PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(1): 95-96
DOI: 10.1055/s-2006-951995
Im Dialog
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vom Munde abgespart? - Anorexie und Familienökonomie

Martin  Blessing
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Publication Date:
13 March 2007 (online)

In der höchst umfangreichen Literatur zur Familiendynamik und -therapie anorektischer Patientinnen wird den wirtschaftlichen Verhältnissen der Herkunftsfamilien wenig Aufmerksamkeit geschenkt - im Allgemeinen gelten diese als gutsituierte Mittelschichtfamilien. Entsprechend wird der Fokus allenfalls auf die innere, emotionale und interaktionelle Ökonomie der Beziehungen gerichtet.

Im Folgenden sollen drei Behandlungen anorektischer Indexpatientinnen aus meiner Praxis geschildert werden, in denen es sich als sehr nützlich erwies, die materielle - reale und/oder sozusagen gefühlte - ökonomische Situation zum Zeitpunkt der Pathogenese zu thematisieren. In allen drei Fällen hatte dies zur Folge, dass die bis dato „typische” Unzugänglichkeit und mangelnde Krankheitseinsicht der Mädchen einer deutlich kooperativeren Haltung wich, die eine baldige Entlassung ermöglichte und zumindest nach meinen Informationen auch nachhaltig blieb.

Im ersten Fall handelte es sich um die 12-jährige Heike, die mit einer eindeutig anorektischen Symptomatik stationär aufgenommen wurde. Als sich im Verlauf der Behandlung ergab, dass die Familie durch den soeben durchgeführten Hausbau wirtschaftlich bis an die Grenzen der Belastbarkeit strapaziert war, apostrophierten wir Heike als „kleine Heilige”, die, nachdem sie bereits freiwillig auf ihr (ohnehin geringfügiges) Taschengeld verzichtet hatte und keinen eigenen Beitrag zum Familieneinkommen leisten konnte, sich nun im wörtlichen Sinne „etwas vom Munde absparte”, um die von der finanziell beengten Situation bedrückten Eltern aus Liebe eben so weit zu entlasten, wie dies in ihrer Macht stand. Die Eltern reagierten auf diese Deutung berührt, aber auch etwas belustigt und versicherten dem Mädchen, zum Sattessen sei allemal noch genug da - worauf Heike ihren zunächst „typisch anorektischen” Widerstand gegen das Ernährungsreglement einstellte und bald darauf mit einer weiteren essgestörten Patientin zusammen zu dem fröhlichen Liedchen „ich will so bleiben wie ich bin - so doof!” über die Station tanzte.

Die 13-jährige Anita wurde nach mehrwöchigem „Aufpäppeln” auf einer pädiatrischen Station von unserer psychosomatischen Abteilung übernommen. Auch sie zeigte sich zunächst allenfalls „theoretisch” krankheitseinsichtig, sodass der Verlauf im Hinblick sowohl auf die Kooperationsbereitschaft wie auf das Körpergewicht des Mädchens überaus zäh war. In einem der (gleichfalls recht „zähen”) Familiengespräche erwähnte die Mutter ihre Sorge wegen einer realen erheblichen Nachzahlung von Erschließungskosten für das häusliche Grundstück. Bei Nachfrage stellte sich heraus, dass dies für die Familie zwar ärgerlich, aber keinesfalls so existenzbedrohend war, wie es zunächst zum Ausdruck gebracht wurde, und dass ein Großteil des mütterlichen Ärgers sich auf die Tatsache bezog, dass ein naher Verwandter, dessen Haus in „zweiter Reihe” stand, von den Kosten verschont blieb. Auch hier war eine deutliche Entlastung des Mädchens zu beobachten, nachdem die Frage einer existenziellen ökonomischen Gefährdung der Familie „vom Tisch” war - an welchen sie folglich wieder guten Gewissens zurückkehren konnte.

