PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(4): 429-430
DOI: 10.1055/s-2006-951853
Resümee
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Psychotrauma-Therapie als rettendes Schnellverfahren?

Steffen  Fliegel, Wolfgang  Senf
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Publication Date:
29 November 2006 (online)

Zwischen dem PiD-Heft im März 2000 und dem jetzigen Heft im Dezember Ende 2006 zeigt sich eine bemerkenswerte Entwicklung in der Psychotraumatologie, zumindest im deutschsprachigen Raum. Wir hatten in dem damaligen Editorial unsere Verwunderung zum Ausdruck gebracht, dass trotz der klinischen und gesundheitspolitischen Bedeutung deutschsprachige Publikationen zur PTBS eher selten waren, und wir hatten vermutet, dass die Gefahr einer Psychotraumatisierung weniger in unsere Gesellschaft lokalisiert wurde, sondern vor allem mit Krieg, Folter und politischer Gewalt außerhalb unserer Gesellschaft oder mit unserer politischen Vergangenheit in Verbindung gebracht worden war.

Das hat sich deutlich geändert, wie auch Prof. Dr. Ulrich Schnyder[1] feststellt, den wir, anknüpfend an das Interview mit ihm vor sechs Jahren in PiD 1/2000, erneut gefragt haben[2], ob sich das Bewusstsein für und das Wissen um die Psychotraumatologie seit 2000 verändert hat.

Ulrich Schnyder: Seit der Einführung der diagnostischen Kategorie der Posttraumatischen Belastungsstörung im DSM-III im Jahre 1980 erleben wir einen regelrechten Boom der Psychotraumatologie, der bis heute ungebrochen ist. Die wichtigste Veränderung seit 2000 ist aus meiner Sicht der Umstand, dass im deutschen Sprachraum und insbesondere in Deutschland das Thema „Psychotraumatologie” nun wirklich auf breiter Front Interesse findet, und zwar nicht nur in der Versorgung, sondern vor allem auch in der Forschung. Auch in den öffentlichen Laienmedien findet das Thema große Resonanz.

PiD: Womit hat das zu tun? Und ist das nur im deutschen Sprachraum so?

Ulrich Schnyder: Das Phänomen ist möglicherweise in Deutschland besonders ausgeprägt, weil hier auf gesellschaftlicher Ebene eine offene, unverkrampfte Auseinandersetzung mit der eigenen traumatischen Vergangenheit, also Nationalsozialismus und Holocaust, erst in dem letzten Jahrzehnt möglich wurde. Dass das Thema auch international so anhaltendes Interesse findet, hat wahrscheinlich viele Gründe, z. B. die Omnipräsenz der Medien bei Naturkatastrophen, Terroranschlägen und Kriegen. Ein wichtiger Grund liegt aber sicher auch darin, dass wir heute viel mehr über die psychologischen, sozialen und neurobiologischen Auswirkungen traumatischer Erfahrungen wissen. Entsprechend haben sich auch unsere therapeutischen Kompetenzen erweitert, sodass wir heute vor allem im psychotherapeutischen Bereich sehr wirksame Behandlungsmethoden zur Verfügung haben. Wir stehen dem Phänomen „Trauma” also nicht mehr so hilflos gegenüber!

Dieses PiD-Heft bestätigt das: In der Psychotherapie verfügen wir über eine differenzierte Diagnostik, über ein breites Spektrum an wirksamen Methoden und sogar über effiziente Versorgungsstrukturen. Das zeigen die einzelnen Beiträge eindrücklich auf. Verändert hat sich dabei allerdings, dass nicht mehr der konkurrierende Vergleich der verschiedenen psychotherapeutischen Schulen im Vordergrund steht, sondern die Bemühung um gemeinsame Grundkonzepte und verbindliche Leitlinien.

PiD: Was hat sich aus Ihrer Sicht seit dem Jahr 2000 in der Forschung und in der klinischen Versorgung getan? Welche Rolle spielt dabei die Psychotraumatologie in Deutschland?

Ulrich Schnyder: Im Jahr 2000 wurden die ersten gut ausgearbeiteten Behandlungsrichtlinien für posttraumatische Belastungsstörungen publiziert (Effective Treatments for PTSD, Practice Guidelines from the International Society for Traumatic Stress Studies). 2004 folgten entsprechende Richtlinien der American Psychiatric Association. Für Europa vielleicht besonders wichtig war die Publikation der NICE Guidelines (National Institute for Clinical excellence, UK) im Jahre 2005. Dadurch kam zum ersten Mal ein wenig Ordnung in den Wildwuchs therapeutischer Bemühungen im klinischen Alltag. Unter anderem wurde die klare Überlegenheit der Verhaltenstherapie (cognitive behavioral therapy CBT), insbesondere der Expositionstechniken, herausgestellt. Als weiterer wichtiger Meilenstein wurde erkannt, dass das Critical Incidence Stress Debriefing nach Mitchell keinen Beitrag zur Prävention posttraumatischer Belastungsstörungen leistet. Die Forschung hat sich in den letzten Jahren verstärkt den neurobiologischen Grundlagen der Psychotraumatologie zugewandt. Hier zeichnet sich ein enormer Wissenszuwachs ab, ein Prozess, der im Moment in vollem Gange ist.

Das bestätigen die Experten, die in diesem Heft zu Wort kommen. Das angewachsene Wissen hat vor allem zu klaren Vorstellungen darüber geführt, wie Behandlungen mit traumatisierten Menschen qualifiziert durchzuführen sind und wie die unterschiedlichen Verfahren, Methoden und Techniken nutzbringend zu handhaben sind, ohne den betroffenen Menschen weiteren Schaden zuzufügen.

