PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(4): 441-445
DOI: 10.1055/s-2006-951822
Im Dialog
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zum Verhältnis von (Sozial-)Psychiatrie und Psychotherapie: Rückblicke und Visionen

Klaus  Dörner im Gespräch mit Steffen  Fliegel
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Publikationsdatum:
29. November 2006 (online)

PiD: Ich freue mich besonders auf dieses Gespräch mit dir. Ich möchte mit dir sprechen über das Verhältnis von Psychotherapie und Psychiatrie, eine in der psychiatrischen Versorgung derzeit problembelastete Beziehung. Du kannst als Sozialpsychiater mit nun 73 Lebensjahren einen unbelasteten Blick auf diese beiden Bereiche richten. Und ich möchte mit dir darüber reden, was aus der Psychiatriereform geworden ist und welche Visionen du hast.

Klaus Dörner: Vielleicht können wir damit ja unsere Gemeinsamkeiten aus den 70er-Jahren aufgreifen, als wir in der Arbeit an der Psychiatriereform die Idee hatten, dass die psychologischen Psychotherapeuten gleichberechtigt arbeiten sollten. Aber gemeindepsychiatrisch eingebunden, ohne Marktzwänge.

Du hast einmal Davila zitiert: Ein Problem, das nicht in irgendeiner Hinsicht einen religiösen Aspekt hat, sei kein bedeutendes. Und später zitierst du den praktizierenden Philosophen Achenbach, der die praktische Philosophie oder die philosophische Praxis als Alternative zur Psychotherapie und Seelsorge betreibt. Jetzt bin ich mal gespannt, was in einem Buch von dir zu lesen wäre mit dem Titel: „Der gute Psychotherapeut”?

Das nimmt Bezug auf den „guten Arzt”, und ich fang mal bei dem an, was du zur religiösen Dimension gesagt hast. Damit meine ich nicht gemeinhin Religion, insofern war das auch nicht besonders gelungen formuliert. Ich bin seit etwa zehn Jahren geprägt von dem französischen Philosophen und Rabbilehrer Emmanuel Levinas. In einem Satz zusammengefasst sagt dieser: Wenn wir mit Menschen umgehen oder wenn Menschen uns widerfahren, ist es immer so, dass sie uns zunächst widerfahren, bevor wir sie erfahren. Da ist nicht nur eine aktive, sondern auch eine passive Dimension in allen Beziehungen enthalten. Wir sollten die gesamte europäische Denktradition zu Hilfe nehmen.

Europäisches Denken und damit auch mein heutiges Denken, besteht im konkreten Kontakt mit einem Patienten immer aus zwei Hälften: Die eine Hälfte, die haben wir von den Griechen, und die andere Hälfte haben wir von der Bibel. Und als Historiker kann ich sagen, auch mengenmäßig kommt das mit den zwei Hälften ganz gut hin über die 2000 Jahre. Das griechische Erbteil besteht darin, dass man immer davon ausgeht, dass das Ich das Zentrum der Aktivitäten sei, das aktiv den anderen sich aneignen will; und das biblische Denken geht komplementär davon aus, dass immer der andere das Aktionszentrum ist, in dessen Dienst ich mich passiv nehmen lasse. In der Figur des anderen kann ich konkret einen anderen Menschen sehen, der mir gegenüber ist. Damit kann ich auch Gott meinen, oder ich kann auch von einem Mischungsverhältnis aus beiden ausgehen. Und mit dieser Grundhaltung sollte ich in eine Begegnung mit einem Not leidenden Menschen oder Patienten eintreten. Da kann man schon einmal wenig falsch machen, zumal Levinas noch hinzufügt: Europa war immer gut beraten, nicht eine der beiden Denkweisen auf Kosten der anderen stärker zu machen.

Dennoch liegt in den beiden Denkweisen eine vielleicht konstruktive Spannung begründet.

