PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(2): 209-214
DOI: 10.1055/s-2006-932636
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Das Gehen ist wie ein Röntgenbild der Psyche …”

Marie-Paule  Renaud im Gespräch mit Arist  von Schlippe
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
24. Mai 2006 (online)

PiD: Marie-Paule, du bist Romanistin, Psychotherapeutin und mit Leib und Seele Tangotänzerin bzw. Tangolehrerin. Wie bist du von der Romanistik zum Argentinischen Tango und wie zur Psychotherapie gekommen? Gibt es dazu eine gemeinsame Geschichte?

Marie-Paule Renaud: Ich weiß nicht, ob es eine gemeinsame Geschichte gibt, oder ob alle drei Bereiche sich gegenseitig beeinflusst haben und jeder mit seinen Erkenntnissen die anderen bereichert hat. Eins haben meine drei Tätigkeiten auf jeden Fall gemeinsam: Es geht um Kommunikation und Interaktion, mit sich und mit dem anderen - und es geht auch um das Spielerische und Sinnliche dabei.

Kannst du das noch etwas ausführen?

In meiner Tätigkeit an der Universität habe ich mich in der Linguistik besonders für die Kommunikation von Studenten beim gemeinsamen Verfassen von Theaterstücken in der für sie fremden französischen Sprache interessiert. Spannend ist, wie sich die Studenten mit ihrer Kreativität gegenseitig anstecken. Ein Thema entsteht und das Theaterstück entwickelt sich als gemeinsames Produkt von vielen - in Selbstorganisation. So realisiert ein kommunikativer Prozess eine ästhetische Form.

Ein gemeinsames Kunstwerk.

Ja, Kunst ist das Stichwort für ein weiteres „Objekt” meines Interesses für die ästhetische Kommunikation an der Uni. Ich war neugierig, im Rahmen eines Projekts, „La Sémiologie du Tango”, zu erforschen, welche Motivation Künstler drängt, ihre Kunst im Tango zu leben und zu gestalten. Ich habe mehr als 200 Stunden Video-Interviews durchgeführt mit allen Arten von Tangokünstlern und sie bei der Arbeit gefilmt: Musiker, Sänger, Tänzer, Filmemacher, Radiosprecher, Tangokultur schaffende Persönlichkeiten aus Buenos Aires und Montevideo.

Der Sprung zur Psychotherapie scheint mir von dort recht weit zu sein.

Eigentlich nicht, der Körperbezug ist das Verbindende, jedenfalls für mein Verständnis von Psychotherapie. Es geht ja um die Sprache des Leibes. Hier befasse ich mich mit zwei Bereichen: therapeutisches Theater auf der einen sowie Tango und Leiberfahrung auf der anderen Seite. Da spielt meine frühe Kindheit mit hinein. Meine beiden Eltern waren theaterbegeistert und wir mussten immer kleine Szenen und theatralische Aktivitäten bei Familienfesten produzieren.

Was den Tango angeht, hat mein Vater eine besondere Rolle gespielt. Schon als ich fünf Jahre alt war, hat er mit mir Tango getanzt, und zwar „wirklich”, ohne mich hochzuheben! Meine Eltern haben sehr gern getanzt und beide haben mich in diesen Aktivitäten bestärkt. Daraus entstand später meine Leidenschaft für den Tangotanz und die Tangokultur, sowie für das Theater - ich habe zum Beispiel am Fritz-Perls-Institut das therapeutische Theatercurriculum mit entworfen.

Schon im Studium habe ich mich besonders für therapeutische Vorgänge interessiert. Durch das Tangotanzen bekam ich dann viele Aha-Erlebnisse, sie flossen in meine gestalttherapeutische Arbeit ein und in meine Zusammenarbeit mit einem Jung'schen Psychoanalytiker. Insofern ergab es sich ganz natürlich, dies auf das Gebiet der Tanztherapie auszuweiten, als ich mich entschloss eine Therapieausbildung zu machen.

Ja, du bist auch ausgebildete Gestalttherapeutin, nicht wahr?

