vor: „Methoden zur Ermittlung von Kosten-Nutzen-Relationen für Arzneimittel in Deutschland”. Das Gutachten ist im Auftrag des VFA erstellt worden, vertritt aber keine einseitige Industrieperspektive, sondern den wissenschaftlichen Stand 2007.

Klar stellt v. d. Schulenburg fest: „… sind internationale Standards der Gesundheitsökonomie nicht die Summe allen dessen, was in anderen Gesundheitssystemen an Methoden angewandt wird, sondern vielmehr die methodischen Konzepte, die von Seiten der internationalen gesundheitsökonomischen Forschung auf Basis der allgemeinen Wirtschaftstheorie entwickelt wurden, um derartige Bewertungen vornehmen zu können.”

Mithin: es bleibt nicht jedem selber überlassen, wie er seine gesundheitsökonomische Evaluation durchführt, sondern es gibt quasi-verbindliche Standards.

Dabei kann es durchaus sein, dass diese nicht jedem geläufig sind, bzw. verstanden und vor allem akzeptiert werden. Darüber hinaus ist Wissenschaft immer im Fluss und bisweilen gibt es auch konträre Vorstellungen.

Allein deshalb ist es wichtig zu diskutieren, sich auszutauschen und letztlich auch einen Konsens herbeizuführen. Der ist vielleicht vorläufig, möglicherweise sogar falsch, aber er bildet Vertrauen, Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit - vor allem aber Fairness. Eigenschaften, die wir auch dringend in unserer Gesellschaft brauchen. Auch in der deutschen Gesellschaft ist Gesundheit ein gesellschaftliches Thema (s. Rauchen). Deshalb muss auch die Behandlung mit Arzneimitteln ein gesellschaftliches Thema sein und allein deshalb muss bei einer solchen Bewertung auch eine gesellschaftliche Perspektive eingenommen werden. Sie ist umso wichtiger, weil sie die Lebensqualität neben der reinen Verlängerung des Lebens berücksichtigt. Beides wird gleichrangig in der zukünftigen Altersgesellschaft von Bedeutung sein.

Dies muss auch den Kassen wichtig sein, wie auch von der Schulenburg feststellt: „… da die gesetzlichen Krankenkassen zum einen als Körperschaften öffentlichen Rechts dem öffentlichen Auftrag und dem öffentlichen, d. h. gesamtgesellschaftlichen Interesse verpflichtet sind. Zum anderen legitimiert der zunehmende Anteil der Finanzierung durch Steuermittel die Priorität der gesellschaftlichen bzw. gesamtwirtschaftlichen Perspektive…”.

Hierzu dürfte auch noch einmal der Gesetzgeber gefordert sein, weil der zugehörige Wert Kosten pro QALY einer gesundheitspolitischen Entscheidung bedarf. Wie von der Schulenburg richtig feststellt, kann diese Definition nicht Aufgabe des IQWiG sein, sondern müsste von Seiten des GBA oder des BMG vorgegeben werden. Möglicherweise wird sogar das Parlament beschäftigt werden müssen.

Unklar ist indes, was an schon vorliegenden Daten verwendet werden darf und von wem. Hier dürfte die bisherige puristische Haltung des IQWiG wenig „Nutzen” stiften. So werden Krankenkassendaten mittlerweile durchaus adäquat aufbereitet und können bei bestimmten Überlegungen durchaus hilfreich sein; und auch nicht jeder Experte in Deutschland der schon mal für die Industrie gearbeitet hat, kann als unwissenschaftlich oder unseriös abqualifiziert werden. Fast jede deutsche Universität lebt von Drittmitteln.

Wie also kann es zu einem besseren Verständnis und sinnvollen Austausch über die deutsche Arzneimittelversorgung von morgen kommen?

Auch hierzu schlägt von der Schulenburg ein bereits bekanntes Instrument vor: Scoping Work-Shops.

In der Tat ist Verfahrenstransparenz von elementarer Wichtigkeit, war Gesundheitsökonomie doch schon immer schwierig zu kommunizieren. Deshalb ist der Konsens wichtiger als jede noch so vertretbare Polarisierung. Konsens kann aber nur erreicht werden, wenn man sich vor Beginn des eigentlichen Bewertungsverfahrens zusammensetzt und gemeinsame Kriterien sowie Verbindlichkeit schafft.

Hierzu leisten von der Schulenburg und der VFA einen ersten Beitrag, dem sich die Zeitschrift „Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement” und der Thieme Verlag gerne als Forum zur Verfügung stellen.

Ich bitte deshalb alle Kollegen und Interessierten auf diesem Wege um Zuschriften and den Verlag, damit eine rege Diskussion um dieses zukünftig wichtige Aufgabenfeld im deutschen Gesundheitswesen in Gang kommt.

Bitte adressieren Sie Ihre Leserbriefe an:

Georg Thieme Verlag
Redaktion „Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement”
Rüdigerstraße 14
70469 Stuttgart

Ich freue mich auf Ihre Kommentare und einen erfrischenden Diskurs.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr

Reinhard Rychlik

Prof. Dr. Dr. med. Reinhard Rychlik

Institut für Empirische Gesundheitsökonomie

Am Ziegelfeld 28

51399 Burscheid