Natürlich, dieses Spannungsverhältnis, jetzt auf den einzelnen Menschen bezogen, bedeutet, dass er einmal getrieben ist von seinem Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung; und auf der anderen Seite aber auch von seinem von ihm meistens heute weniger eingestandenen, aber genauso wichtigen, vital wichtigen Grundbedürfnis, Bedeutung für andere zu haben. Denn das Versprechen der Moderne ist inzwischen widerlegt, dass jeder Mensch hinreichend viel Sinn für sein Leben allein aus sich selbst heraus entwickeln kann. Vielmehr brauche ich, um hinreichend viel Sinn zu haben oder hinreichend viel Bedeutung für mein Leben zu haben, dummerweise den anderen. Und nur über den Umweg über den anderen und darüber, dass ich Bedeutung für andere habe, kann ich genug Selbstachtung haben, dass ich mein Leben überhaupt bereit bin zu leben.

Dies als Grundhaltung macht den guten Psychotherapeuten aus. Ein Psychotherapeut, der mit solcher Grundhaltung in die Beziehung zu seinen Patienten einsteigt, sollte zunächst darauf achten, genug Abstand entstehen zu lassen. Das ist wie bei dem Wahrnehmen mit den Augen. Ich kann nur klar sehen, wenn der Abstand stimmt. Und erst dann, wenn beide Seiten, der andere und ich, den Eindruck haben, jetzt stimmt der Abstand zwischen uns, dann kann ich im Schutz dieses Abstandes auch Nähe wagen. Und wehe, ich drehe diese Reihenfolge um: Dann erfolgt Aneignung des anderen durch mich. Kriterium für gute Psychotherapie ist daher, in der Beziehung, die ich mit dem anderen kultiviere, zu einem gleichsinnigen Wachsen von Abstand und Nähe zu kommen.

Du bist Sozialpsychiater, hast dich aber in deiner politischen Arbeit auch immer für die Psychotherapie eingesetzt, wie auch dafür, dass Psychologinnen und Psychologen gleichwertige Partner in der psychotherapeutischen Versorgung werden. Du hast gesagt, die Psychiatrie ist eine soziale Psychiatrie oder keine Psychiatrie. Wir kommen immer wieder auf das Zusammenspiel zwischen Helfer, Patient und dessen sozialem Umfeld. Die Psychotherapie hat früher die Sozialpsychiatrie kritisiert, weil sie die individuelle Lebensgeschichte des Patienten vernachlässigt hat, die Sozialpsychiatrie hat die Psychotherapie kritisiert, weil sie eben die sozialen Kategorien außen vor gelassen hat. Müssen wir heute eigentlich auch sagen, wie Matthias Hermer es formuliert hat, die Psychiatrie ist eine Psychotherapie oder keine Psychiatrie?

Also zuerst einmal bin ich natürlich stolz auf das, was du eben zitiert hast, dass mir in meiner damaligen Einführung beim 1. Kongress für Sozialpsychiatrie hier auf deutschem Boden, den Ursula Plog und ich organisiert haben, das war 1969 oder 1970, dass mir damals dieser Satz gelungen ist zu sagen, die Psychiatrie muss eine soziale sein oder sie ist gar keine Psychiatrie. Denn seither hat sich mir dieser Grundsatz bewährt: Gerade wenn ich von etwas begeistert bin, tue ich parallel alles, um das infrage zu stellen, damit ich in meiner Begeisterung von der Realität nicht abhebe. Das hat natürlich Auswirkungen gehabt auf mein Verständnis von Sozialpsychiatrie, ich habe das Wort nie so furchtbar gerne gemocht, wenn schon, dann lieber Gemeindepsychiatrie, das ist konkreter. Außerdem ist Sozialpsychiatrie irgendwie mit einer Polemik verbunden, weil man sagt, nur wir Sozialpsychiater sind sozial, alle anderen Psychiater und Psychotherapeuten sind nicht sozial, was ungerecht und albern ist.

Eigentlich gibt es in den letzten zehn Jahren doch ein Dreierverhältnis, für das sich der Begriff Trialogbewegung etabliert hat, ein Dreierverhältnis zwischen den psychiatrisch Tätigen, den Patienten und den Angehörigen.

