Psychiatr Prax 2006; 33(8): 405
DOI: 10.1055/s-2006-956987
Fortbildung und Diskussion
Buchhinweise
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Literatur und Medizin

Further Information

Publication History

Publication Date:
27 November 2006 (online)

 

Gibt es einen Grund Literatur zu lesen? Brauchen wir einen Grund für diese Freizeitbeschäftigung? Allan Beveridge führte vor einiger Zeit im British Medical Journal eine Reihe von Gründen dafür auf [1], über deren Geschäftsbilanz Gerhard Köpf sich amüsiert. Er bemerkt ironisch, dass es auch heutzutage Psychiater geben solle, die darin einen Wert sähen. Wenn David Lodge in "Thinks" [2] den Staffellauf zwischen einem Neurophysiologen und einer Schriftstellerin zugunsten der schreibenden Künste ausgehen lasse, sei das Befangenheit. Und da Beveridge versäumt habe, in seiner Liste der Gründe für die Lektüre von Prosa anzufügen, was denn Psychiater lesen sollten, legt er die ICD-10 literarisch vor. Darin finden wir zu allen zehn F-Gruppen der ICD-10 mindestens einen, wenn nicht gar eine Fülle von Auszügen aus lesenswerter Prosa. Zur besseren Orientierung ist dem Literaturauszug eine Einführung über den Autor vorangestellt, und ein Kommentar im Anschluss sorgt dafür, dass wir die Bezüge zur psychiatrischen Diagnose nicht falsch einordnen. Für psychiatrische Laien ist den Diagnosegruppen eine Einführung von Hans-Jürgen Möller vorangestellt. Psychiatrische wie literarische Laien können sich hier auf ihrem defizitären Feld bilden oder neugierig machen aufs Weiterlesen, vorausgesetzt sie stören sich nicht an der Ordnung von Literatur nach der ICD-10 oder begreifen sie - auch - als Ironie.

Man könne die Menschen dieser Welt danach unterscheiden, ob sie lesen oder nicht lesen, heißt es, wobei mit Lesen keine Pflichtlektüre gemeint ist. Die Gründe fürs Lesen bleiben vielfältig. Wo, wenn nicht hier zerfließen die Übergänge zwischen beruflicher und privater Welt, zwischen Bildung und Unterhaltung, zwischen Zerstreuung und Konzentration, zwischen Ablenkung und Fokussierung, zwischen Anregung, Erregung, Kontemplation und Versenkung, zwischen Weltzuwendung und Rückzug. Während der Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie verengt sich regelmäßig der Blick auf die Pathologien menschlichen Daseins. Das ist womöglich nicht vermeidbar. Peinlich wird es, wenn die Verengung sich nicht wieder auflöst. Wo, wenn nicht in der Literatur eröffnet sich ein weiter Blick auf die Varianten menschlichen Daseins, die wir zumeist nur in einer unserer Lebenswelten verorten - der beruflichen oder der privaten. Was uns in der einen als interessant, faszinierend, skurril, außergewöhnlich erscheint, imponiert in der anderen als pathologisch. Literatur ist in der Lage die Vieldeutigkeit menschlicher Verhaltensweisen, die Facettenvielfalt von Denken, Erleben, Empfinden und Handeln vor Augen zu führen, in der einen wie in der anderen Richtung. Literatur muss sich nicht festlegen, nicht kategorisieren. Das macht ihren Reichtum aus, aber auch den Grund, warum wir sie zuweilen meiden: Sie stört unsere mühsam aufgestellte Ordnung. Sie stellt sie in Frage: Haben wir nicht selbst manchmal die eine Phantasie, das andere Bedürfnis, den einen Impuls, den anderen Tagtraum, das eine Symptom, die andere Verhaltensweise an uns entdeckt? Literatur konfrontiert uns in heilsamer Weise mit den Übergängen, die wir in unserem beruflichen Alltag so sorgsam vermeiden. "Der Patient ist der mit der Krankheit", heißt eine der Regeln im "House of God" [3]. Dass das nicht immer so einfach ist, und auf welche Weise wir uns diesen Übergängen annähern können, zeigt uns die Literatur, zu der das Lexikon "Literatur und Medizin" als Ergänzung zur "ICD-10 literarisch" einführt. Fachbegriffe (z.B. Affekte, AIDS, Schizophrenie, Syphilis) wie Worte des alltäglichen Gebrauchs (z.B. Körper, Tod, Leichnam, Sprache, Wahn) werden in ihrer medizinischen Bedeutung kurz erläutert, bevor ihre kulturelle und wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung vorgestellt wird und auf fachliche wie literarische Werke verwiesen, die sich mit der Thematik auseinandergesetzt haben oder sie literarisch verarbeiten. Die einzelnen Artikel enthalten viele Verweise auf andere Stichworte. Sie schließen mit Quellenangaben zu grundlegenden Monografien. Den Stichworten ist ein Personen- und ein Werkregister angefügt. Man kann das Lexikon als Nachschlagewerk nutzen, aber auch einfach von Stichwort zu Verweis, und von Verweis zu Stichwort lesen, in den genannten Quellenangaben blättern und zwischen den Welten wandern, ohne sich in disziplinären Zäunen zu verfangen. Brauchen wir einen Grund zu lesen?

Dr. med. Ulrike Hoffmann-Richter, Luzern

Köpf G. ICD-10 literarisch. Ein Lesebuch für die Psychiatrie. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag, 2006

Jagow B von, Steger F. Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2005

Literatur

  • 01 Beveridge A . Should the Psychiatrist read fiction?.  Brit J Psychiatry. 2003;  182 385-387
  • 02 Lodge D . Thinks. London: Random, 2001. 
  • 03 Shem S . The House of God. London: Transworld, 1978.