PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(4): 418-422
DOI: 10.1055/s-2006-951850
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch …”

Luise  Reddemann im Gespräch mit Wolfgang  Senf
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
29. November 2006 (online)

PiD: Frau Reddemann, Sie haben für mich, wenn ich das einmal so sagen darf, eine ganz wichtige Position in der Psychotraumatologie, die sie hier bei uns sehr geprägt haben. Wie würden Sie die Entwicklung in den letzten zehn Jahren sehen und bewerten.

Luise Reddemann: Vor zehn Jahren gab es fast gar nichts. Es gab unsere Klinik und wir wurden dafür belächelt. Dann interessierte Ulrich Sachse sich dafür, was ich mache, und hat dann Ende 1996 eine Station eröffnet. Es gab das Ehepaar Fischer, das sich mit Missbrauch in der Therapie beschäftigt hat, und es gab natürlich die Beratungsstellen, vor allen Dingen von Wildwasser, die sich mit sexueller Gewalt beschäftigt haben. Und es gab die Forscher, die sich mit dem Holocaust und Kriegsfolgen beschäftigt haben. Es gab zwar einiges, aber das war alles nur punktuell. Und wirklich anerkannt war die Psychotraumatologie überhaupt nicht.

Es galt als irgendetwas total Exotisches. Und diejenigen, die es gemacht haben, haben halt so vor sich hin gewurstelt. Wir waren überzeugt, dass es gut und richtig ist, und deshalb haben wir es einfach gemacht. Aber in der Mainstream-Psychotherapie war das überhaupt nicht präsent. Wir Frauen, die wir uns da engagiert haben, kamen alle mehr oder weniger von der Frauenbewegung her.

Waren es mehr Frauen, die sich damals engagiert haben?

Zuerst waren es überwiegend Frauen, die sich engagiert haben. Dann kamen durch die Kriege hier in Mitteleuropa, z. B. in Bosnien, andere Kollegen dazu, die sich für die Kriegsopfer interessiert haben. 1996 gab es einen europäischen Kongress in Maastricht, an dem einige Leute aus Deutschland teilnahmen. Die haben sich dann zusammengetan. Es waren Herr Schüffel aus Marburg, die Aachener, die im Bereich Akuttrauma geforscht haben, und noch ein paar Leute, ich erinnere jetzt nicht alle. Aber es waren wirklich vereinzelt ein paar Menschen, die sich dafür interessiert haben.

Haben Sie eine Erklärung, warum sich hierzulande damals so wenige interessiert haben? Haben Sie eine Erklärung, warum das in Deutschland so spät ins Bewusstsein gekommen ist?

Es gibt da eine Theorie, der ich mich anschließe, die besagt, die Deutschen konnten sich mit Psychotraumatologie nicht befassen, weil sie eben das Tätervolk sind. Und wenn man sich mit Trauma befasst, egal woher man kommt, dann merkt man, wie viel Traumatisierung es gibt. Und dann kommt man natürlich auch mit der eigenen Geschichte und der Täterproblematik in Kontakt. Und das wurde halt lange vermieden. Meine psychotraumatologische Erklärung ist die, dass eine Verarbeitungsform, bei der man sich nicht auseinander setzt, sondern vermeidet, eben typisch ist bei Traumatisierungen, und ich denke, die Deutschen haben das Thema mehrheitlich kollektiv vermieden und haben eben ihre Zeit gebraucht. Die Zeit war wahrscheinlich ungefähr erst 50 Jahre nach Kriegsende dann reif dafür. Dann gab es natürlich die großen Schadensereignisse wie z. B. das Zugunglück in Eschede, das hat eine Wende gebracht in Bezug auf das Interesse an Akuttrauma.

Sie haben die Entwicklung mit der Frauenbewegung in Verbindung gebracht, das ist für mich neu als Gedanke. Meinen Sie damit, dass die Psychotraumatologie sich deswegen entwickeln konnte, weil Frauen sich des Themas angenommen haben?