Die 14-jährige Lena wurde von ihrer in Scheidung lebenden Mutter mit einer zweifelsfrei anorektischen, seit etwa einem halben Jahr eskalierenden Symptomatik mit zahlreichen frustranen häuslichen Bewältigungsversuchen seitens der Mutter und entsprechend vielen nicht eingehaltenen Versprechungen des Mädchens zur stationären Aufnahme vorgestellt. Beim Erstgespräch wies die früher fast „propere” Lena ein Längensollgewicht am untersten Rand des Referenzgewichts für Kinder und Jugendliche auf, weshalb unsere Besorgnis nicht allzu groß war, sondern wir die anorektische Symptomatik eher als Folge einer entgleisten, aber an sich erfolgreichen Gewichtsreduktion betrachteten. Bei der Aufnahme nur eine Woche später wog Lena 5 kg weniger und war deutlich brachykard, sodass sie sofort auf eine pädiatrische Station verlegt werden musste, da eine Teilnahme an unserem therapeutischen Programm aus gesundheitlichen Gründen außer Diskussion stand. In Einzelgesprächen mit Mutter und Tochter erfuhren wir, dass Lenas Symptomatik - die sie, wie üblich, mit dem Wunsch nach Gewichtsreduktion wegen ihrer äußeren Erscheinung begründete - keineswegs etwa nach der Trennung der Eltern ein Jahr zuvor eingesetzt hatte; vielmehr entwickelte sie sich ziemlich exakt zu dem Zeitpunkt, als überaus fraglich erschien, ob die damals unter einer reaktiven Depression leidende Mutter das von der Familie viele Jahre lang zur Miete bewohnte, vor drei Jahren endlich erworbene Eigenheim wohl werde halten können. In dieser Zeit war die wirtschaftliche Situation der Familie wegen der laufenden Zahlungsverpflichtungen mehr als prekär. Erst kurz vor dem Erstkontakt mit uns konnte geklärt werden, dass die Mutter mithilfe ihrer Verwandtschaft das Haus behalten und den Vater ausbezahlen konnte.

In Erinnerung an die oben bereits geschilderten Fälle ermutigten wir die Mutter, Lena gegenüber, die zu diesem Zeitpunkt strenge Bettruhe einhalten musste und um jeden Bissen feilschte, das „Ende der Not” klarzustellen, und trugen ihr ausdrücklich auf, dem Mädchen zu sagen, dass es zum Sattessen allemal reiche. Auch diesmal verhielt sich die Patientin nach der „Absolution” deutlich kooperativer, hielt sich an die verordneten ernährungsmedizinischen Maßnahmen, nahm kontinuierlich ein Kilogramm wöchentlich zu und wurde trotz großer Skepsis der behandelnden Ärzte auf Entscheidung der Mutter in eine wohnortnahe tagesklinische Behandlung übernommen - nach unseren bisherigen Informationen nachhaltig erfolgreich.

Keinesfalls soll hier erneut eine monokausale Erklärung anorektischer Pathogenese und Symptomatik betrieben werden - aber es könnte im Einzelfall doch nützlich sein, sowohl die reale wie auch die gleichsam „gefühlte” wirtschaftliche Situation der Familie in der Anamnese systematischer zu beachten. Selbstverständlich zeigen sich in den geschilderten Fällen die bereits aus der familiendynamischen Forschung gut bekannten und gesicherten Muster:

die enge „verstrickte” Beziehung zwischen den Familienmitgliedern, insbesondere zwischen Mutter und Indexpatientin, das insgesamt eher lustfeindlich-restriktive Familienklima (das ein unbekannter Kollege einmal als „Schwabenkrankheit” bezeichnete - 'Tschuldigung nach Stuttgart…), die rigide Struktur dieser innerfamiliären Normen, die in der Symptomatik der Patientin zugleich loyal befolgt wie auch auf die Spitze getrieben und damit ad absurdum geführt wird und schließlich die altruistisch im Opfer der Patientin gezeigte Selbst-Losigkeit, für die positive Konnotationen wie die der märtyrerhaften „kleinen Heiligen” oder des „Vom-Munde-Absparens” zweifellos ein „gefundenes Fressen” sind.

Wie alle TherapeutInnen wissen, ist es oft (oder meist?) unmöglich zu sagen, welche Interventionen im Verlauf einer Behandlung tatsächlich hilfreich und wirksam waren - natürlich hätten die drei Fallvignetten auch viele andere Konfliktpotenziale fokussieren können. Zumindest in den beschriebenen Fällen schien mir jedoch das Ansprechen der Familienökonomie (im materiellen, nicht interaktionellen Sinne) einen klinisch bzw. symptomatisch beobachtbaren Unterschied zu machen - weshalb ich dies hier mitteilen und zur Diskussion stellen möchte.

Korrespondenzadresse:

Dr. Martin Blessing

Kinderkrankenhaus St. Marien
Psychosomatische Abt.

Grillparzerstraße 9

84036 Landshut

Email: mgblessing@web.de

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