In den Interviews, die das Heft einrahmen, kommt eine grundsätzliche Auffassung zum Ausdruck: Man muss gerade bei der Vielzahl effektiver therapeutischer Möglichkeiten Augenmaß bewahren. Zu starke Spezialisierung, ein Übermaß an Hilfsangeboten, wozu ggf. auch präventive psychologische Notfallinterventionen gehören, und unreflektierte öffentliche Darstellungen bergen die Gefahr in sich, dass die Selbstregulation der Betroffenen aus dem Blick gerät und der Anschein erweckt wird, als könne man entweder ganz schnell den betroffenen Menschen mit ein paar Sitzungen helfen, oder als wäre professionelles Eingreifen nach dem Trauma unabdingbar: Psychotrauma-Therapie als pragmatisches Schnellverfahren oder unabdingbare Genesungsunterstützung?

PiD: Wie sieht es heute aus mit der Versorgung bei Psychotraumata? Wo wird es hingehen? Was ist für die Zukunft zu erwarten?

Ulrich Schnyder: Die Psychotraumatologie ist primär ein Feld für die ambulante Psychotherapie. Medikamentöse Behandlungen und stationäre Therapien stehen eher im Hintergrund. Im internationalen Vergleich gibt es in den deutschsprachigen Ländern ja glücklicherweise eine hohe Dichte gut ausgebildeter Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Viele dieser Therapeuten sind allerdings nicht ausreichend mit den wirksamen traumaspezifischen Therapietechniken vertraut. Die Qualität der künftigen Versorgung von Patienten mit traumabedingten psychischen Störungen wird davon abhängen, inwiefern traumarelevante Konzepte in die psychotherapeutischen Ausbildungscurricula integriert werden. Ein anderer Weg, der in letzter Zeit ebenfalls beschritten wird, sind traumaspezifische Zusatzausbildungen für ausgebildete und klinisch erfahrene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten.

Der Erwerb umfassender Kenntnisse zur Diagnostik und Psychotherapie posttraumatischer Belastungsstörungen gehört aus unserer Sicht zu einer qualifizierten psychotherapeutischen Ausbildung. Das betrifft die Symptomatologie, die Ätiologie, die wirksamen traumaspezifischen Therapietechniken ebenso wie die Behandlungsplanung. Wer diesen Störungsbereich in der Ausbildung nicht umfassend vermittelt bekam, dem stehen mittlerweile zahlreiche gute Fortbildungsangebote zur Verfügung.

Es gibt auch Veränderungen:

In PiD 1/2000 resümierten wir noch zu den essenziellen Gemeinsamkeiten in der Behandlung traumatisierter Menschen: „Ein Stichwort ist die Konfrontation mit dem Trauma - alle Ansätze arbeiten mit konfrontativen Elementen - sei es in vivo, in sensu (innere Bilder), graduell oder symbolhaft.” Jetzt im Jahr 2006 müssen wir darauf hinweisen, dass zuerst die Stabilisierung der betroffenen Menschen die entscheidende Maßnahme ist, dass ein zu schnelles oder überhaupt ein konfrontatives Handeln auch ein Kunstfehler sein kann. Wir beginnen die Resilienz zu begreifen, diese bemerkenswerte Fähigkeit des Menschen auch unter schwersten Belastungen psychisch zu überleben. Luise Reddemann trifft mit ihrer von vielen Autorinnen und Autoren geteilten Meinung den Kern des Problems, nämlich wie mühsam und zäh Paradigmenveränderungen sind. Und da schließt sich auch wieder der Kreis zu Klaus Dörner, der zwar sehr hart mit der Traumapsychotherapie ins Feld geht, aber dennoch ebenfalls die strikte Beachtung der menschlichen Selbstheilungskräfte und die Selbsthilfe vor der professionellen Hilfe betont.

Wie eine qualifizierende Aus- und Fortbildung auszusehen hat, was gelernt und was gekonnt werden muss, das kann aus den einzelnen Beiträgen in diesem Heft entnommen werden.

Erfreulich ist in jedem Fall, dass sich die therapeutische Versorgung für von Traumafolgen stark betroffene Menschen inzwischen fest etabliert hat, wobei es zu bemerkenswerten Kooperationen zwischen verschiedenen beteiligten Partnern aus der Psychotherapie, der Polizei, den Versorgungsämtern gekommen ist, wie das Beispiel NRW zeigt.

Die beiden PiD-Hefte dokumentieren den großen qualitativen Sprung in der Psychotraumatologie, und es ist zu erwarten, zumindest zu hoffen, dass diese theoretischen, klinischen und therapeutischen Konzepte die Psychotherapie insgesamt weiterhin nachhaltig beeinflussen werden. Wir von der PiD werden am Geschehen bleiben, weitere Entwicklungen einfordern und dokumentieren.

1 Prof. Dr. Ulrich Schnyder ist ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Poliklinik am Universitätsspital Zürich (www.psychiatrie.usz.ch) und amtierender President der International Federation for Psychotherapy (IFP). Er hat sich u. a. internationale Reputation im Bereich der Psychotraumatologie erworben. Das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer (afk) ist ein Gemeinschaftsprojekt des Universitätsspitals Zürich und des Schweizerischen Roten Kreuzes (www.srk.ch/activities/migration/health/d04c03-de.php). Im ersten PiD-Heft (2000), das den Posttraumatischen Belastungsstörungen gewidmet war, hat Prof. Schnyder ein Interview gegeben in seiner damaligen Funktion als Präsident der European Society for Traumatic Stress Studies (ESTSS).

2 Das Interview führte Wolfgang Senf.