In Amerika ist es so gewesen. Eben dadurch, dass Forscherinnen, die aus der Frauenbewegung kamen, sich vor allem um familiäre Gewalt gekümmert haben, während die Männer sich ja überwiegend mit der Traumatisierung von Kriegsveteranen beschäftigt haben. Wir haben natürlich von diesen Forschungen profitiert, die in Amerika und auch in anderen Ländern gelaufen sind. Damit hatten wir schon einen Fundus, auf den wir uns beziehen konnten. Und es ist ja nun einmal eine Tatsache, dass wir es in der Psychotherapie viel mehr mit Patientinnen zu tun haben, und eine ganze Reihe dieser Patientinnen leiden an Traumafolgen. Da war dann die Zeit reif, dass man das mal beim Namen genannt hat, dass es familiäre Gewalt gibt, dass es eine Menge Gewalt gegen Frauen gibt. Seit Anfang der 80er-Jahre gab es ja dieses Engagement für Gewalt in der Familie, vor allen Dingen Gewalt gegen Frauen und Kinder. Alice Miller war dabei ein ganz wichtiger Name. Und das hat eben die Frauenbewegung bewirkt, also wie sie alle heißen, Wildwasser usw., die haben das konsequent aufgegriffen. Und dann kam natürlich auch die sog. feministische Psychotherapie, die hat sich dem noch mehr zugewendet. Davon waren wir alle dann mehr oder weniger beeinflusst.

Es gab eigentlich schon immer viel Wissen über Traumatisierungen durch Gewalt, aber die Konsequenz daraus, dass wir es in der Psychotherapie auch mit diesen Menschen zu tun haben, wurde erst relativ spät gezogen. Also dass man wirklich gesagt hat, okay, viele unserer Patienten leiden unter den Folgen traumatisierender Gewalt, das hat noch einmal eines weiteren Schrittes bedurft.

Wann ist das passiert?

Das war, meine ich, Mitte bis Ende der 90er. Ein Markierungspunkt war die Veranstaltung bei den Lindauer Psychotherapiewochen 1997, wo dann auf einem anerkannten Forum diskutiert wurde, wie man bei Traumatisierungen Therapie macht und wie man diesem Phänomen des posttraumatischen Stresssyndroms psychotherapeutisch gerecht werden kann. Da ist was in Bewegung gekommen für die Psychotherapie.

Hat die Psychotraumatologie nicht dann wieder die Psychotherapie, vor allem die psychoanalytische Psychotherapie, verändert? Hat das vor allem in der psychoanalytischen Psychotherapie zu mehr Handlungsorientierung, zu mehr therapeutischem Pragmatismus geführt?

Also ich sehe das schon auch so. Aber wir hatten natürlich ein spezielles ätiologisches Konzept, indem wir gesagt haben, das ist nicht nur psychisch, sondern da gibt es körperliche Veränderung auf Gehirnebene, und diesen biologischen Veränderungen muss in der Psychotherapie ebenso Rechnung getragen werden wie den psychischen Prozessen, und deshalb darf man bestimmte Konzepte nicht isoliert anwenden, und das betrifft natürlich auch die Konfliktpathologie. Das reicht als Perspektive alleine nicht aus. Und dann haben wir halt das gezeigt, was wir durch Erfahrung entdeckt und gelernt haben, dass es am besten ist, therapeutisch flexibel zu sein. Wir haben dann eine Entwicklung zu integrativen Konzepten genommen, indem wir das Beste aus allen Therapierichtungen genommen haben.

Wäre das eine eklektische Haltung?

Eklektisch-integrativ aber nur in dem Sinne, dass wir immer auch eine Grundorientierung beibehalten haben. Für mich gilt das jedenfalls. Eklektisch nicht in dem Sinne, dass man einfach nur so zusammenmixt und sich nicht überlegt, was der gemeinsame Nenner ist dessen, was man anwendet. Wichtiger ist, die Therapie dadurch viel flexibler zu gestalten, indem man sich von dem vorherrschenden Dogma einer Methodentreue verabschiedet. Wir waren immer schon patientenorientiert, also daran interessiert herauszufinden, was hilft unseren Patienten denn nun wirklich. Und dadurch haben wir vieles gefunden, was sich dann auch bewährt hat. Oder wir haben gesehen, was eben nicht mit diesen Patienten geht. Insofern ist das schon richtig, die Erfahrungen aus der Psychotraumatologie sind schon wichtig für die Psychotherapie überhaupt.

Ist Ihnen das persönlich immer leicht gefallen? Gab es auch Widerstände von Kolleginnen und Kollegen? Das wurde und wird ja nicht immer nur gern gesehen in unserer Zunft. Und wurden Sie auch angefeindet?

