Der Klinikarzt 2006; 35(10): 395
DOI: 10.1055/s-2006-956243
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Medizin den Medizinern!

M. Leschke
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Publication Date:
02 November 2006 (online)

Ich bin nicht der Ansicht, dass alles so bleiben soll, wie es bisher war. Die Zeiten entwickeln sich weiter. Unser Gesundheitssystem ist aus dem Ruder gelaufen: Die Ausgaben sind explodiert, die Einnahmen dramatisch gesunken - und das wird sich so fortsetzen. Die Therapieversuche unserer Gesundheitspolitiker gleichen einer Panikreaktion, deren hektisch zusammengeflickte Notprogramme den Niedergang nur weiter beschleunigen. Lassen Sie mich ein beliebiges Beispiel nehmen. Da wird mit staatlichen Fördergeldern ein Gipsersatzsystem entwickelt, doch dann vom IKK-Bundesverband, der die Hilfsmittelverzeichnisnummern vergibt, jahrelang behindert, weil für dieses höchst innovative Produkt bislang keine Kategorie vorgesehen ist. Erst eine Klage vor Gericht hat die Aufnahme in den Hilfsmittelkatalog erzwungen.

Wenn sich an dieser Situation nichts Grundlegendes ändert, drohen unserem Gesundheitssystem Zusammenbruch und Chaos und die vielbeschworene Zweiklassenmedizin würde dramatische Wirklichkeit werden. Jeder von uns könnte seinen Beitrag zu einer Wende leisten, doch fast alle warten nur auf den einen, der dies zuerst in die Hand nimmt. Also müssen unsere Politiker ans Werk. Die als Jahrhundertreform gehandelte Gesundheitsreform ist jedoch nichts anderes als eine neue Umverteilung der Kosten. Alles wird teurer, Kassenbeiträge werden steigen, die Mehrwertsteuer folgt. Die Marktmacht der Industrie und ihrer Verbände, veraltete Strukturen der staatlichen Aufsicht und Selbstverwaltung bleiben unangetastet. „Transparency International” rechnet uns vor, dass dem deutschen Gesundheitswesen jährlich bis zu 24 Milliarden Euro durch Manipulation verloren gehen. Die Pharmaindustrie, dies ist kein Geheimnis, manipuliert Studien und besticht Mediziner. Ärzte und Apotheker rechnen fingierte Leistungen ab. Aufsichtsbehörden versagen aus Bequemlichkeit und selbstsicherer Ignoranz.

Neue Spielregeln machen also durchaus Sinn, um mit knapper werdenden Ressourcen effizienter umzugehen. Doch was im Grunde sinnvoll ist, zwängen wir Deutsche ziemlich rasch in ein zu starres und wenig praxistaugliches Korsett. Praktikable Empfehlungen mutieren über Nacht zu Gesetzeswerken, die jede Eigeninitiative erwürgen. Unser Gesundheitssystem leidet an einer systematischen Überformalisierung.

Statt Medizin zu machen, werfen wir Ärzte uns in Praxen und Kliniken immer leidenschaftlicher auf Verwaltungsaufgaben und das Management. Hauptsache, die Öffentlichkeit nimmt unser „Image” gebührend wahr, der Umsatz steigt, der Cash flow gestaltet sich akzeptabler und die Banker im Hintergrund begeistern sich am aufgebesserten Rating.

Sicher: Wettbewerb muss auch in unserem Terrain Fuß fassen. Doch mir wäre lieber, wir würden gemeinsam eine neue Kultur des Medizinbetriebs entwickeln, die zuerst einmal der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit verpflichtet ist. Über sinnvolle Organisationsstrukturen oder darüber, wie wir mit unseren Ressourcen pfleglicher umgehen können, muss man reden. Überlassen wir Ärzte die Entwicklung aber ganz den Betriebswirten, werden wir irgendwann zur Gesundheitsindustrie und das wirtschaftlich Uninteressante fällt dann rasch unter den Tisch.

Werfen wir also unser ärztliches Wissen und Gewissen mit in die Waagschale und überlassen die Ökonomie nicht nur den Ökonomen! Im Görlitz gibt es ein Klinikum, das sich als Geschäftsführer dieses Jahr keinen Betriebswirt, sondern mit Prof. E. Paditz einen renommierten Pädiater gewählt hat. Ich glaube, dass dieser Mann seine Ärzte ganz anders für die Zukunft unseres Gesundheitssystems sensibilisieren und motivieren kann als manch anderer, der das ärztliche Geschäft nur aus zweiter Hand kennt. Einen herzlichen Glückwunsch nach Görlitz!

Prof. Dr. M. Leschke

Esslingen