Ja, ich habe eine Ausbildung in Integrativer Therapie gemacht und danach die Lehrtherapeutische Ausbildung an der Fritz-Perls-Akademie. Mein Interesse für Psychotherapie hat sich entwickelt durch das Thema „Identität”. Das spielt für mich eine große Rolle, wie wohl für jeden, der in vielen verschiedenen Kulturen gelebt hat. Ich bin ja Französin, aber ich habe meine frühe Kindheit in Madagaskar verbracht. Später kehrte die Familie nach Frankreich zurück. Als Erwachsene bin ich nach Hamburg gezogen, zwischendurch habe ich ein Jahr in England gelebt. Das Thema Identität begleitet mich also seit meiner Kindheit. Ich habe ständig mit Identität, Integration und den dazugehörigen Gefühlen des Fremdseins zu tun gehabt, und das nicht nur auf angenehme Weise!

Später, als ich mich professionell für argentinischen Tango interessierte, reiste ich regelmäßig nach Buenos Aires und Montevideo. Buenos Aires wurde ein Stück weit mein Zuhause, das Leben dort prägte wiederum meine Identität. Ich habe noch dazu das Glück gehabt, Teile dieser Kultur nicht nur aus der Tanzperspektive zu erfahren, sondern auch aus der Perspektive der Musik. Ich habe mit meinem inzwischen verstorbenen uruguayischen Lebensgefährten Hugo Diaz zusammengelebt, er war Bandoneonist. In den Ausbildungsseminaren, die er elf Jahre lang in Europa und Nordamerika gab, habe ich für ihn übersetzt und dabei sehr viel gelernt. Dieser Hintergrund, dazu die Sprache, die alltägliche Kommunikation in drei Sprachen - all das bereichert und erlaubt ein Verständnis für ganz verschiedene Kulturen … Das öffnet das Herz - und das ist für mich die zentrale Verbindung zwischen Kultur, Tanz und Therapie!

Wie verbindest du in deiner Arbeit diese Bereiche?

Als ich mich entschloss, den Tango mehr in mein Leben zu integrieren, gab es noch keine Tangotänzer, die in Europa als Tanzlehrer, und noch weniger, die als Tangomusiker tätig waren. Ich spreche von 1982/83. Tanz war schon seit langem mein Medium. Therapie und Tango haben sich gegenseitig befruchtet. Und je mehr ich Tango tanzte, desto mehr wurde mir bewusst, dass dieser Tanz ein ideales Medium ist, um über Beziehungsmuster nachzudenken. Man kann die Polaritäten vor allem der Paarbeziehung wunderbar im Tango ausdrücken und explorieren. Alle Paarthemen sind im argentinischen Tango symbolisch enthalten und können so auch nachvollzogen werden. In der Therapie können die Themen verbalisiert und verarbeitet werden, die im Tango nonverbal erfahren werden. So habe ich begonnen, beide Tätigkeiten zusammenzuführen.

Wie beeinflusst Tango deine therapeutische Arbeit - und gibt es auch umgekehrt einen Einfluss der Therapie auf deine Art, Tango zu tanzen und zu lehren?

Das ist eine interessante Frage. Ich arbeite heute ja sowohl therapeutisch als auch als Lehrerin für argentinischen Tango. Dabei arbeite ich sicherlich nicht wie normale Tangotanzlehrer. Durch meine tanz- und bewegungstherapeutische Ausbildung kann ich sehr viel diagnostisches Wissen integrieren und entsprechend vorsichtig an den Schwierigkeiten der Teilnehmer anknüpfen, die ich im Tanz zum Vorschein kommen sehe.

Ein wichtiger Aspekt meiner Methode ist die Ermutigung an die Paare, in allen Schritten mit der „anderen Rolle” zu experimentieren bzw. sie zu lernen. Führung und Hingabe sind beides kraftvolle Positionen, ich fordere immer beide Tanzpartner auf, sich in sie hineinzubegeben. Dies bringt viele Erkenntnisse für jeden zu Rollenverständnis und Rollenidentität. Mir geht es beim Tangounterricht auch um Bewusstseinswachstum, um eine Erweiterung des Rollenrepertoires. Jede der beiden traditionellen Rollen im Tango verkörpert bestimmte Haltungen, Erwartungen und Weltanschauungen. Energetisch sind diese Rollen sehr unterschiedlich, sie verkörpern ganz andere psychische Zustände. Diese Bandbreite zu experimentieren ist für die Paare bereichernd und hat Selbsterfahrungswert.