Nein, leicht gefallen ist mir das nicht, ich hatte quasi so eine Außenseiterposition über Jahre. Und ich wurde auch angefeindet, zum Teil sogar massiv. Aber von meiner Grundhaltung her bin ich halt ein Mensch, der Dinge, von denen er überzeugt ist, dann auch einfach macht. Also wenn ich meine, das ist richtig, dann ist mir das letzten Endes nicht so wichtig, ob das von allen anerkannt wird oder nicht. Ich glaube, ich habe da eine ziemliche innere Freiheit, das zu tun, was ich für notwendig erachte.

Würden Sie so weit gehen zu sagen, dass die Entwicklung der Psychotraumatologie zu einer Entideologisierung im Bereich der Psychotherapie beiträgt?

Ja, aber das galt nur für Deutschland. Ich kann mich erinnern, dass ich in Amerika so beeindruckt war, wie offen die Kollegen dort immer schon waren für integrative Wege und dass sie viel weniger ideologisch an die Dinge herangegangen sind. Es hat z. B. jemand, der aus der VT-Ecke kam, selbstverständlich auch Wissen um die psychodynamischen Theorien mitdiskutiert. Also das war dort einfach Standard. Und das betraf nicht nur die Psychotraumatologie, das war insgesamt so. Aber ich denke schon, hier in Deutschland hat die Psychotraumatologie insgesamt zu einer Entideologisierung beigetragen. Allerdings gibt es natürlich wie immer auch eine Polarisierung, denn andere haben sich gerade daraufhin sehr stark ideologisch positioniert. Das gehörte dann halt dazu.

Wie sehen Sie den Stand heute? Hat sich nicht doch sehr viel entwickelt, z. B. gibt es diese Initiative in NRW, Trauma-Ambulanzen einzurichten. Hat das was zu tun mit den Schadensereignissen der letzten Jahre?

Die Psychotraumatologie hat natürlich enormen Auftrieb bekommen dadurch, dass diese großen Schadensereignisse ernst genommen wurden, und dass man auch gemerkt hat, wie die Helfer darunter leiden. Dann ist sehr viel dazu geforscht worden. Ja, der Stand, also es hat sich viel entwickelt. Es gibt beinahe eine flächendeckende Versorgung inzwischen durch Kolleginnen und Kollegen, die sich psychotraumatologisch fortgebildet haben. Es gibt ein großes Interesse an Akuttrauma und daran, wie man akut Traumatisierte versorgt. Ich sehe jetzt aber auch die Gefahr, dass da manchmal viel zu viel gemacht wird, dass man überhaupt nicht mehr abwartet, ob jemand vielleicht aus sich heraus sich wieder beruhigt.

Sie sehen auch ein Problem des zu schnellen Intervenierens?

Genau, das schnelle Intervenieren, also dass dann auch Kostenträger darauf bestehen und den Leuten gar nicht Zeit gelassen wird, das halte ich für außerordentlich problematisch. Aber die andere Seite ist, dass heute Menschen, die in Not geraten durch traumatische Erfahrungen, dass die doch relativ schnell Unterstützung finden können. Das hat man gerade beim Tsunami gemerkt, wie viel auch an Koordination gelaufen ist und da ein großes Bemühen war, ein gutes Versorgungsangebot zur Verfügung zu stellen. Das war auch schon vorher bei dem Unglück mit der Concorde, da gab es ja auch deutsche Opfer. Das hat sich gut entwickelt, und da gibt es jetzt schon ziemlich viel.

Ist diese Notwendigkeit im Bewusstsein der Öffentlichkeit?

