PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(4): 345-350
DOI: 10.1055/s-2006-951849
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Das Unerträgliche unerträglich sein lassen

Klaus  Dörner im Gespräch mit Steffen  Fliegel
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Publication Date:
29 November 2006 (online)

PiD: Trauma, Psychotrauma, Psychotraumatologie, posttraumatische Belastungsstörungen: Sind das im Moment Modeworte oder ein ernst zu nehmendes Thema?

Klaus Dörner: Na ja, das ist wie immer beides. Die Wahrheit liegt dann meistens dazwischen. Wenn ich das jetzt als Historiker betrachte, finde ich das ganz erhellend: Diese Art des Denkens, also das traumatologische Denken, ist wieder auferstanden ziemlich genau und parallel dazu, dass über die bildgebenden Verfahren in der Neurologie die alte Hirnmythologie wieder zu Ehren gekommen ist. Beides sind Traditionen, die vom Ende des 19. Jahrhunderts stammen und dort ihre erste Blütezeit erlebt haben, sowohl das Traumadenken wie auch der Hirndeterminismus. Beides sind Denkweisen, die sehr stark die Rückführung von Symptomen auf Ursachen beinhalten.

Du hast vor kurzem gesagt, wir stehen am schüchternen Anfang einer gewaltigen Eskalation, das Konzept des Traumas und seiner Folgen eignet sich für die inflationäre Ausweitung von psychologischen Indikationen. Was kritisierst du speziell?

Diese Formulierung nimmt das Trauma nur als ein prominentes Beispiel dafür, dass wir im Augenblick in einer Zeit leben, in der alle möglichen Unwohlseinzustände, Befindlichkeitsstörungen, unangepasste Persönlichkeitsecken und -kanten etikettiert werden als solche, die man mithilfe neuer Diagnosen als krankheitswertig einstufen kann. Und dann kann man anschließend mittels Psychotherapie oder auch Psychopharmaka - am besten in Kombination - daran Geld verdienen. Mir ist es wichtig zu betonen, dass es bei diesen neuen Diagnosen, auch beim Trauma, selbstverständlich immer Fälle gibt und immer gegeben hat, die in höchstem Maße therapiebedürftig sind und wo alle neuen Psychotherapiemethoden ihren Sinn haben mögen. Und insofern sind diese neuen Methoden auch ein Fortschritt in der Psychiatrie-/Psychotherapie-Entwicklung.

Worauf zielt die Kritik ab?

Was mich beunruhigt, ist die Ausweitung. Von diesen einzelnen Fällen kann niemand, der sich spezialisiert hat, eine Praxis betreiben. Er braucht mehr Fälle davon. Und da die Spezialisierung ja nun auch so ein hochgeschätzter Wert in all diesen Modernisierungsbestrebungen darstellt, ist man dann interessiert, egal ob in einer ambulanten Praxis, in einer Ambulanz oder Poliklinik oder auch in einer Klinik, dass man hinreichend viele Fälle bekommt. Und dann muss man natürlich in die Ausdünnungszonen derselben Symptomatik und macht den Einzelfall krankheitsbedürftig. Auf diese Weise befinden wir uns in einer Situation, möglichst viele bis dahin als gesund empfundene Menschen in Kranke zu verwandeln. Das kennen wir ja schon aus der Körpermedizin, im psychischen Bereich ist das aber gefährlicher, weil es leichter geht, weil die Kontrollierbarkeit geringer ist. Die Beliebigkeit ist dann je nach Marktkonjunktur größer und gefährlich für die Gesamtgesellschaft.

Wir kommen gleich noch einmal darauf zu sprechen, wie aus deiner Sicht Opfern von Unfällen, Gewalt, Missbrauch, schweren Erkrankungen in sinnvoller Weise geholfen werden kann, wenn sie tatsächlich psychotherapeutische oder psychiatrische Hilfe brauchen. Bleiben wir noch einmal bei denjenigen, die durch die Existenz dieser Trauma-Diagnose krank gemacht werden. Ist es tatsächlich nur das Finanzielle, das Ökonomische, was als Motiv dahinter steckt, oder birgt die Ursache Trauma auch einen bestimmten Reiz in sich?