Das Verhältnis zwischen dem psychisch Kranken und dem psychiatrisch Tätigen ist zunächst eine dialogische, in der es um diese Isolation zu zweit auch gehen darf, eine Kultur, in der der eine die Voraussetzung dafür schafft, dass jemand anfangen kann, wieder über sich selber nachzudenken, sich zu reflektieren und sich möglicherweise dann auch zu verändern. Dass dieses aber trialogisch eines nun auch Dritten bedarf, fügt der Sozialpsychiater hinzu. Denn diese dialogische Beziehung, die ist zwar schon eine ganz, ganz wichtige mit existenziellem Tiefgang, ist aber sozial unverbindlich. Was die beiden in ihrem Kämmerchen miteinander treiben, bleibt deren Intimität. Es kommt aber darauf an, im ganzen psychotherapeutischen, psychiatrischen Geschäft, Selbstveränderungen so zu kultivieren, dass sie auch nachhaltig haltbar sind. Und das geht nur, wenn die Figur des Dritten ins Spiel kommt. Erst der Dritte erweitert den Dialog zwischen zwei Menschen aus einer linearen in eine flächige, sozialräumliche Dimension und sozialisiert diese Beziehung. Und deswegen sind beide Denkweisen gleich wichtig.

Das heißt, dass die Psychotherapie ihre Zusammenhänge herstellen sollte, die das individuelle Leid eben auch als allgemeines Leid für den Betroffenen definieren helfen.

Das weiß ich nicht genau, ob das Aufgabe der Psychotherapeuten schon selber wäre. Ich habe das jetzt hier mal auf die Figuren des Psychotherapeuten und des Sozialpsychiaters verteilt. Und erst einmal zum Eindenken ist das ganz gut, man lässt das mit verschiedenen Rollen spielen. Dann ist der Psychotherapeut wirklich der, der sich berechtigterweise auf diese Dyade auch beschränken kann, denn das ist seine Stärke. Aber er bedarf des Sozialpsychiaters, des Repräsentanten dafür, dass die Dyade nur sozial geerdet wirksam sein kann, wenn sie in einem Umfeld ist, in dem auch die anderen, die Angehörigen, auch die anderen Bürger, als sie selbst ernst genommen sind. Nachdem man das so methodisch auseinander gefaltet hat, hast du wohl Recht, dass das für jeden Einzelnen von uns, egal ob als Psychotherapeut oder als Sozialpsychiater, dann auch wieder zusammenzubringen ist.

Wäre es daher nicht sinnvoll, dass sich die verschiedenen Ebenen auch in einer Person widerspiegeln, dass der Psychotherapeut und die Psychotherapeutin eben auch sozialpsychiatrische Haltung verinnerlicht haben und entsprechende Methoden anwenden und der Sozialpsychiater wie die Sozialpsychiaterin auch psychotherapeutisch gebildet sind?

Ja, ich habe das ganz bewusst mal so methodisch auseinander gehalten. Für die Praxis muss das natürlich die Folge haben, dass jeder einzelne therapeutische Akteur diese verschiedenen Sichtweisen in sich zu vereinigen hat. Der vorhin beschriebene Abstand ist mehr die soziale Dimension, und die Nähe ist mehr die psychotherapeutische Dimension. Beides zusammen nennt übrigens Levinas die „beziehungslose Beziehung”.

Es heißt ja auch, dass der jeweils einzelne Helfer, sei er Arzt oder Psychologe, Spannungen aushalten muss, die aus dem Versorgungssystem, aus dem berufsständischen Denken verschiedener Gruppierungen kommen, weil eben nicht alles in einer Person zu verwirklichen ist und Konkurrenzen existieren.

Natürlich. Aber muss das System so bleiben? Können wir nicht wirklich auf dem Gesetzgebungswege dahin kommen, dass psychisch wirksame Leistungen nicht von irgendwelchen anderen Interessen, von ökonomischen Interessen gesteuert werden? Kann nicht verhindert werden, dass ich meine Ressourcen nicht nach der Dringlichkeit verteile, sondern nach Sympathie oder nach Profit? Da ist zum Beispiel im Angestelltenverhältnis die Wahrscheinlichkeit größer, das so hinzubekommen, wenn auch da nicht garantiert.