Beim Akuttrauma ja. Es ist sicher noch nicht optimal, aber es ist auf jeden Fall sehr viel gewachsen, was sich aber noch weiterentwickeln kann. Hier muss man allerdings auch aufpassen, dass es nicht zu viele Hilfsangebote gibt, bei denen die Selbstregulation aus dem Blick gerät. Selbstregulation heißt, dass Menschen erstens aus sich selbst heraus Kraft haben, zweitens, wenn sie in einem guten, tragenden Umfeld eingebettet sind, dass denen das mindestens so viel hilft, wenn nicht oft sogar mehr, als wenn professionelle Helfer da sind. Ich habe aber jetzt auch gehört, dass es einen Trend gibt in der Notfallpsychologie, dass die Profi-Helfer geschult werden, mitmenschlich da zu sein und nicht nur professionell. Also das wird schon auch gesehen. Deshalb denke ich, grundsätzlich ist die ganze Entwicklung durchaus erfreulich. Aber das betrifft das Akuttrauma. Also Monotrauma und klassische PTSD, und das ist auch relativ gut erforscht, da gibt es haufenweise Forschung weltweit, auch in Deutschland. Nach meiner Information ist das das Störungsbild, was am meisten erforscht wird in unserem Fach. Da weiß man also viel, erstens, was da los ist bei den Leuten im Gehirn, also neurobiologisch los ist, zweitens weiß man auch relativ gut Bescheid über Interventionsformen, die sich bewährt haben. Das geht alles in Richtung Kurztherapie, und da kann man Leuten wirklich enorm rasch viel erleichtern, wenn man diese Verfahren anwendet.

Jetzt kommt aber das dicke Problem. Und das sind die Leute mit den komplexen Traumatisierungen, die also über Jahre Gewalt, sexualisierte Gewalt und Vernachlässigung erleiden. Und dazu gibt es fast überhaupt keine Forschung, jedenfalls viel, viel weniger. Eine Katastrophe ist dabei aus meiner Sicht, was da therapeutisch jetzt alles läuft. Da werden Behandlungsmethoden, die sich bewährt haben nach einem Monotrauma, einfach übertragen auf komplexe Traumatisierungen. Und diese Menschen mit komplexen Trauma-Folgestörungen, die sich ja immer in die Persönlichkeit integrieren, dass bei denen dann drauflostherapiert wird mit diesen Schnellschussverfahren, was sich nur bei Monotrauma und PTSD wirklich bewährt hat. Das sehe ich mit der allergrößten Sorge.

Was ist da Ihre Sorge?

Dass die PatientInnen retraumatisiert werden, und viele werden es.

Durch eine falsche Behandlung?

Durch eine falsche Behandlung. Ich höre ständig Sachen, dass jemand mit einer lang anhaltenden kumulativen Traumatisierung in der Kindheit, der einigermaßen stabil ist, dann mit einer depressiven Symptomatik in Therapie geht, wo die Therapeuten dann schnell herauskriegen, das hängt zusammen mit einer Traumagenese. Und innerhalb kürzester Zeit, nach wenigen Stunden sog. „Traumabearbeitung” sind diese Menschen dann restlos dekompensiert. Wir wissen seit Pierre Janet, also seit über 100 Jahren, dass diese Leute anders behandelt werden müssen. Und das heißt eben, erst stabilisieren, also in unserem Jargon Ich-Stärkung, und erst dann Traumabearbeitung. Und das wird einfach nicht eingehalten. Dazu trägt auch bei, dass einige dieser Methoden sich in der Öffentlichkeit so darstellen, als könne man ganz schnell, wenn man diese Methoden anwendet, den Leuten mit ein paar Stunden helfen.

Das sind dann diese ganz pragmatischen Methoden wie z. B. EMDR? Meinen Sie das?

Ich sage es ungern, aber es ist natürlich vor allen Dingen EMDR. Wenn es halt nach dem Motto angewendet wird: Wer nur einen Hammer hat, sieht überall Nägel. Das ist das Problem. Ich habe EMDR so gelernt: Es gehört eingebettet in ein psychotherapeutisches Verfahren, und die Patienten brauchen viel von dem anderen, und dann kann man gelegentlich EMDR machen. So habe ich das gelernt. Was ich aber sehr kritisch sehe, ist, was ein Großteil der Kollegen daraus macht: Jetzt habe ich endlich diesen Hammer sozusagen, und jetzt, „zack, bumms”, wenn ich jemanden habe mit einer Traumageschichte, dann wende ich das an. Und das ist falsch. Vor allem wenn man den Blick ins Ausland nimmt, dort sind es oft Leute, die gar keine richtige psychotherapeutische Ausbildung haben, und die werden dann in solchen Techniken geschult.

Sie sehen also die Gefahr, dass einzelne Techniken bei den komplex Traumatisierten angewendet werden, und dass das den Effekt haben kann, dass man diesen Menschen schadet? Ich finde es sehr wichtig, das zu unterstreichen.