Das spielt ineinander. Nichts ist auf der Welt nur über ökonomische Interessen zu erklären. Es muss immer noch etwas dazu kommen. Und hier ist es sicherlich die Attraktivität der Möglichkeit, dass ich das, was mich irgendwie belastet, stört, verunsichert, unwohl sein lässt, wenn es mir erklärt wird, auf eine bestimmte Ursache zurückführen kann. Dann geht es mir noch nicht besser, aber ich weiß immerhin, ich kann es benennen. Und dann wird mir in der Regel ja auch versprochen, dass man es nicht nur benennen, sondern auch verändern, also abschaffen kann. Und das ist immer schon etwas, was Menschen in einer Verunsicherung attraktiv finden, wo sie dann auch gerne zugreifen. Das hilft dann zwar kurzfristig, aber langfristig sind sie möglicherweise auch in ihrer Lebensführung beeinträchtigt, so wie sie ihr Leben jedenfalls verstehen.

Du hast gesagt, normalerweise schaffen es Menschen sehr gut, schlimmes Erlebtes zu verarbeiten, zu verdrängen oder wegzunormalisieren. Was meinst du mit „wegnormalisieren”?

Ich gehe davon aus, dass zu meinem Leben immer mal wieder Krisensituationen gehören. Sei es, dass ich diese aus meinem Inneren heraus produziere oder dass sie mir von außen widerfahren. Und im Prinzip kann ich solche Krisen, selbst wenn ich fluche und stöhne, auch als Gelegenheiten sehen, über mich genauer nachzudenken, meinen Kurs zu korrigieren, und mir und meinem Leben auf diese Weise dann auch behilflich sein. Das meine ich, wenn ich diesen Begriff benutzt habe, „wegzunormalisieren”. Das ist natürlich ein bisschen flapsig ausgedrückt. Aber vom Grundsatz her müssen Menschen damit rechnen, dass das Leben aus - um es übertrieben auszudrücken - lauter Befindlichkeitsstörungen, Krisen, Schicksalsschlägen und ähnlichen Dingen besteht. Es wäre tödlich langweilig, wenn es nicht so wäre. Ich rechne damit, ich gehe davon aus und kann dann gewissermaßen von Anfang an eine positive Grundhaltung haben. Ich kann sie begrüßen, statt von vornherein zu sagen, oh, ich fühle mich ganz schlecht, und ich brauche jetzt Hilfe von außen, um das wegzukriegen. Wir haben gelernt, dass es in der modernen Medizin kaum etwas gibt, was nicht auch wegzukriegen ist.

Ist die Kritik an der Inflation in diesem Sinne auch eine Kritik an den Betroffenen, dass sie ihre Diagnose für fehlende Bedürfnisse verantwortlich machen können, aus ihrem erlebten Trauma oder nach der Traumatisierung vieles, was im Leben schief läuft, darauf schieben können?

Ja, das ist eine interessante Frage. Historisch betrachtet hat es das ganze Phänomen schon einmal zwischen 1890 und 1926 gegeben. Damals hieß es „traumatische Neurose” oder es waren ähnliche Begriffe üblich. Und in der damaligen Zeit waren die Psychiater federführend. Sie waren damals von sich so überzeugt, fühlten sich als Nabel der Welt, und schoben ihren Klienten oder Patienten schuldhaft zu, zu simulieren, nur Vorteile kassieren zu wollen, sei es über die Zuwendung oder sei es auch über Geld. Gott sei Dank haben wir uns in unserem professionellen Selbstverständnis insofern doch weiterentwickelt, dass ein solches Denken inzwischen als vom Ansatz aus verkehrt kritisiert werden muss. Ich jedenfalls kann gar nicht anders, als dass ich die Schuld für ein solches Missverhältnis natürlich primär bei mir suchen muss. Schon deswegen, weil ja ich alleine derjenige bin, der sich ändern kann. Das gilt für mich als Person, gilt gleichzeitig natürlich auch für einen gesamten Berufsstand der Psychiater oder Psychotherapeuten. Es muss primär unsere Schuld sein. Selbst, wenn es nicht so wäre, wären wir die einzigen, die von uns aus etwas ändern könnten.