Die Sozialmediziner sprechen an der Stelle gerne von dem Inverse-care-Law, also dem umgekehrten Sorgegesetz auf Deutsch. Diesen Begriff hat J. T. Hart, ein walisischer Arzt, der mit Bergarbeitern zu tun hatte, mal geprägt. Dies besagt, dass die Hilfen in der Medizin, wenn man nicht aufpasst und gegensteuert, in einem marktgesteuerten Medizin-/Gesundheitswesen immer dort hingehen, wo sie am wenigsten gebraucht werden. Und die Menschen, die sie am meisten brauchen, die bekommen am wenigsten. Und das scheint mir in der Tat ein ziemlich universal geltendes Gesetz zu sein. Konkret: Meinetwegen ein niedergelassener Psychiater kann es sich kaum mehr leisten, chronisch psychisch Kranke oder chronisch Schizophrene zu behandeln. Das kostet derart viel Zeit und bringt so wenig, dass er dann an den Bettelstab geraten würde. Und wenn ich jetzt dagegen das Heer der eher Leichtgestörten in der Praxis des marktgesteuerten niedergelassenen, jetzt ist es mir egal, ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten sich täglich vermehren sehe, was dann dazu führt, dass gleichzeitig bei der Hitliste der Frühberentungen die psychischen Erkrankungen an die erste Stelle geraten sind. Und gleichzeitig wissen die Krankenkassen nicht mehr, ob sie mehr stöhnen sollen über die Kosten der Alterspflegebedürftigen und Dementen oder die noch rasanter zunehmenden Kosten dieser neopsychisch Kranken. Dann wachsen wir in einen Misstand hinein, wo man ohne drastische Eingriffe von oben, also vom Gesetzgeber, unser System nicht mehr in den Griff bekommt.

Ursula Plog hat in euerem „Irren ist menschlich” eine „gefährliche Dichotomisierung” aufgezeigt, die das Wort „statt” gebraucht: Psychotherapie statt Medikamente, Körper statt Psychotherapie. Man könnte daher jetzt einen anderen Trialog aufmachen, nämlich den Trialog zwischen Sozialpsychiatrie, Psychotherapie und Neurowissenschaften. Würde dieser Trialog Fortschritte bringen?

Das wäre dann sozusagen eine anthropologische Dreiteilung. Dass der Mensch ein körperliches, seelisches und soziales Wesen darstellt, dagegen ist ja wenig einzuwenden. Dass man für diese drei Seiensweisen des Menschen dann auch drei wissenschaftliche Richtungen hat, die sich daraufhin spezialisieren, zunächst mal speziell für ihre Perspektive sich auszubilden, finde ich eine Arbeitsteilung, die man auch weiter kultivieren sollte. Dann muss es aber auch gelingen, die drei Perspektiven wieder zu einer Perspektive zusammenzubringen und nicht sie zu Parallelgesellschaften zu machen. Das gibt es ja schon zur Genüge mit oft verdoppelten Angeboten im psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen Behandlungssystem, sowohl im ambulanten als auch vor allem im stationären Bereich. Das ist ein Missstand, wie ihn nun kein Mensch auf der ganzen Welt versteht und der eine Besonderheit der Deutschen ist. Es ist ein Beispiel dafür, etwas mit Vernunft nicht zu ändern, weil die Interessen so massiv sind, dass sich jeder die Zähne daran ausbeißt. Das kann nur durch eine drakonische gesetzgeberische Änderung wieder normalisiert werden. Und die ist natürlich in keiner Weise in Sicht.

Kommen da nicht manchmal Sehnsüchte auf nach deinen früheren Vorstellungen, die du damals ja sehr intensiv mitvertreten hast, Standardversorgungsgebiete zu schaffen, psychosoziale Kontaktstellen, die betroffene Menschen aufsuchen können, damit sie eben ihren richtigen Ort für Hilfe finden können?