Was in erster Linie dem Menschen hilft mit einer sog. einfachen Traumatisierung - das ist nicht so gemeint, dass das für die Leute, die das erfahren, einfach wäre -, also wenn man das einfach überträgt auf diese komplexen Störungsbilder, bei denen diese Menschen auch lang anhaltend geschädigt sind durch Beziehungen, wo die Anpassung an die traumatischen Erfahrungen natürlich die Persönlichkeit verändert hat, da kann man nicht nur Traumata behandeln, das geht einfach nicht. Da geht es um eine Behandlung des gesamten Menschen, der Gesamtpersönlichkeit, da braucht es natürlich viel, viel mehr als nur eine Traumabearbeitung.

Würden Sie so weit gehen zu sagen, hier gibt es Kunstfehler?

Ja, unbedingt.

Das ist ja etwas, was wir in der Psychotherapie überhaupt nicht im Vokabular haben. Ich bin völlig Ihrer Auffassung. Vielleicht ist es gerade in diesem Bereich besonders wichtig. Vielleicht wagen sich auch nicht gut ausgebildete Leute therapeutisch an Dinge heran, wobei sie sich überschätzen.

Aber das kann mit allem passieren. Das Problem, was ich sehe und auch in Supervisionen immer wieder erlebe, ist, dass die Kollegen nicht flexibel genug sind. Sie richten sich nicht genug nach dem einzelnen Patienten, jeder Mensch ist letzten Endes ja einzigartig. Sie sind fixiert auf bestimmtes methodisches Vorgehen, was ja z. B. Balint für die Psychoanalyse schon kritisiert hat. Es sollen sich bei denen immer die Patienten der Methode anpassen, statt dass wir uns mit dem, was wir tun, den Patienten anpassen. Aber gut, es führt nicht unbedingt alles zu Kunstfehlern. Für mich ist es ein Kunstfehler, wenn jemand mit einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung nach wenigen Stunden mit einer Traumabearbeitung behandelt wird.

Das muss man so sagen.

Das sage ich ganz klar.

Und das passiert aber auch?

Und das passiert leider relativ häufig.

Sind Sie aber dennoch im Großen und Ganzen zufrieden mit der Gesamtentwicklung?

Ich bin zufrieden und ich bin zum Teil richtig unglücklich.

Was macht Sie zufrieden und was macht Sie unglücklich?

Es macht mich zufrieden, dass es eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz gibt. Und auch eine Akzeptanz unter Psychotherapeuten gibt, auch gegen andere Lehrmeinungen, die sich bald 100 Jahre gehalten haben, dass traumatische Erfahrungen insbesondere kumulativer Art Menschen schädigen können, lebenslang, und dass sie unter den Folgen leiden können. Und andererseits, dass es möglich ist, sie davon zu heilen. Also das macht mich froh, dass das so im Bewusstsein ist. Das öffnet natürlich viele neue Räume.

Aber ich bin sehr unglücklich, dass sehr viele KollegInnen immer noch nicht verstanden haben, dass Traumatherapie - wenn es die überhaupt gibt, ich glaube ja, wir behandeln nicht Traumata, sondern Menschen - bedeutet, wir sorgen erst dafür, dass dieser Mensch sich stabilisiert. Und dann erst wird geprüft, ob eine Traumabearbeitung sinnvoll ist, und dann erst wird sie gemacht. Manche Kollegen sagen mir, Stabilisieren sei ja gar keine richtige Therapie.

Also ihre Position ist: Lasst uns diesen Menschen erst einmal in Sicherheit bringen.

Ja, und eine Beziehung aufbauen.

Sodass diese Menschen sich überhaupt erst mal wieder stabil irgendwo hinstellen können. Das ist etwas, was überhaupt aus der Medizin droht verloren zu gehen, die Fürsorglichkeit für einen Menschen. Ist das richtig?

Ja, kann man so sagen.

Und erst dann, wenn wir einen Menschen in Sicherheit gebracht haben, können wir uns überlegen, was wir mit ihm dann weiter machen.