Aber es kann schon etwas dran sein, dass betroffene Menschen nach erlebten Traumata, für die sie ja nichts können, auch durch den öffentlichen Umgang mit dem Thema Trauma, alle Missstände in ihrem Leben und alle Störungssymptome und Probleme jetzt diesem Trauma zuordnen und sich damit ja selbst hilflos machen und sagen, jetzt hilf mir, dass es mir besser geht.

Wenn ich einmal eine solche mir widerfahrene Krise auf die Weise löse, dass ich bei dieser Gelegenheit gelernt habe, da ist mir etwas widerfahren, ich konnte eigentlich gar nichts dafür und bin jetzt das Opfer von etwas, aber ich muss es nicht sein, weil ich, wenn ich die entsprechenden Möglichkeiten nutze, damit „richtig” umgehe, komme ich auf diese Weise in der Regel über die Krise hinweg. Und in der Folge werde ich, gerade weil es erfolgreich war, auch spätere kritische Zustände genauso sehen.

Das ist die eine Haltung.

Ja, ich werde in der heutigen Zeit immer eher sagen: also mit mir hat das nichts zu tun, ich bin da ganz unschuldig, ich bin eigentlich das Opfer. Und bitte, ihr Leute vom Fach, ihr Techniker, ihr Psychotechniker, ihr wisst ja, wie das geht, und jetzt bitte bringt mich wieder in Ordnung. Das kann, wenn es zu einer Haltung wird, natürlich dazu führen, dass man sein eigenes Leben immer weniger mit von der zunächst mal übernommenen Verantwortung für sich selber erlebt, sondern immer bereit ist, das auf andere abzuschieben.

Auf dem Schreibtisch von Dörner steht auch heute noch in vollem Gebrauch die Schreibmaschine, mit der er bereits vor 30 Jahren „Bürger und Irre” geschrieben hat.

Welche Haltung sollte für uns als Helferinnen und Helfer daraus resultieren?

Diese Frage ist so schwierig, dass ich mal indirekt darauf antworte. Ich bin auf das ganze Thema Trauma, nachdem es mich schon Jahrzehnte eigentlich nicht mehr so interessiert hatte, darauf gestoßen worden durch einen Artikel von Philipp Reemtsma in den Sozialpsychiatrischen Informationen. Er hat ja nach seiner Geiselnahme reflektiert, was ihm da passiert ist, und er hat auf eine unglaublich behutsame, liebevolle, gar nicht so rotzige Weise, wie ich das lieber tue, gesagt: Es ist ja zunächst einmal etwas Wunderbares, dass wir feststellen können, wir haben einen kulturellen Fortschritt gemacht insofern, dass wir jetzt nicht immer nur die Täter als Helden verehren, sondern jetzt können auch die Opfer endlich mal Helden sein. Und das ist ein kostbarer Fortschritt unserer gesellschaftlichen Entwicklung, den wir bewahren sollten. Nun sehe ich aber, dass es eine Kaste von Therapeuten gibt, die mir dieses Opfersein dann wieder wegnehmen, indem sie sagen, das muss nicht so sein, sondern ich kann das mit meinen Techniken ja auch wieder zum Verschwinden bringen. Ich habe Philipp Reemtsma jetzt indirekt mit meinen Worten wiedergegeben: die Sorge, dass der kulturelle Fortschritt der Wertschätzung von Opfern wieder zunichte gemacht wird. Und ich denke mal, wenn man eine solche Geschichte in seinem Hinterkopf hat als therapeutischer Akteur, dann ist das schon einmal ganz hilfreich. Nämlich nicht seinen eigenen Verführungen zu erliegen, sondern sich entsprechend zu disziplinieren. Ich kann da einem Kollegen zustimmen, der den Satz gesagt hat: „Wer ein wirklich schweres Schicksal trägt, …”

… ist in der Regel stark genug, es zu ertragen”.