Na ja, das müssen keine Sehnsüchte sein, es ist ja viel schlimmer. Es ist ja so, dass in den letzten 30 Reformjahren alle diese Kontaktstellen und Tagesstätten und Tageskliniken und Clubs, Beratungsstellen usw. fast flächendeckend realisiert worden sind. Nur gleichzeitig sind parallel dazu die Zahl der Heimplätze für die chronisch Kranken nicht reduziert, sondern immer weiter ausgebaut worden, kontinuierlich bis heute. Das gilt sowohl für psychisch Kranke wie auch für geistig Behinderte und für die Alterspflegebedüftigen sowieso. Und wenn man sich das selbstkritisch nahe kommen lässt, dann kann man eigentlich nur vor Scham in den Boden sinken. Das alles haben wir als gemeindenahe psychiatrische Infrastruktur mit unglaublich vielen schönen attraktiven Arbeitsplätzen den Politikern, als es noch Geld gab, aus den Rippen geschnitten. Wir haben gesagt, das ist für diese armen chronisch psychisch Kranken, die in den Anstalten sitzen. Und dann bekamen die Politiker Tränen der Rührung und haben uns das alles bewilligt.

Und wenn du jetzt Bilanz ziehst …

… dann müssen wir sagen: Liebe Politiker, wir haben euch betrogen. Die chronisch Kranken, die sind so wenig Erfolg versprechend. Sie sind so lästig und ärgerlich, dass wir sie lieber in die Heime verschoben haben. Und diese wunderbare psychiatrische Infrastruktur nutzen wir jetzt für diese nachwachsenden, sich auch in psychotherapeutischer Behandlung befindenden leichteren Ausprägungen der psychischen Störungen, die Befindlichkeitsstörungen, wofür sie aber eigentlich nicht gedacht war. Diese Gruppe nenne ich die neopsychisch Kranken, weil es auch ein neoliberales Phänomen ist, dass es sie überhaupt gibt; denn vor 30 Jahren hätten wir die meisten von ihnen zur Spielbreite des Normalen gerechnet. Und was Sozialpsychiatrie angeht, ist das insofern ein Desaster vom Grundsatz her. Es gibt Ausnahmen davon, aber vom Grundsatz her muss man es so einschätzen. Und insofern bin ich natürlich mit dem, was wir bisher erzielt haben, überhaupt nicht zufrieden, sondern im Gegenteil sehr deprimiert. Ich schäme mich auch. Viele dieser Tendenzen habe ich ja mitverursacht und die negativen Folgewirkungen nicht hinreichend bedacht.

Könntest du aus heutiger Perspektive noch einmal die Zeit in der italienischen Psychiatrie einschätzen, als die Großkrankenhäuser zunächst geöffnet und dann geschlossen wurden und die psychisch kranken Menschen in ihre Heimatorte geschickt wurden, wo ja dann leider versäumt wurde, die entsprechenden Hilfen und Unterstützungen gemeindenah vorzuhalten.

Damals sind in Italien mehr Theoretiker mit viel politischem Elan in die Praxis runtergestiegen. Es wurde wenig von den Bedürfnissen, von der Situation des einzelnen psychisch Kranken aus gedacht. Deswegen hat man dann die Parole ausgegeben: „Die Freiheit heilt.” Und dann wurde den chronisch Kranken in den Anstalten gesagt: So ihr seid jetzt frei. Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt, ihr könnt aber auch unsere Gäste sein. Und das hat dazu geführt, du hast es angedeutet, dass viele dann auf die Straße gegangen sind oder in Obdachlosenasyle oder in Gefängnisse oder in privat aufgemachte Wohnheime oder eben in ihre Familien. Die waren dann völlig überfordert. Es ist ziemlich katastrophal gewesen. Aber während unsere Aufmerksamkeit immer nach Italien ging, haben die Skandinavier wirklich vom einzelnen psychisch Kranken und Behinderten her gedacht und ihre ganzen kommunalen Denktraditionen umgesetzt. Was die Italiener versprochen, aber - von guten Ausnahmen abgesehen - nicht erreicht haben, haben die Skandinavier auf ganz stille Weise geschafft, ohne dass ein Mensch das groß mitbekommen hat, sodass es jetzt praktisch keine Heime mehr gibt für psychisch Kranke und geistig Behinderte. Alle leben in eigenen Wohnungen, kommunal integriert. Und an denen haben wir uns zu orientieren.

