Suchttherapie 2006; 7 - S4
DOI: 10.1055/s-2006-959116

Adultes Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom und süchtiges Verhalten

J Eysell 1
  • 1Praxis, Pforzheim

Während AD(H)S im Alter von 6–10 Jahren bei ca. 3–12% der Schulkinder diagnostiziert werden kann, liegt die Prävalenz bei Erwachsenen zwischen 2–6%. Es müssen die Kernsymptome Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität vorliegen. Hyperaktivität komplettiert die früher geforderte Symptomentrias. Sie kann beim unaufmerksamen Typus gänzlich fehlen. Im Kindesalter möglicherweise vorliegende körperliche Hyperaktivität bildet sich bei ca. 60% der Erwachsenen zurück. Eine zunehmende Anzahl von Veröffentlichungen der Verhaltensforschung und der Molekulargenetik zeigen auf, dass es sich bei AD(H)S um ein multifaktorielles, sowohl vererbtes, als auch um ein erworbenes Erkrankungsbild handelt. Als Komorbiditäten sind z.B. bei adulten AD(H)S-Patienten Depression mit einer Prävalenz von 13–42%, Angstörungen mit 8,3% und Störung des Sozialverhaltens mit 21% zu nennen. Von Substanzgebrauch in Pubertät und im jungen Erwachsenenalter berichten 35–71% aller adulten AD(H)S-Patienten.

Diese Arbeit gibt einen aktuellen Überblick über auffällige Verhaltensweisen und süchtigen Substanzgebrauch. Es wird Pathologisches Spielen und Wetten bei erwachsenen Patienten mit und ohne AD(H)S dargestellt und auf vergleichende Neuroimaging-Studien hingewiesen, die Symptomenkomplexe beider Erkrankungen beschreiben. Auch wird über die Beobachtungen von Hyperaktivität und Impulsivität bei Essstörungen (Bulimie und Anorexia nervosa) von Patienten mit und ohne ADHS berichtet und ein möglicher Bezug zu AD(H)S dargestellt. Es wird von Studien berichtet, die sich mit dem Missbrauch rezeptierter Stimulantien der AD(H)S-Therapie befassen. Im Rahmen der Darstellung der Zusammenhänge des Konsums von Nikotin, Alkohol, THC, Kokain und Heroin wird einerseits die Bedeutung von kindlichem ADHS und von adultem AD(H)S auf den Verlauf der Suchtkrankheit hingewiesen, andererseits die teilweise dünne Datenlage aufgearbeitet. Verglichen werden Studien von Methylphenidattherapien bei Kokain- und Opiatabhängigen AD(H)S-Patienten: z.B. wurden 41 kokainabhängige AD(H)S-Patienten 10 Wochen zusätzlich mit Methylphenidat behandelt, mit dem Ergebnis, dass bei den komplianten Patienten sich die AD(H)S-Symptome besserten und 37% auf Kokain abstinent waren. Bei einem doppelblinden Vergleich zwischen Methylphenidat, Buprion und Placebo einer anderen Studie konnten bei 98 methadonbehandelten Patienten mit AD(H)S, die zu 53% kokainabhängig waren, keine signifikanten Unterschiede der Therapien erkannt werden. Die immer noch anhaltende, jedoch in der Literatur nicht beschriebene Befürchtung, die zusätzliche Stimulanzientherapie von Drogenabhängigen mit AD(H)S könne den Substanzkonsum erhöhen und die Therapie gefährden, wurde widerlegt. Bei eigenen therapeutischen Heilversuchen mit Methylphenidat bei 7 von 17 methadonsubstituierten Opiatabhängigen mit AD(H)S-Symptomen im Erwachsenenalter konnte im Gegensatz zu o. g. Studie eine deutliche Verbesserung der Qualität der ambulanten Suchttherapie verzeichnet werden: Therapieabsprachen, -ziele wurden besser formuliert, eingehalten und umgesetzt. Die Abnahme von Beikonsum bis Beikonsumfreiheit, sogar eine qualifizierte ambulante Entgiftung und Beendigung der Methadonsubstitution ohne Rückfall über 12 Monate (urin- und ivkontrolliert), sowie dreimalige Aufnahme und Erhalt eines Arbeitsverhältnisses konnten beobachtet werden im Vergleich zu den 10 nicht methylphenidatbehandelten Opiatabhängigen mit AD(H)S.

Abschließend einen Zeitraum von 1979 bis 2006 zusammenfassend, zeigen retrospektive und prospektive Untersuchungen über Stimulantientherapie, dass generell die Gabe, deren Dosis, sowie die Dauer der Gabe von Stimulantien in Kindheit und im Jugendalter den Drogenkonsum und die Gefahr der Entwicklung psychiatrischer Krankheiten im Erwachsenenalter nicht fördert. Vielmehr ist eine bis zu 85 prozentige Risikoreduktion von Substanzmissbrauch durch Stimulantientherapie bei kindlichen, jugendlichen und erwachsenen AD(H)S-Patienten zu beobachten. Hinweise zeigen, dass erwachsene Suchtpatienten mit AD(H)S von einer zusätzlichen AD(H)S-Therapie profitieren können. Weitere Studien müssen aufzeigen, wie erwachsene Suchtpatienten mit adultem AD(H)S effizientere und individuellere Therapieoptionen und Angebote umsetzen können.