Ja. Das ist natürlich eine maßlose und arrogante Übertreibung, die darin steckt. Weil das ja auch sachlich nicht stimmt. Aber man tut gut daran als therapeutischer Akteur, zunächst einmal davon auszugehen, als ob es stimmen würde. Dass Menschen, die einen leichteren Schicksalsschlag haben, auch in so ein Fahrwasser reinkommen, wo sie denken, sie bräuchten Hilfe, ist klar. Während ein wirklich schweres Schicksal (z. B. NS-Verfolgung) so durchschlagend ist, dass Psychotherapie und auch Psychopharmaka hier einfach nicht mehr zuständig sind.

Mit den Schicksalen der Opfer der Nazidiktatur hast du dich doch auch viel auseinander gesetzt.

Ich hatte fast 20 Jahre lang sehr viel Kontakt mit Naziverfolgten, mit Auschwitz- oder Ghettoüberlebenden. Ich habe Gutachtenaufträge angenommen, weil ich gegen ihre Gesundheitsschäden nach dem Überleben von Auschwitz etwas Gutes tun wollte. Und das hat mich in meiner Haltung sehr verunsichert. Ich hatte Kontakt mit Hunderten von Menschen. Und wenn wir in einen vertrauensvollen Kontakt gekommen waren und das eigentliche Geschäft (Gutachten) natürlich positiv ausgegangen war, erfuhr ich, wie abgrundtief durchschlagend das Schicksal für die ganze Existenz dieser Menschen war, dass dann auch daraufhin später unternommene Psychotherapieversuche das gar nicht erreichen konnten: „Das ist eine andere Dimension. Und wenn Psychotherapeuten sich anmaßen, diese existenziellen Tiefen auch noch technisch beeinflussen zu können, dann tun sie mir weh, dann schädigen sie mich eher.”

Das heißt für uns als Helferinnen und Helfer, in den persönlichen Prozess des Verarbeitens, Verdrängens, Weglebens oder Wegnormalisierens eben nicht unbedingt oder nicht so schnell einzudringen, diese Normalisierung auch zuzulassen. Bedeutet das nicht auch, dass Psychologen nicht nach Erfurt fahren, nicht in die Tsunamigebiete reisen und nicht von der Bundesbahn bei großen Zugunglücken hinzugezogen werden sollen?

Ja, wenn du das so konkret fragst, würde ich das, wenn auch mit Einschränkungen, bejahen. Ich denke mal, in ein Katastrophenfeld größerer oder kleinerer Art gehören die unmittelbaren materiell-technischen Katastrophenhelfer und die für den Körper, für das Überleben des Körpers zuständigen Fachkräfte. Auch die, die hungernde und durstende Menschen mit materiellen Gütern versorgen. Und damit sollte es eigentlich auch genug sein. Vielleicht nicht ganz genug, weil es in der Tat bei all diesen Gruppen von Menschen Einzelne gibt, die relativ bald auch schon in eine Spirale geraten, die sie psychisch noch kaputter macht als das Trauma es eigentlich bewirkt hat, in eine Selbstzerstörungsspirale hinein. Gut, wenn man dann nach einer gewissen Zeit und garantiert erst in der zweiten Linie jemanden findet, der dies unterscheiden kann. Darum geht es mir eigentlich, dass man unterscheiden kann, wo die wirklich lebensnotwendige aktive therapeutische Hilfe erforderlich ist und wo in der größeren Mehrzahl der Fälle dieses alles eher sogar schädlich und wenig hilfreich wäre.