Viele Fachleute spezialisieren sich. Sind eigentlich Spezialisierung und Gemeindepsychiatrie miteinander vereinbar?

Das ist eine schwierige Sache. Es gibt eine Relation. Je regional hochzoniger die jeweilige Einrichtung ist, desto eher ist auch in gewisser Hinsicht Spezialisierung legitim. Je mehr ich das auf den Sozialraum der Gemeinde, das Viertel, die Dorfgemeinschaft, die Nachbarschaft herunterbreche, also damit auch alltagsweltlich mache, desto eher hat Spezialisierung zu verschwinden. Das gilt sowohl für die Aspekte in der Medizin, im Gesundheitsbereich, in der Psychiatrie wie auch im sozialen Bereich, das gilt ziemlich allgemein. Denn je unterschiedlicher Menschen sind, desto eher haben sie sich ja auch was zu erzählen und die Gefahr von Spezialisierung ist beziehungstötende Monokultur.

Der Name Klaus Dörner ist ein Inbegriff für soziale Psychiatrie und Gemeindepsychiatrie und hat vieles mitgeprägt, was in den letzten 20, 30 Jahren in Deutschland an Versorgungsveränderung passiert ist. Wenn du heute zurückblickst, welche positiven Entwicklungen kannst du für die Psychiatrie oder Sozialpsychiatrie verbuchen?

Eben, immer weniger … doch ich sehe etwas, und es ist beschämend genug, es ist die ökonomische Not. Plötzlich können Heimbetreiber ihre Heimbewohner entweder alle oder zumindest einen großen Teil auf der Stelle auch in das ambulante Leben entlassen. - Insofern passiert ja hunderttausendfach täglich Freiheitsberaubung im Amt in Deutschland, nur aus betriebswirtschaftlichem Interesse sind Behinderte Waren. Aber wenn ökonomischer Druck aus der Sozialbehörde kommt, weil eben weniger Geld da ist, geht das plötzlich und schnell, wie gerade ein ganz frisches Beispiel aus Hamburg zeigt, und zwar bei geistig behinderten Menschen. Und dann bewirkt die ökonomische Verknappung den Fortschritt der Sozialpsychiatrie, den du von mir erbeten hast. Völlig makaber.

Trotzdem, es gibt doch bestimmt etwas, auf das du in der psychiatrischen, psychotherapeutischen Versorgung mit Freude und vielleicht auch mit Stolz zurückblicken kannst, weil du maßgeblich daran beteiligt warst?

Ja, zwei Dinge oder drei. Das erste ist, was ich gerade schon gesagt habe, wir haben in Gütersloh es immerhin geschafft, dass wir empirisch beweisen konnten durch eigenes Tun, dass aus einem Einzugsbereich von einer Million Einwohnern sämtliche 435 chronisch psychisch Kranken, egal wie schwierig, wie alt, auch die mit forensischer Vorerfahrung, alle in eigenen Wohnungen leben können. Darauf bin ich am meisten stolz. Also was Norwegen und Schweden für das ganze Land bewiesen haben, haben wir - in Gütersloh zumindest - auch für Deutschland bewiesen, dass das geht. Hat aber kaum Nachahmer gefunden.

