PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(1): 85-86
DOI: 10.1055/s-2006-951997
Resümee
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Stationäre Psychotherapie: effektiv und notwendig!

Volker  Köllner, Henning  Schauenburg, Wolfgang  Senf
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Publication Date:
13 March 2007 (online)

„Irgendeinmal wird das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen, dass der Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfeleistungen hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische. (…) Dann werden also Anstalten oder Ordinationsinstitute errichtet werden, an denen psychoanalytisch ausgebildete Ärzte angestellt sind, um die Männer, die sich sonst dem Trunk ergeben würden, und die Frauen, die unter der Last der Entsagungen zusammenzubrechen drohen, die Kinder, denen nur die Wahl zwischen Verwilderung und Neurose besteht, durch Analyse widerstands- und leistungsfähig zu erhalten. (…) Diese Behandlungen werden unentgeltliche sein. (…) Dann wird sich für uns die Aufgabe ergeben, unsere Techniken den neuen Bedingungen anzupassen. (…) Wir werden auch sehr wahrscheinlich genötigt sein, in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren.”

Sigmund Freud (GW XII, S. 192) bewies mit diesen Bemerkungen in seinem Aufsatz „Wege der psychoanalytischen Therapie” große Weitsicht. Die stationäre Psychotherapie war und ist wegbereitend für die gesamte Entwicklung der Psychotherapie eben durch die Aufgabe, unser psychotherapeutisches Tun jeweils neuen Bedingungen anzupassen. Die Klinik ist der psychotherapeutische Experimentierraum, in dem psychotherapeutischer Fortschritt erzeugt wurde und wird, und zwar dadurch, dass verschiedenste Berufsgruppen mit unterschiedlichsten theoretischen und klinischen Perspektiven kooperativ miteinander und nicht kompetitiv gegeneinander arbeiten. Das macht dieses Heft mit seiner Vielfalt offenkundig. Gleichzeitig wird klar, dass die stationäre Psychotherapie auch umstritten ist, es zu Reibungen kommt. Vielleicht ist das Einzigartige an der stationären Psychotherapie gerade diese Tatsache, dass sie immer auch umstritten war und ist, oder positiver ausgedrückt: Stationäre Psychotherapie ist Psychotherapie im Dialog. Wir denken, dass die Entwicklung der Psychotherapie in der Klinik in Deutschland sehr zu der inzwischen großen Annäherung zwischen den verschiedenen psychotherapeutischen Schulen beigetragen hat, durch Methodentransparenz, die Gelegenheit zur Kombination von Methoden und Verfahren und schließlich durch deren Integration.

Das zeigen die einzelnen Beiträge in diesem Heft, die für sich stehen und deshalb nicht weiter kommentiert werden müssen. Wir wollen stattdessen einen Vertreter der verhaltenstherapeutischen Perspektive, Volker Köllner, und der psychoanalytischen Perspektive, Henning Schauenburg, fragen, was sie aus ihrer Sicht bei der von Freud angemahnten „Legierung” - und Freud würde heute mindestens die Verhaltenstherapie und die Psychoanalyse legieren wollen! - einbringen möchten.

Welche zentralen Elemente Ihrer theoretischen Perspektive sind auch für die anderen Ansätze sinnvoll und hilfreich?

Volker Köllner: Für mich stehen hier drei Aspekte im Vordergrund: Die kognitive Verhaltenstherapie hat eine lange Tradition darin, störungsspezifische Therapiekonzepte zu entwickeln und zu evaluieren. Hier hatten v. a. die Rehabilitationskliniken eine Vorreiterrolle, da sie groß genug sind, um mehrere störungsspezifische Konzepte gleichzeitig anbieten zu können und sie außerdem von den Kostenträgern schon früh zu einer umfassenden Qualitätskontrolle angehalten wurden. Dies erweist sich inzwischen als Glücksfall, denn empirisch abgesicherte Therapiekonzepte tragen mit dazu bei, dass wir in Deutschland auch weiterhin ein weltweit einzigartiges Angebot an stationärer Psychotherapie vorhalten können. Dieser Aspekt gewinnt inzwischen auch in der stationären psychodynamischen Therapie zunehmend an Bedeutung, auch hier wurden inzwischen störungsspezifische Konzepte entwickelt und erfolgreich evaluiert. Durch die strikte Zielorientierung hat die VT dazu beigetragen, dass stationäre Therapien heute im Durchschnitt deutlich kürzer sind als noch vor 20 Jahren. Da es auch erhebliche Nebenwirkungen haben kann, einen Menschen für mehrere Monate von seinem sozialen Umfeld zu trennen, halte ich dies für einen Fortschritt.

Lerntheoretische Konzepte finde ich sehr hilfreich bei der Gestaltung des therapeutischen Milieus. Am Anfang steht die Frage, welche Lernerfahrungen und Veränderungen gezielt gefördert werden sollen. Dies bezieht sich sowohl auf die bauliche Gestaltung der Station als auch auf die Planung der Tagesabläufe und die Bereitstellung bestimmter Erlebnisräume, in denen Erfahrungen gemacht und in der Therapie reflektiert werden können.