Alle Menschen haben Selbstheilungskräfte, die helfen, Eigenverantwortung für die persönliche Entwicklung zu übernehmen, das heißt auch, die belastenden Konsequenzen der traumatischen Erfahrung selbst zu bewältigen oder mit Hilfe von Verwandten oder Freunden. In einem Interview, das PiD vor längerer Zeit mit einem Lokführer geführt hat, wurde deutlich, dass der Sozialraum der Bahn der wichtigste Ort nach einer traumatischen Erfahrung ist, wenn sich z. B. ein Mensch vor den Zug geworfen hat. Nicht die psychologische Hilfe, sondern das Gespräch mit den Kollegen, die sich auch auskennen, wird aktiv gesucht und als beste Bewältigungsmöglichkeit angesehen.

Ich habe ein Gespräch mit dem SPIEGEL gemacht, und die Zuschriften, die ich daraufhin bekommen habe, haben mich teilweise geradezu erschüttert. Das Elend von Katastrophenhelfern ist noch wesentlich größer als ich es bis dahin theoretisch vermutet hatte. Ich habe Zuschriften von Leuten gekriegt, die bei Flugzeugabstürzen dabei waren. Und die sagten: „Früher haben wir unseren Job getan, heute ist das so, da müssen wir uns durch ein ganzes Heer von Psychohelfern durcharbeiten, um überhaupt an unser Geschäft zu kommen. Die schauen uns auch immer über die Schultern, fragen, wie es uns jetzt geht.” Es geht also um die Respektierung, dass ich es erst einmal mit dem Austausch mit vertrauten Menschen genug sein lassen möchte. Aber das ist die Kultur, die nicht mehr zugelassen wird und die dann oft zu schädigenden Prozessen führt. Natürlich kann es auch verführerisch sein, mich eben nicht erst einmal zurückzuziehen. Der Kontakt mit meinem eigenen Inneren und dann vielleicht mit meiner Frau oder mit meiner Familie oder mit den Freunden oder mit den Berufskollegen darüber zu reden, ist natürlich auch mit Schmerzen und mit Anstrengung verbunden. Und es ist verführerisch, wenn jetzt Leute von rechts und links kommen und sagen, dieser Anstrengung musst du dich nicht unterziehen, da haben die heute viel bessere und wirksamere Methoden, das tut dir gar nicht so sonderlich weh und das kriegen wir dann schnell weg, wenn du dich uns anvertraust.

Es ist ja schon ungewöhnlich, dass im Katalog der psychischen Erkrankungen die posttraumatische Belastungsstörung eine Aussage über die Ursache macht, während fast alle anderen psychischen Erkrankungen, Störungen schwerpunktmäßig Symptomatik beschreiben wie z. B. Angsterkrankung, Depression, Zwangserkrankung, Psychose usw.

Ja, das ist in der Tat auffallend. Es ist ja ein weltweites Übereinkommen, in dem Experten sich einig sind: Das mit den Ursachen hat einen Rest von Metaphysik. Und deshalb wollen wir in den heutigen modernen Zeiten lieber darauf verzichten und beschränken uns auf Symptombeschreibungen. Und nun, als Ausnahme von der Regel, als neue Errungenschaft, bringen sie dieses Traumakonstrukt jetzt in die Nosologien hinein.

Damit wird dann auch bei den einzelnen Betroffenen festgeschrieben, dass eben die Symptome, unter denen sie leiden, vom Trauma - und von nichts anderem - herrühren. Denn die betroffenen Menschen leiden ja eben nicht unter dem Trauma, sondern unter Schlafstörungen, unter Suizidgedanken, unter immer wieder aufkommenden und sie verfolgenden Gedanken, unter Depressionen.