Das zweite ist die Entdeckung der Angehörigen. Das kommt aus der Zusammenarbeit mit Ursula Plog hier in unserer Eppendorfer Tagesklinik. Diese war damals neu, und wir haben gesagt, um Gottes Willen, wenn die nachmittags nach Hause gehen, haben die sich bis zum anderen Morgen vielleicht umgebracht. Also mussten wir wissen, mit wem die eigentlich zusammenleben. Und so kamen wir auf die Idee der Angehörigengruppe. Und das war natürlich eine unglaubliche Offenbarung gerade für mich selber. Ich habe nie eine solche Bildungsrevolution mit mir selber erlebt, weil ich bis dahin total stationär- und profihospitalisiert war, und nur der Patient stand im Mittelpunkt. Und diesbezüglich habe ich mich dann doch mithilfe der Angehörigen entlarven können. Und dass das eine gewisse allgemeine Verbreitung gefunden hat mit den Angehörigen, da bin ich schon stolz drauf, auch wenn ich inzwischen lernen musste, dass diese Kultur der Angehörigenaufmerksamkeit oder der Aufmerksamkeit für den Dritten in allen Institutionen nur gegen den Widerstand der Institution durchzusetzen ist. Das ist nie ein Selbstläufer, sondern du musst immer zusätzliche Energie einstecken, dass auch in Institutionen diese Aufmerksamkeit für den Dritten erhalten bleibt, dass auch Angehörige, auch die anderen Bürger erstaunlicherweise eigenständige Menschen sind.

Und das dritte?

Und das dritte ist die Wichtigkeit der Arbeit für psychisch Kranke, verallgemeinert ausgedrückt. Denn Arbeiten ist ja nur eine der Methoden, wie ein Mensch Bedeutung für andere akquiriert, also wie er zu seiner notwendigen Tagesdosis an Bedeutung für andere kommen kann. Und wir haben für die Zuverdienstfirma, für die Selbsthilfefirma, heute sagt man auch Integrationsfirma, in Gütersloh Modelle geschaffen. Und von da aus hat es sich verbreitet. Ist natürlich etwas, was mich schon in gewissem Maße zufrieden stellt.

Klaus Grawe, der leider sehr früh verstorben ist im vergangenen Jahr, hat eine moderne Psychotherapie dadurch skizziert, dass sie immer wieder die Ressourcen der betroffenen Menschen aktiviert und neben der Behandlung der Symptome eben auch die Stärkung der Bedürfnisbefriedigung in den Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit stellt. Wäre das auch in deinem Sinne eine moderne Psychotherapie?

Da kann ich gleich an das anschließen mit der eben benannten Bedeutung für andere. Es scheint mir nämlich, dass von all den Menschen, die heute meinen, psychisch krank zu sein und psychotherapeutisch sich behandeln lassen zu müssen, dieses täglich wachsende Heer, dass der größere Teil von ihnen, nicht alle, eigentlich an einem Mangel an Gelegenheiten leidet, Bedeutung für andere zu haben. Ein Grund, sicherlich nur ein Grund dafür ist, dass die meisten Menschen immer mehr Zeit haben, denke nur an das dritte Lebensalter. Es gibt immer mehr Gruppen, die immer mehr Zeit haben. Ein Zunehmen freier Zeit, das kann man in einem gewissen Umfang genießen, aber von einem bestimmten Punkt an kann man es nicht mehr genießen, sondern man fängt an, darunter zu leiden, weil ein Teil meiner freien Zeit geerdet sein muss. Wenn man all diesen Leuten Gelegenheit gäbe, mehr Bedeutung für andere zu akquirieren, dann werden sie Zug für Zug dieses Bedürfnis, sich als psychisch Kranke behandeln zu lassen, nicht mehr haben. Das wird sich verüberflüssigt haben. Normalerweise kann man das aber nicht freiwillig tun, man muss da schon mit moralischer Erpressung oder anderen nichttherapeutischen, indirekten Methoden arbeiten, das ist völlig menschlich und völlig normal, die Menschheit hat nie anders funktioniert.

Du bist 73 Jahre alt und sehr aktiv. Du schreibst sehr viel. Du hältst Vorträge. Du beziehst Stellung. Du mischst dich ein. An was arbeitest du zurzeit?