Ja, und ich gehe noch weiter und sage auch: Lass uns erst mal gucken, was er alles hat. Das ist natürlich auch meine Kritik an diesen Akutinterventionen, dass viel zu wenig geschaut wird, was jemand hat. Also diese Fähigkeit zu überleben, die kriegen doch die Patienten nicht durch uns, die haben sie. Dass wir also gucken, was ist da bereits vorhanden, auf was kann man aufbauen. Und dann den Leuten helfen, dass sie das, was sie bereits haben, optimal nutzen. Und wenn sie da angekommen sind, und es geht natürlich bei manchen schneller und bei manchen dauert es sehr, sehr lange, wenn man an dem Punkt ist, dass man dann zusammen mit dem Patienten prüft, ob es notwendig und sinnvoll ist, dass man eine Traumabearbeitung macht.

Das haben Sie jetzt so ganz dezidiert gesagt, und ich glaube, wenn wir zwei miteinander diskutieren, sind wir uns einig, dass wir uns erst einmal mit den positiven Möglichkeiten eines Menschen beschäftigen, also mit den Ressourcen beschäftigen. Wieso müssen Sie das immer wieder so betonen?

Sie können es in den Leitlinien lesen, d. h. es ist ein Expertenkonsens. Aber die Leute halten sich nicht dran.

Warum?

Ja, warum? Also wenn ich an mich selbst denke, vor langer Zeit allerdings, dann habe ich auch mal gedacht, wenn jemand was Schreckliches erlebt hat in der Kindheit oder in der Vergangenheit und er hat jetzt Probleme, dann muss man sich mit dem Schrecklichen aus der Vergangenheit beschäftigen, und dann lösen sich die Probleme in der Gegenwart. Und ich fürchte, dass sehr viele unserer Kolleginnen und Kollegen das immer noch denken und nicht kapiert haben, dass das falsch ist.

Es geht im Grunde genommen um ein Defekt-Modell, das besagt, wenn jemand ein Problem hat, womit er nicht zurechtkommt, decke ich seine Defekte auf in der Absicht, ihm zu helfen, aber ich labilisiere ihn im Grunde genommen dabei.

Ja, das wäre jetzt die Kritik daran. Aber das denken die Kollegen natürlich nicht. Sie denken, also sie sind davon überzeugt, dass sie was Gutes tun, und wir waren das auch. Am Anfang haben wir eben auch die Patienten erzählen lassen, was sie alles Schlimmes erlebt haben, und haben gedacht, wenn wir denen diesen Raum zur Verfügung stellen, das alles zu erzählen, dann geht es ihnen besser. Wir haben auch zum Teil richtig gebohrt und haben gedacht, wenn wir das rausholen, wird es besser. Und das ist eben der Irrtum. Was mich traurig macht, ist, dass sich das nicht rumspricht, deshalb sage ich es so dezidiert.

Warum bekommt man nicht in die Köpfe unserer Kollegen, dass sie sich erst einmal mit den Stärken eines Menschen beschäftigen, mit den Fähigkeiten dieses Menschen? Warum hat er bestimmte Dinge überhaupt überstehen können, was sind die protektiven Faktoren innerhalb eines Lebens? Wo ist Progression statt Regression?

Meines Erachtens hat das mit deren Sozialisation zu tun. Schauen Sie sich mal an, wie ausgebildet wird an den Instituten. Da kommt das Wort Progression möglicherweise noch nicht einmal vor, und wenn überhaupt, dann ist es eher ein Schimpfwort.

Also das wäre tatsächlich ein wichtiger Kritikpunkt, die Ausbildungssituation.

Ja, meines Erachtens müssen die Ausbildungsinstitutionen da umlernen. Aber das sind Paradigmenwechsel, deshalb ist das auch so mühsam und so zäh. Das bezieht sich natürlich dann nicht nur auf die Psychotraumatologie. Also diese sehr stark betonte Regressionsorientierung, die sollte unbedingt relativiert werden und in eine Balance gebracht werden zur Progression, das ist wirklich ganz, ganz wichtig. Und wenn jemand eh schon labil ist, und das sind natürlich Leute mit Trauma-Folgestörungen, dann hat die Progression und Ressourcenorientierung noch einen viel größeren Stellenwert.

Frau Reddemann, wo wird es hingehen? Und was wünschen Sie sich?