Ja, einmal ist das Ganze eben im Trend. Und zweitens ist es natürlich auch gefährlich, weil es den eigentlich heute nicht mehr möglichen und nicht mehr erlaubten Ursachenglauben wieder auffrischt und lebensbestimmend für einen Menschen macht. Deswegen kam ich zu Anfang auf die Analogie der Hirnmythologie. Dieses kausale Denken, diese Begeisterung dafür, dass wir alles, was jetzt an schrecklichen Dingen passiert, an Krankheiten, Störungen, jeweils auf eine benennbare Ursache zurückführen können. Das schien überwunden zu sein, was ich als einen echten Fortschritt der letzten Jahrzehnte in der Entwicklung verzeichne. Und nun kommt dieser Rückfall, ich sage mal in die Kausalitätsbarbarei. Das gilt sowohl für das Traumadenken und parallel dazu, und dadurch sich gegenseitig verstärkend, ist es diese Möglichkeit, dass man jetzt das Hirn mit bildgebenden Verfahren abbilden kann.

Kannst du das näher erläutern?

Jetzt weiß man, dass die Freiheit des Menschen eine Fiktion war und dass die Menschen eigentlich determiniert sind. Es wird der gleiche Denkfehler gemacht wie am Ende des 19. Jahrhunderts: Die Wissenschaft maßt sich die Entscheidung der Fragen an, ob es (nur zum Beispiel) die Freiheit des Menschen gibt oder nicht gibt, wobei schon die Frage unzulässig ist. Als wenn wir das wiederholen müssten, als wenn wir das noch nicht genug bearbeitet hätten: diesen Fehler, den wir gemacht haben, den wir ja bearbeitet hatten, nicht zuletzt auch am Beispiel der Verbrechen der Nazizeit. Wir scheinen trotzdem noch einmal etwas wiederholen zu müssen.

Welche Konsequenzen hat deine Einstellung zu Psychotraumata jetzt für die psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfe? Es wird in übereinstimmenden Konzepten davon gesprochen, dass eine psychische Stabilisierung herbeizuführen ist, mit dem Trauma zu konfrontieren und die Integration des Traumas und seiner Folgen in die Persönlichkeit und die Lebensgeschichte herzustellen ist. Aber du sprichst mit deiner Kritik ja eine Grundhaltung an, die allen betroffenen Patientinnen und Patienten von uns Fachleuten entgegengebracht werden sollte. Wie sollten wir diesen Menschen begegnen?

Ich denke mal, von meiner Grundhaltung her muss mein wichtigstes Anliegen darin bestehen zu unterscheiden, ob hier einer der selteneren Fälle vorliegt, wo ich unmittelbar, gewissermaßen um Leben zu retten, materiell wie immateriell massiv eingreifen muss, sei es therapeutisch, sei es mit Psychopharmaka, sei es auch mit stationärer Aufnahme etc. Dies zu trennen von der ja wesentlich größeren Zahl derer, wo ich zunächst einmal mir die Suggestion zu machen habe, dass dieser Mensch, dem aktuell dieses Trauma widerfahren ist, mit dessen Konstellation, mit dessen Lebensgeschichte am besten beraten ist, wenn ich ihn dazu ermutige, dass er damit alleine zurechtkommt, dann sekundär natürlich unter Zuhilfenahme seiner eigenen Ressourcen, die er in seinem Umfeld hat. Also etwa mit Robert Gernhardt auf die Frage: „Warum ich?” zu antworten: „Warum mich?”

Für freiberuflich tätige Psychotherapeuten eine große Herausforderung …

Ich weiß, dass das heutzutage so gut wie nicht geht. Viel teure Zeit im Gespräch oder in Gesprächen mit einem Menschen, die zum Ergebnis haben: Ich will dir nicht helfen, weil ich denke, es sei besser für dich, wenn du dir selber hilfst. Also das kann ich ja nirgendwo abrechnen. Aber es ist meine Einstellung, so diesem Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so mit ihm umzugehen und zu sagen: Das kannst du eigentlich ganz gut … wenn du mal guckst, da und da hast du schon mal ähnlich … so, jetzt machst du es auch … nimmst nur noch ein bisschen Hilfe von außen … hadere nicht mit deinem Schicksal … warum denn gerade ich … warum denn gerade nicht du. Also mit all diese Schmerzen verursachenden Härte, wo man jemanden auf sich und seine eigene Selbsthilfe zurückwirft.

