Psychiatr Prax 2008; 35(1): 49-50
DOI: 10.1055/s-2007-1022677
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T. C. Boyle - "Talk Talk" und was man als Psychiater noch über Identitätsdiebstahl wissen sollte

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24 January 2008 (online)

 

T. C. Boyle ist einer jener Autoren, die aus einem dampfenden Teekessel einen Geysir machen können und wenige Zeilen später mit anatomischer Genauigkeit und in aller Ruhe einen Gefühlszustand sezieren. Überwog zuletzt in der Hippie-Saga "Drop City" das Ungestüme und in "The inner circle", einer biografisch angenäherten Prosa über den Sexualwissenschaftler Alfred C. Kinsey, die langsame Erzählkunst, findet man diesmal beides, eng nebeneinander, fast fühlbar unangenehm. Es ist die Geschichte von Dana, der gehörlosen Lehrerin und Peck Wilson, dissozial, impulsgestört, kriminell. Beide haben es auf ihre Weise geschafft mit ihren Defiziten zu leben, man kann sogar sagen, das Beste daraus zu machen. Mit der Anstellung an einer Gehörlosenschule und der Beziehung zu dem Computerspiel-Designer Bridger hat sich die sehr kontrollierte und ehrgeizige Dana eine weitgehende Selbstständigkeit erarbeitet. Peck Wilson, bereits mehrmals verurteilt, lebt auf großem Fuß, seitdem er den Identitätsdiebstahl als smarte Methode der Geldbeschaffung für sich entdeckt hat - die Finger können sich andere schmutzig machen. Was aber bisher reibungslos und ohne Spuren zu hinterlassen funktioniert hat, gerät in eine Schieflage, als Peck Wilson Danas Identität annimmt. Dana heftet sich mithilfe ihres Freundes Bridger an seine Fersen und nimmt den Kampf um ihre Identität auf.

Man könnte dieses Buch allein um des Hedonismus willen als spannenden Thriller lesen. Für Psychiater ist es auch wegen der ausdrucksstarken Schilderung der Gefühlswelten der Hauptpersonen eine empfehlenswerte Lektüre. Die innere Anspannung von Peck Wilson, die angestaute Aggression vor den impulshaften Ausbrüchen und das völlig fehlende Schuldbewusstsein bieten ICD-10-Kriterien entsprechender Diagnosen in beeindruckender Prosa.

Noch instruktiver ist aber das Phänomen des Identitätsdiebstahls, das Boyle aufgreift. Denn als aus Peck Wilson Dana wird, ahnt sie noch nicht, dass jemand sich ihrer Identität bemächtigt hat, dass die eindeutige Unterscheidbarkeit ihrer eigenen von einer anderen Person verloren gegangen ist.

Was hierzulande noch wenig Beachtung findet, ist in den Vereinigten Staaten als "identity theft" [1] ein Massenphänomen. Die Federal Trade Commission (FTC) [2] schätzt, dass etwa 10 Millionen Amerikanern jährlich ihre Identität gestohlen wird. Der volkswirtschaftliche Schaden wird mit 50 bis 60 Milliarden US-Dollar beziffert, wobei diese Daten aus dem Jahr 2003 stammen und möglicherweise nicht das gesamte Ausmaß darstellen [3].

Es gibt mehrere Möglichkeiten eine Identität zu stehlen: Beim sogenannten "Dumpster Diving" wird der Müllcontainer nach Rechnungen und anderen Papieren durchsucht, aus denen persönliche Informationen zu erhalten sind. "Skimming", wörtlich übersetzt "Abschöpfen", meint das Stehlen der Kreditkartennummer während einer Prozessierung über eine spezielle Speichereinheit. "Phishing", was keiner Übersetzung bedarf, ist das Vortäuschen eine Bank oder Firma zu sein und über Spams oder Pop-ups persönliche Daten zu erhalten. Daneben gibt es natürlich auch die "konventionellen" Methoden, also den direkten Diebstahl von Kreditkarten oder Briefen und diverse andere Betrügereien. Fakt ist aber, dass vor allem durch neue Technologien, allen voran das Internet, diese Delikte massiv zugenommen haben. Die Bedeutung der neuen Medien und technischen Möglichkeiten und ihre Auswirkung auf Privatsphäre und Identität sind verständlicherweise auch aus psychiatrischer Sicht von Interesse [4].

Abseits davon, dass alleine der Identitätsbegriff einer, den Rahmen sprengenden, Diskussion bedürfte, wissen wir aus dem Bereich der Psychopathologie, wie essenziell die Ich-Identität ist. Auch in Anlehnung an die Definition nach Goffman, dass Identität für ein Individuum "das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt" ist, zeigt sich das Vernichtungspotenzial eines Identitätsverlustes. Da es sich zumindest objektiv nicht um einen vollständigen Identitätsverlust handelt, sind die Folgen des kriminell motivierten Identitätsdiebstahls zwar vor allem monetärer Art. Subjektiv erscheint dieser Akt trotz allem wesentlich bedrohlicher, die eigene Existenz angreifend. Auch ist es mit dem Ausgleich möglicher finanzieller Verluste, was einen erheblichen Aufwand erfordert, nicht getan. Neben den direkten finanziellen Schäden wird die Kreditwürdigkeit gemindert.

Damit sind natürlich nicht nur psychisch Kranke konfrontiert. Dass diese aber eine besondere Risikogruppe darstellen, zeigt sich in zwei aktuell veröffentlichten Fallberichten [5]. Die Autoren berichten über zwei gemeindepsychiatrisch betreute Patienten.