Nachdem ich 1996 in den Ruhestand eingetreten bin, also mit dem Weggang von Gütersloh wieder nach Hamburg zurück, hat mich ein Gedanke angetrieben. Ich habe gemerkt, dass mir mit dem Übertritt ins Rentenalter mein theoretisches Wissen darüber, wie ich denn hinterher leben wollte, nichts genützt hat. Das ist eine ganz interessante Erfahrung. Ich habe das für mich dahingehend verallgemeinert, dass man im Übertritt von einer Lebensphase in eine andere vorher nie wissen kann, wie man nachher leben will und wer man nachher sein wird. Das gilt zumindest, wenn man ins Rentenalter geht. Und jetzt auf das Alter bezogen, wenn ich z. B. mal pflegebedürftig werde, wenn ich dement werde, wenn ich sterbend werde, ich werde nicht wissen, wie ich dann leben will. Das heißt, es verbietet sich zum Beispiel jede Patientenverfügung.

Nach zwei Jahren war mir klar, ich will das weiter versuchen, was uns in Gütersloh gelungen ist, die Verüberflüssigung von Institutionsstrukturen, Heimstrukturen für Behinderte, chronisch Kranke. Und ich bin dabei auf den mit Abstand größten Sektor gestoßen, die Altenpflegeheime. Also habe ich mich in den letzten zehn Jahren überwiegend mit den alt gewordenen Menschen beschäftigt. Mit den alterspflegebedürftigen, altersverwirrten, dementen Menschen. Und ich habe immer mehr darüber gestaunt, dass für die dasselbe gilt, was für meine psychiatrischen Langzeitpatienten in Gütersloh galt. Auch sie könnten alle dort leben, wo sie leben wollen, nämlich zu Hause, oder wenn das nun gar nicht mehr geht, zumindest in einer ambulanten Wohngruppe in ihrer Nachbarschaft um die Ecke. Und dort würden sie, weil sie, durch ihren eigenen Beitrag zur Haushaltsführung mit Bedeutung für andere ausgestattet, das Gefühl haben, dass sie nach wie vor Menschen sind und als Menschen dann auch die Augen schließen dürfen. Das geht in Altenpflegeheimen jeden Tag weniger gut. Das ist nicht Schuld der Betroffenen, aber die Schuld der Gesamtentwicklung. Das zu fördern, damit „erde” ich meine freie Zeit.

Das hört sich nach politischer Arbeit an …

Ich habe gelernt, dass ich dabei aufpassen muss. Es ist völlig unsinnig und rausgeschmissene Zeit, wenn man damit an die Entscheidungsträger geht, also an Ministerien oder an Spitzenfunktionäre der Wohlfahrtsverbände oder Sprecher der Fachverbände. Die sind alle in dem alten System so zementiert und unter Druck von Interessenvertretern, dass sie völlig gelähmt sind. Wenn ich weiter runtergehe an die Basis, macht das unglaublichen Spaß, da ist das Denken locker, da versuchen die Leute wirklich die tollsten Sachen auszuprobieren. Also je kleiner die Initiative, die Alzheimergesellschaft, der Ambulante Pflegedienst, das Landratsamt oder was immer auch, desto lieber fahre ich da hin. Da kann ich mehr in Bewegung setzen. Und jetzt bin ich gerade dabei, mal wieder eine Zwischenbilanz zu ziehen. Ich schreibe ein Büchlein mit dem Arbeitstitel „Leben, Altern, Sterben, wo ich hingehöre”, nämlich über die neue bereits wirksame Bürgerbewegung.

Ich bin sehr bewegt von unserem Gespräch. Es sind in erster Linie die Haltungen für die Patientinnen und Patienten sowie die betroffenen Menschen, die du beschreibst. Dass du bei dir keine Ausnahmen machst, ist nur konsequent und beeindruckt mich. Vieles aus der früheren Zusammenarbeit wird wachgerufen und macht mich nachdenklich. Und mir wird auch deutlich, wie wichtig es ist, diese Ansätze und Gedanken in den Aus- und Weiterbildungen zu verankern. Ich danke dir herzlich für dieses Gespräch und wünsche dir und deiner Familie alles Gute, bleib' noch lange gesund und viel Freude bei deinem neuen Projekt für alte Menschen.