Zahlt es sich jetzt negativ aus, dass die Beratungsangebote für Hilfe suchende Menschen in den letzten Jahren so radikal entsorgt wurden.

Selbst das weiß ich nicht so genau. Aber jedenfalls: Der Psychotherapeut ist immer mehr gezwungen als Wunscherfüller, diesem Kunden zu willfahren, oft auch gegen sein eigenes Empfinden, dies zu tun, weil er keinen dritten Weg findet. Das ist einer der Gründe, warum ich, das sage ich jetzt mal an dieser Stelle, warum ich immer noch mit nostalgischer Freude und Begeisterung an die Kampfzeit der Psychiatriereform erinnere, wo wir in den 70er-Jahren bis Anfang der 80er-Jahre in der großen Gemeinsamkeit zwischen der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie und den Gesprächstherapeuten uns geeinigt hatten: Wir müssen die Verbesserung der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung, und zwar vor allem die Gleichberechtigung zwischen ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten um jeden Preis erkämpfen, aber wir wären gut beraten, wenn wir sagen würden, das sollte im Angestelltenverhältnis entstehen, damit die Kommunen ihre Daseinsfürsorge ernst nehmen.

Das leitet ja schon zum zweiten Teil unseres Interviews über, das am Ende dieses Heftes abgedruckt ist. Ich hätte an dieser Stelle noch eine ganz persönliche Frage: Du hast im Laufe deines Lebens selbst zahlreiche Belastungen und Krisen durchlebt, durchleben müssen, eine Enkelin von dir ist im Wachkoma gestorben. Du selbst hattest eine Krebserkrankung, eine wichtige Kollegin und Freundin, Ursula Plog, ist sehr früh gestorben. Es gab einen Krankenpfleger in der Inneren Abteilung während deiner Zeit als Leitender Arzt der Westfälischen Klinik für Psychiatrie in Gütersloh, der Patientinnen und Patienten gezielt getötet hat. Wie bist du in deinem Leben mit diesen vielen Herausforderungen und Krisen umgegangen? Hättest du dir nicht auch manchmal psychotherapeutische Hilfe gewünscht?

Auf die Idee bin ich nie gekommen. Mag merkwürdig klingen. Ich habe aber, bevor alles dieses passiert ist - jedes Ereignis war belastend, gleichzeitig aber auch wahnsinnig lehrreich - vielleicht das schwerste biografische Leiden erfahren, nämlich den plötzlichen Tod meines Vaters. Ich war 41 Jahre, und von einem Tag zum anderen war er tot. Und ich war völlig unvorbereitet. Ich hatte jahrzehntelang meine Auseinandersetzung mit ihm, insbesondere über die Nazizeit, und ich wollte ganz viel noch mit meinem Vater reden. Und das war nun von einem Tag zum anderen abgeschnitten. Ich habe darunter wirklich gelitten wie ein Vieh, und ich war dann zwei Jahre lang am Stück eigentlich depressiv. Ich habe diese Zeit durchlitten, um dann nach diesen zwei Jahren völlig überrascht zu werden von der rückschauenden Erkenntnis, dass genau diese zwei Jahre ja das kostbarste Geschenk meines Vaters waren, was er mir zurückgelassen hat. Danach war ich eigentlich irgendwie ein anderer Mensch, ich war ein ganzes Stück gereift. Und ich habe erfahren, wie wichtig es ist, wenn etwas Schreckliches passiert, dies als Chance zu begreifen, auch die Gefahr des Misslingens. Aber es zumindest zu versuchen. Nur dann kann aus der Chance etwas werden, wobei ich immer natürlich einschränkend sagen muss: Es kann auch mal die Grenze dessen überschritten werden, wo das möglich ist, dann ist der richtige Zeitpunkt für die konsequente therapeutische Hilfe gegeben. Aber wichtig ist, dieses zu unterscheiden und zunächst einmal alles auszuloten, wie ich das selber hinkriegen kann, um davon zu profitieren.