Der eine Patient mit der Diagnose einer schizoaffektiven Störung beherbergte für längere Zeit seinen Sohn und die Schwiegertochter. Der Sohn habe nichts zur Miete beigesteuert, sich aber durch den Kauf eines neuen TV-Gerätes und anderer Dinge an den Kosten "beteiligt". Nachdem die beiden Gäste kurzfristig ausgezogen waren, fiel dem Case Manager auf, dass der Sohn des Patienten dessen Sozialversicherungsnummer verwendet hatte, um eine Kreditkarte zu erwerben. Insgesamt entstanden Kosten von etwa 10 000 US-Dollar. Mithilfe des Case Managers erstellte der Patient einen Bericht für die Polizei, erhielt Einsicht in seine Kreditunterlagen und schrieb zahlreiche Briefe an die Geldinstitute. Dieser Prozess sei sehr aufwendig und nicht beendet. Außerdem komme es weiterhin vor, dass versucht werde, mit der Sozialversicherungsnummer neue Konten zu eröffnen. Aktuell sei die Kreditwürdigkeit des Patienten so schlecht, dass er nicht in ein staatlich unterstütztes Wohnraumprogramm aufgenommen werden konnte, nachdem er seine bisherige Wohnung kurzfristig verlassen musste.

Im anderen Fall wird eine Patientin geschildert, die während eines Klinikaufenthaltes einen Mann kennenlernte, der sie nach ihrer Entlassung aufsuchte. Für die weiteren vier Tage habe sie nach dem Trinken eines Tees, den ihr der Bekannte mitgebracht hatte, keine Erinnerung mehr. Allerdings war sie danach mit diesem Bekannten rechtskräftig verheiratet, woraufhin dieser mit seiner Schwester in das Haus der Patientin zog und dieses mit neuen Krediten belastete. Es entstanden Kosten von rund 50 000 US-Dollar, die an einer bipolaren Störung mit psychotischen Symptomen erkrankte Patientin erlitt eine erneute Episode. Über Monate war sie von ihrem "Ehemann" daran gehindert worden, einen Arzt aufzusuchen und mit der Außenwelt zu kommunizieren. Während eines Hawaii-Aufenthaltes des "Ehemannes" gelang es ihr, ärztliche Hilfe aufzusuchen und schließlich auch Kontakt mit der Polizei aufzunehmen. Zwischenzeitlich war auf ihren Namen eine weitere Luxuslimousine in Hawaii gekauft worden. Wenngleich der Täter nach Vollzug der Scheidung verurteilt wurde, ist die Patientin weiterhin mit den finanziellen Verlusten und der zusätzlichen Traumatisierung durch das Vorgefallene konfrontiert.

Die Autoren dieser Fallberichte weisen ausdrücklich daraufhin, dass psychisch Kranke möglicherweise verstärkt Gefahr laufen, Opfer eines solchen Betrugs zu werden. Die Gründe hierfür seien vielfältig. Und auch für die Zeit nach einer solchen Tat sei die besondere Belastung für psychisch Kranke hervorzuheben. Allein die zusätzliche Traumatisierung bei geringer ausgeprägten Copingstrategien und die komplexe emotionale Reaktion könnten zu einer Verschlechterung der vorhandenen psychischen Erkrankung führen. Eine Studie aus dem Jahr 2004 bestätigt letztere Annahmen bei psychisch gesunden Opfern von Identitätsdiebstahl. Es zeigte sich ein Anstieg sowohl maladaptiver psychischer Reaktionen als auch somatischer Symptome [6].

"Talk Talk" ist ein lesenswertes Buch, welches das bisher im deutschen Sprachraum wenig beachtete Phänomen des Identitätsdiebstahls fokussiert. Während es in den USA eine Reihe auch offizieller Websites gibt, die Informationen zur Prävention und zum Vorgehen liefern, nach dem man Opfer einer solchen Tat geworden ist, sind es in Deutschland meist Fallberichte aus der Nachrichten- und Regenbogenpresse, die sich mit dem Thema beschäftigen. Im Umkehrschluss heißt das sicher nicht, dass das Problem in Deutschland nur ein geringes ist. Neben der Schädigung, die unsere finanziell häufig vorher schon schlecht gestellten Patienten erfahren, ist es auch die Traumatisierung durch diesen perfiden Betrug, die es notwendig macht, dass Psychiater und andere in der Behandlung psychisch Kranker Tätige die Problematik kennen, um möglicherweise auch präventiv tätig werden zu können.

Raoul Borbé, Weissenau

Email: raoul.borbe@zfp-weissenau.de

Literatur

  • 01 Identity Theft Resource Center: www.idtheftcenter.org
  • 02 Federal Trade Commission. Fighting Against Identity Theft. www.ftc.gov/bcp/edu/microsites/idtheft/
  • 03 Harte A . Identity Theft: Making the Known Unknowns Known.  Harvard Journal of Law and Technology. 2007;  21
  • 04 Harte A . Psychiatry and Technology - Privacy and identity in a changing world.  Australasian Psychiatry. 2004;  12 (1) 55-57
  • 05 Klopp J . Konrad S . Yanofski J . Everett A . Identity theft in community mental health patients: two case reports.  Psychiatry. 2007;  4 41-46
  • 06 Sharp T . Shreve-Neiger A . Fremouw W . Kane J . Hutton S . Exploring the psychological and somatic impact of identity theft.  J Forensic Sci. 2004;  49 131-136
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