Geburtshilfe Frauenheilkd 1991; 51(6): 415-430
DOI: 10.1055/s-2007-1026172
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Welcher Nutzen und welcher Schaden kann von Screening- und Routineuntersuchungen erwartet werden und von deren Unterlassung?*

Benefit and Harm to be Expected from Screening and Routine Tests or Their OmissionE. Kuss1 , M. Tryba2 , R. Kürzl1 , K. Ulsenheimer3
  • 1I. Frauenklinik der Universität München,
  • 2Universitätsklinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerztherapie, Bochum,
  • 3Rechtsanwaltskanzlei, München
* Ergebnis der Arbeitsgemeinschaft Klinische Chemie und Biochemie in Frauenkliniken, Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, 48. Kongreß, Hamburg 11.09.1990
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
17. Juni 2008 (online)

Zusammenfassung

Die Frage nach dem Nutzen und Schaden von Screening- und Routineuntersuchungen und von deren Unterlassung wird in vier Abschnitten beantwortet. Im ersten Abschnitt werden die Methoden beschrieben, mit denen der Erkenntniswert medizinischer Untersuchungen geschätzt werden kann. Es werden die Begriffe diagnostische Sensitivität, diagnostische Spezifität einer Untersuchung sowie Prätest- und Posttest-Wahrscheinlichkeit einer Diagnose definiert. Anschließend wird dargestellt, wie die Begriffsinhalte voneinander abhängen und wie deren numerische Werte errechnet werden können (“Bayes-Theorem”). Im zweiten und dritten Abschnitt wird unter Berücksichtigung der oben genannten Zusammenhänge der Wert präoperativer Routineuntersuchung aus anästhesiologischer Sicht erörtert, aus gynäkologischer Sicht außerdem auch der Wert anderer Screeningund auch Nachsorge-Untersuchungen. Präoperative Laboratoriumsuntersuchungen sind dann, aber auch nur dann notwendig, wenn sorgfältige Erhebung der Anamnese und sorgfältige körperliche Untersuchung Hinweise auf Organschäden und Risikofaktoren ergeben. Der Nutzen klinisch-chemischer Screening- und Nachsorge Routineuntersuchungen, deren Durchführung Frauenärzten empfohlen wird, ist gering. Dies ist, wie belegt wird, zum einen die Folge des hohen Anteils „gesunder“ Frauen unter den Patientinnen der Frauenärzte, zum anderen die Folge der Tatsache, daß im Rahmen der gynäkologischen Onkologie die Behandlung eines frühzeitig erkannten Rezidivs nicht nachweislich erfolgreicher ist als die eines später entdeckten. Im vierten Abschnitt wird schließlich ausgeführt, daß keine nachteiligen forensischen Folgen zu erwarten sind, wenn diagnostische Untersuchungen wegen nachweislich geringem Erkenntniswert unterlassen werden. Wird ein einschlägiges Rechtsverfahren eröffnet, dann muß der medizinische Sachverständige den Erkenntniswert der eingeklagten Untersuchung objektiv aus der Sicht ex-ante bestimmen; hierzu dienen die im ersten Abschnitt besprochenen Rechenverfahren. Unter Berufung auf die Judikatur von vornherein „aus Sicherheitsgründen“ Diagnostik zu betreiben, aus der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit keine therapeutischen Konsequenzen ergeben, ist nicht gerechtfertigt; die fehlende medizinische Indikation darf nicht durch eine „forensische Indikation“ ersetzt werden. Diagnostische Untersuchungen wegen mangelnder Erfolgswahrscheinlichkeit zu unterlassen, bleibt nicht nur ohne nachteilige forensische Folge, sondern ist aus ärztlichen, wirtschaftlichen und ethischen Gründen geboten.

Abstract

Benefit and harm of screening and routine tests or their omission are dealt with in four parts. In the first part methods are described to evaluate the diagnostic value of medical testing. The concepts of diagnostic sensitivity, diagnostic specificity, and pre- and posttest probability of a diagnosis are defined. It is then shown how these concepts intercorrelate and how their numerical values can be calculated (“Bayes' theorem”). In consideration of the above mentioned intercorrelations, the second and third parts deal with the diagnostic value of preoperative routine tests from an anaesthesiological viewpoint, and the diagnostic value of other Screening and follow-up tests is discussed from a gynaecological point of view. Pre-operative laboratory tests are necessary, and necessary only then, if careful evaluation of patient history and physical examination reveal pathological findings or risk factors. The benefits from regulär lab-screening tests and follow-up tests, as recommended to the gynaecologists, are low. This is due to the large share of “healthy” women among the gynaecological patients, as well as the fact that treatment of early detected recurrences shows no demonstrable advantage over treatment of later detected recurrences. In the fourth part, we show that no adverse forensic consequences are to be expected if diagnostic tests are omitted because of demonstrably low diagnostic value. In case of legal procedures against the physician, a medical expert will have to evaluate the diagnostic value of the omitted test objectively from an “ex-ante” point of view, using the methods defined in the first part. To safeguard oneself against possible legal procedures does not justify diagnostic measures that hardly have therapeutic consequences; missing medical indication must not be replaced by “forensic indication”. Omission of diagnostic tosts that have no diagnostic value, therefore, not only remains without forensic consequences, but is even mandatory for medical, economical and ethical reasons.