Wie konntest du das dann auf die Erfahrung mit dem Krankenpfleger in deiner Klinik übertragen?

Aus Fürsorgepflicht hatte der Träger, der Landschaftsverband Westfalen, mir nach diesen Tötungen angeboten, mich zu suspendieren, weil ich ja doch so verletzt worden sein müsste durch das, was da passiert ist, dass doch eine dringende Schonung erforderlich wäre. Gott sei Dank hatte ich das mit meinem Vater schon hinter mir, sonst wäre ich vielleicht darauf reingefallen. Ich habe das mit aller Schroffheit von mir gewiesen, nämlich die damals 600 Mitarbeiter in dieser Klinik allein zu lassen und mich dann in irgendeinen Schonraum zurückzuziehen. Und ich habe genau das Gegenteil getan. Ich habe dem Verwaltungs- und dem Pflegeleiter gesagt: Jetzt ist eine Notstandssituation, jetzt übernehme ich die Verantwortung alleine. Ihr könnt euch zurückziehen, und alle Pfeile sind auf mich zu richten. Das hat einerseits schon sehr geholfen. Andererseits haben mir Leute mit Erfahrung in solchen Krisen geraten, ich solle das möglichst schnell unter den Teppich kehren, das ungeschehen machen, damit das Vertrauen der Bevölkerung wieder hergestellt wird. Und da wusste ich haargenau, dass das das Einzige ist, was ich nicht machen dürfte.

Du hast damals gesagt: „Die Toten des Herrn L. sind nicht nur seine Toten.”

Ja, ich habe mich zu meiner moralischen Schuld bekannt, weil wir - wie das immer so ist - Frühwarnsymptome übersehen hatten. Ich habe gesagt: Das ist unsere Schuld und unser Vergehen, nicht nur das des Täters, sondern das ist unser eigenes Ding. Und ich habe dann - und da bin ich heute noch stolz darauf - eine Kultur des Diskutierens geschaffen, die über ein Jahr lang gehalten hat. Wir haben über die ganze Klinik immer wieder die Diskussion angeleiert und sorgfältig alle Gedanken gesammelt, die diese 600 Mitarbeiter (in dieser einmaligen Offenheit, solange die Krise als noch gegenwärtig empfunden, das Faktum nicht geleugnet werden konnte) zu diesem Fall produzieren konnten, was ihre eigenen Anteile dabei gewesen sind, wie man ein solches Ereignis etwas unwahrscheinlicher machen könnte und Ähnliches mehr. Und daraus haben wir einen ganzen Katalog von Hilfemaßnahmen entwickelt, die damals von fast der Hälfte der deutschen Krankenhäuser herangezogen worden sind[1]. Und ich habe viele Rückmeldungen dazu bekommen, dass viele Krankenhäuser damit gearbeitet und davon sehr profitiert haben. Das war aber nur dadurch möglich, dass ich die Sache zu meiner Sache gemacht habe und keinen anderen Menschen daran gelassen habe. Das war die Voraussetzung dafür, sich dem Widerfahrnis auszusetzen, besser: das Unerträgliche unerträglich sein zu lassen und gerade dadurch das halbwegs Beste daraus zu machen.

Herzlichen Dank, Klaus Dörner, für dieses zum Teil auch sehr persönliche Gespräch.

1 „Erfolgreich behandeln - armselig sterben.” Neumünster: Paranus, 1998.