Ich vermute, dass die Kostenträger Interesse haben, alles, was kurztherapeutisch möglich ist, auszuschöpfen. Und unter der Fahne von Prävention wird vermutlich auch dieses zum Teil doch sehr invasive Vorgehen weitergepflegt werden unter der Hoffnung, man könne dann Störungen aufhalten, also die Entwicklung von Störungen. Das wird ja zum Teil auch gelingen, aber zum Teil scheint es mir auch fragwürdig zu sein. Also dahin wird's gehen. Es wird natürlich in Zukunft niemand mehr so locker sagen können, dass es so was wie sexuelle Gewalt oder Gewalt in der Familie nicht gibt oder dass das nicht schädigt, also das ist jetzt einfach klar. Eine größere Offenheit in Bezug darauf, dass Trauma schädigt und Folgen haben kann, das wird so bleiben oder vielleicht auch noch stärker werden. Das halte ich auf jeden Fall für einen Fortschritt, wenn ich 30 Jahre zurückschaue. Ich weiß noch, wie ich als junge Ärztin Patienten erlebt habe, die wir schizophren nannten, die mit Sicherheit schwer traumatisiert waren. So etwas wird es in Zukunft immer weniger geben, es wird sich immer mehr in allen Psycho-Fächern das Wissen ausbreiten und dann wird es eben auch einen adäquateren Umgang geben mit diesen Patienten. Das ist das, was ich sehe an Entwicklungspotenzial. Ich sehe auch eine gewisse Tendenz, dass das Interesse für Resilienz oder Fragen der Genese, man nennt es zum Teil auch Wachstum durch Trauma, dass das anwachsen wird. Was ich mir wünsche, ist, dass das sich wirklich allgemein durchsetzt, dass sich eine Balance herausbildet zwischen dem Interesse an dem Leiden und an der Störung einerseits und dem Interesse an den Selbstheilungskräften und an den Ressourcen andererseits. Das wünsche ich mir, dass sich das weitestgehend verbreitet.

Hat das zu tun mit Ihrem Menschenbild, dass Sie eher denken, der Mensch hat eigentlich doch eine ganz gute Ausstattung und Kräfte, die ihn voranbringen? Ist das eine Grundhaltung, dass Sie denken, menschliche Existenz ist eher in Richtung Progression angelegt als in Richtung Regression? Ist das eine Grundhaltung, dass Sie denken, es geht eigentlich immer vorwärts?

Nein, so denke ich nicht. Also wenn überhaupt, dann geht es in Spiralen, aber nicht immer nur vorwärts. Was ich denke, ist, dass wir vom Leben ausgestattet sind, auch mit schlimmsten Belastungen fertig zu werden, sonst gäbe es uns nicht mehr auf dieser Erde.

Oder wie Hölderlin das gesagt hat, „wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch”. Dass es halt immer beides gibt. Das zitiere ich ganz gern, dass es halt beides gibt, und dass beides vorhanden ist. Wir in der westlichen Kultur haben aber in 2000 Jahren vor allem gelernt, nur auf das zu schauen, was nicht gelingt, auf das Leiden, und uns für erlösungsbedürftig von außen zu halten. Das ist, glaube ich, auch ein ziemlich wichtiger Faktor, diese Idee, dass die Hilfe von außen kommen muss. Man kann das allerdings auch anders interpretieren, diese ganze Heilslehre, und man sollte doch wenigstens sehen, dass es genug in uns gibt, auch mit schweren Belastungen annähernd fertig zu werden. Und vor allem dann, wenn die Gemeinschaft etwas trägt. Da steckt sehr viel Heilungsmöglichkeit drin. Dieses Vertrauen, glaube ich, das fehlt uns. Ich meine, das hat schon auch etwas mit der Überbetonung der Wissenschaftlichkeit in unserer Kultur zu tun und des Rationalen, weil man natürlich vieles von diesen Selbstheilungskräften nicht so leicht erklären kann. Aber ich glaube nicht, dass es immer nur nach vorn geht. Ich glaube schon, dass wir auch das Zurückgehen brauchen, das Nutzen von Regression, es gibt ja auch viel Regressives, was sehr gesund sein kann. Aber dieses sehr intensive Beschäftigen mit dem, was schief gegangen ist, und womöglich ausschließliche Beschäftigen damit, das halte ich für einen Fehler. Da wird es Umdenkensprozesse geben müssen.

Frau Reddemann, vielen Dank für das Gespräch.