Psychiatr Prax 2006; 33(8): 407-408
DOI: 10.1055/s-2006-956990
Fortbildung und Diskussion
Leserbriefe
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Zu dem Beitrag "Brauchen wir die Psychiatrie noch als eigenständiges Fach?" von Gerald Ulrich in Heft 6/2006

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Publication Date:
27 November 2006 (online)

Gerald Ulrich plädiert in seinem Editorial leidenschaftlich dafür, dass die Psychiatrie sehr wohl weiterhin als eigenständiges Fach benötigt werde. Das werden vermutlich die meisten psychiatrisch tätigen Kollegen so sehen (zumindest diejenigen, die diese Zeitschrift lesen). Seine Argumente stehen jedoch auf ausgesprochen schwachen Füßen. Dabei gibt es durchaus sehr gute Gründe gegen eine Umetikettierung in eine aus dem amerikanischen Mode-Sprachgebrauch entlehnte "klinische Neurowissenschaft". Auch wenn er es nicht explizit so benennt, geht Ulrich von einem leib-seelischen Dualismus aus, aus dem er eine separate Sphäre des Psychischen folgert, für welche die Zuständigkeit einer (psychosozialen) Psychiatrie benötigt werde. Dieser Argumentationslinie entlang teilt er ein in "Psychiatrie-Forscher", die für "die universitäre Psychiatrie" stehen, welche die Person des Patienten aus dem Gesichtsfeld verloren haben und "den Patienten im Namen des szientistischen Objektivitätspostulats auf sein Hirn" reduzieren sowie andererseits, im Gegensatz zu den diesen, die "Psychiatrie-Ärzte", für die "die hilfsbedürftige Person mit ihren konkreten Lebensproblemen im Zentrum" stehe. Die Theorie eines Leib-Seele-Dualismus ist jedoch auf Grund der heute bekannten wissenschaftlichen Tatsachen nicht mehr haltbar und holzschnittartige Lagerbildungen in die Guten und die Bösen haben sich mit großer Regelmäßigkeit als ungeeignet erwiesen, die Wirklichkeit angemessen zu charakterisieren. Gerade diese ist nun wirklich so alt wie die Psychiatrie selbst und von allen Seiten reichlich abgegriffen, falsch darüber hinaus. Ulrichs mit empörtem Unterton vorgetragene Schlussfolgerung, dass die Arzt-Patient-Kommunikation dann letztlich die Kommunikation zweier Gehirne sei, ist nicht szientistisch, sondern wissenschaftlich unbestreitbar richtig. Was aber folgt daraus für die Psychiatrie und ihren Gegenstand? Theoretisch eine der weiteren Kränkungen seit der Aufgabe des geozentrischen Weltbildes, praktisch nahezu nichts. Um es mit einer Alltagsanalogie zu erläutern: Wenn ich einem Kollegen eine E-mail schreibe, ist dieser Vorgang zweifellos eindeutig definiert durch ein bestimmtes, hochspezifisches Muster von Stromflüssen in Halbleitern, Platinen etc. und wäre ohne dieses nicht existent (insofern ein Monismus). Es wäre wohl sogar prinzipiell möglich, diesen Vorgang als komplexe Abfolge von elektrischen Prozessen vollständig zu beschreiben. Es macht nur keinen Sinn, weil es - im Gegensatz zu dem innerhalb der Software (die die menschliche "Software" Sprache zusätzlich benutzt) entwickelten komplexen System von kommunikablen Bedeutungseinheiten nicht verständlich ist. Es wäre offensichtlich absurd, aus der subtilen Kenntnis von Hardware-Prozessen zu schließen, dass die Befassung mit der Software entbehrlich sei. Mit analoger Begründung ist die Existenzberechtigung eines Fachs Psychiatrie (und Psychotherapie) auch nicht auf die hartnäckige Verteidigung eines nicht mehr haltbaren Leib-Seele-Dualismus angewiesen.

Ein weiterer Grund, warum Psychiatrie weiterhin als eigenständiges Fach benötigt wird, ist die große Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Zweifellos hat die Hirnforschung gerade im letzten Jahrzehnt eine Vielzahl interessanter Resultate hervorgebracht. Tatsächlich haben diese aber bis heute praktisch keinen Einfluss auf sowohl die Psychotherapie als auch die Psychopharmakotherapie. Eine Psychotherapie wird nicht besser, wenn der Therapeut Vorstellungen von der Funktion der Amygdala hat und eine gute Psychopharmakotherapie bedarf nicht zwingend der Kenntnis von Rezeptorenprofilen, sondern speist sich aus klinischer Erfahrung und den Erkenntnissen aus klinisch-wissenschaftlichen Studien. Selbst in der Diagnostik ist der Beitrag bildgebender Verfahren oder genetischer Typisierungen in der weit überwiegenden Mehrzahl der klinischen Fälle bis heute verschwindend gering. Vor diesem Hintergrund erscheint die Selbstetikettierung als "klinische Neurowissenschaft" eher als wichtigtuerisch denn als eine angemessene Bezeichnung der Realität. Und wenn es denn der einst tatsächlich so kommen sollte, dass mit spezifischen diagnostischen Methoden bereits ex ante festgestellt werden könnte, welche Psychotherapie Aussicht auf Erfolg hat und welches Psychopharmakon wirksam sein wird? Es gibt immerhin klinische Disziplinen, bei denen bereits eine wesentlich weitergehende Nähe zwischen Theorie und Praxis erreicht ist. Onkologen richten sich in ihren Therapien tatsächlich stark nach den Befunden und Typisierungen, die sie aus der Pathologie erhalten (und, nebenbei bemerkt, niemand beklagt deswegen, dass der Patient dabei auf seine biologischen Aspekte reduziert werde). Allerdings sind Onkologen immer noch Internisten und es wurden bis jetzt keine ernstzunehmenden Bestrebungen bekannt, sich in "klinische Histopathologen" umzubenennen. Die Gründe dafür sind offensichtlich nicht theoretischer, sondern pragmatischer Natur. Was nun die Psychiatrie anbetrifft, wird es wohl bei einer - wünschenswerten - weiteren Ausdifferenzierung diagnostischer Methoden eher immer weniger der Fall sein, dass dieselben Personen gleichermaßen kompetent in speziellen psychotherapeutischen Verfahren, klinischer Psychopharmakologie und subtiler Hirndiagnostik sind. Eher ist eine Erweiterung und Vervollständigung der Neuroradiologie in Richtung einer breiteren "Neurodiagnostik" vorstellbar als dass die Kenntnisse der Therapie obsolet würden. Schon heute haben wir allerdings die Erkenntnis, dass Psychiatrie, Neurologie und psychotherapeutische/psychosomatische Medizin jeweils zumeist durch komplexe Umweltfaktoren ausgelöste Störungen desselben Organs behandeln und dass es zwischen diesen Fächern keine natürlichen Grenzen gibt. Die Frage wird also eher sein, wie diese Grenzen künftig gezogen werden und ob es dabei sinnvollere Lösungen gibt als wir sie heute haben.

Prof. Dr. med. Tilman Steinert, Weissenau