Henning Schauenburg: Besonders wichtig scheint mir die Sicht des stationären Settings als eines Beziehungsgefüges, in dem sich grundlegende dysfunktionale Beziehungsmodi und Affektrepräsentanzen aufseiten der Patienten reinszenieren. Eine solche Sicht erlaubt ein besseres Verständnis typischer Konflikte, wie sie zwischen Patienten und therapeutischem Team oder auch innerhalb des therapeutischen Teams entstehen können. So können Spaltungen im therapeutischen Team rechtzeitig erkannt und u. U. auch verhindert werden. Ebenso wird das Verständnis scheinbar negativer therapeutischer Entwicklungen erleichtert. Eng damit zusammen hängt m. E. der Nutzen des Konzeptes von Abwehr und Widerstand bzw., damit verknüpft, von einem optimalen Angstniveau bei Patienten. Letzteres bedeutet, dass Patienten nicht zu viel Angst haben dürfen, was Veränderung verunmöglicht, aber auch nicht zu wenig Angst, was Veränderung unnötig erscheinen lässt.

Zuletzt glaube ich, dass die jüngsten Diskussionen, wie sie im Rahmen der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) geführt werden, sehr hilfreich sind, die zwischen konfliktbedingter und strukturbedingter Psychopathologie und Beziehungsbeeinträchtigung unterscheiden. Ich halte es für elementar wichtig, bei Patienten darauf zu achten, ob sie Schwierigkeiten aufweisen, weil sie über bestimmte psychische Möglichkeiten nicht verfügen oder weil sie fürchten, ihre eigentlich vorhandenen Möglichkeiten zu zeigen. Aus dieser Trennung erwachsen unterschiedliche therapeutische Umgehensweisen, die mit einer Haltung des Ermutigens, Begleitens und Beschützens bzw. des Widerstehens, Forderns, Begrenzens verbunden sind.

Welche Aspekte der anderen Schulen finden Sie für den eigenen Ansatz hilfreich?

Volker Köllner: Das stationäre Setting stellt eine Bühne dar, auf der die Patienten in der Interaktion mit Mitpatienten, dem Behandlungsteam und den Regeln des Settings dysfunktionale Erlebens- und Verhaltensmuster reinszenieren können. Um einen Veränderungsprozess einzuleiten, müssen diese identifiziert und bewusst gemacht werden. Obwohl sich die kognitive Verhaltenstherapie hier zunehmend um eigene Termini und Konzeptualisierungen bemüht (wobei ich mich frage, ob dieses Rad wirklich von der VT neu erfunden werden muss), möchte ich hier auf die Erfahrung und Kompetenz der psychodynamischen Therapie nicht verzichten. In unserer Klinik haben wir mit gemischten Teams sehr gute Erfahrungen gemacht, weil es so möglich wurde, die Reflexion der therapeutischen Beziehung sowie der Interaktionen in den Therapiegruppen und der Stationsgemeinschaft auch in den verhaltenstherapeutischen Alltag zu integrieren.

Henning Schauenburg: Grundsätzlich neigen psychodynamische Therapeuten manchmal dazu, Vermeidungshaltungen ihrer Patienten zu übersehen bzw. sie tragen mit dazu bei, dass durch eher reflexionsorientiertes Arbeiten bestimmte notwendige therapeutische Schritte zur Überwindung von Hindernissen und Ängsten nicht getan werden. Gute Erfahrungen haben wir deshalb mit strukturiertem verhaltenstherapeutischem Vorgehen bei Angstexposition und im Rahmen von Essverträgen gemacht.

Ebenfalls hilfreich finde ich psychoedukative Momente, da wir als psychodynamische Therapeuten oft das reale Wissen unserer Patienten über ihre Erkrankungen und Beeinträchtigungen überschätzen und die unterstützende Wirkung von Informationen und der daraus erwachsenden Autonomie unserer Patienten unterschätzen. Dies gilt allerdings eher für strukturell beeinträchtigte Patienten, da es bei neurotischen und konfliktbezogenen Interaktionen oft auch darauf ankommt, zu verstehen, warum manche Patienten sich hilflos, abhängig und „unwissend” präsentieren.

Unser Fazit ist: Die stationäre Psychotherapie ist einzigartig, gerade weil sie in einem sehr produktiven Sinne immer auch in einem Spannungsfeld existiert, weil sie patientenzentriert und nicht methodenorientiert ist. Es geht darum, unsere psychotherapeutischen Möglichkeiten den jeweils neuen klinischen Aufgaben anzupassen, und nicht die passenden Patienten für die jeweilige Methode zu suchen. Deshalb ist die, schnell auch mal als „deutscher Sonderweg” diskreditierte, stationäre Psychotherapie effektiv und notwendig.

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