Du bietest also eine Art von „Selbsterfahrung durch Tanz” an?

Ja, besonders beeindruckend ist das, was ich durch die Gangart der Tänzer erschließen kann über ihr Leben, ihre Stärken und Schwierigkeiten. Besonders wichtig im Tango ist die Art, wie man geerdet ist. Geerdet sein erlaubt Stabilität, erlaubt Standfestigkeit und sicheres Auftreten, ohne sich auf den anderen stützen zu müssen. Die Person ist dann in ihrer Mitte, zentriert und fähig in der eigenen Achse zu ruhen, eigenständig. Die Konsequenz ist ein sicheres Körpergefühl, ein Gefühl der Standhaftigkeit in der Bewegung. Manchmal spreche ich von dem Gefühl „bombenfest” auf dieser Erde zu sein und trotzdem das Gefühl des Schwebens zu erfahren. Im Tango müssen beide für sich stehen können. Für sich selber sorgen zu können in der Verbundenheit mit dem anderen ist ein Ideal beim gemeinsamen Gehen. Deshalb lege ich sehr viel Wert auf das Gehen im Tango: Gehen in Zeitlupe, um jede Faser des Körpers zu spüren, Bewusstheit zu trainieren - Gehen als meditativer Bewusstwerdungsprozess. Das Gehen eines jeden Menschen ist wie ein „Röntgenbild der Psyche”. Diese Erkenntnis kann ich in meinen Umgang mit der Person einbeziehen, ich kann auch eventuell einen Aspekt der persönlichen Bewegungssymbolik benennen, wenn eine schon vertraute Beziehung mit der Schülerin oder dem Schüler besteht. Aber das Gute ist: Es muss nicht sein. Manchmal, wenn der Schüler ein persönliches Thema anspricht, kann ich vorsichtig darauf eingehen. Auch je nach dem, ob er/sie sich anvertraut oder nicht.

Das stelle ich mir schwierig vor: gleichzeitig Tanzen zu lehren und einen therapeutischen Fokus zu haben.

Nein, so meine ich das nicht. Grundsätzlich trenne ich schon meine Tätigkeit als Therapeutin von der der Tanzlehrerin. Nur wenn ich merke, dass ich einige meiner Beobachtungen mitteilen kann, mache ich es. Das ist eben der Unterschied zu einer „Tanzstunde”, es schafft eine besondere Nähe, sei es ganz allgemein in der Gruppe oder nur in der Intimität eines Gesprächs zu zweit oder zu dritt. Aber natürlich geht es mir nicht um heimliches Therapieren im Tanzunterricht.

Ich wollte nur deutlich machen, wie meine Psychotherapieerfahrung meine didaktische Arbeit und meine Methoden mit beeinflusst. Zum Beispiel schließe ich am Ende einer Tanzeinheit immer durch eine Runde, in der kurz besprochen wird, was den Teilnehmern wichtig war.

Aber neben der „Tangoschule” bleibt dieser Tanz doch für dich auch ein therapeutisches Medium, das du tanztherapeutisch nutzt, nicht wahr?

Ja, auf jeden Fall. Der Tangotanz als Leiberfahrung erlaubt einen direkten Zugang zu den Problemen einer Person, zu denen, die bewusst sind, und denen, die bis dahin verborgen geblieben sind. Innerhalb von wenigen Minuten werden die Hauptthemen sichtbar und spürbar. In diesem Fall ist Tango das Medium zur Differenzierung der Wahrnehmung und zur Erforschung der psychischen Muster und Blockaden. Hier geht es nicht um die „richtige” Durchführung einer Bewegung oder eines Schrittes, es geht auch nicht um die Vermittlung vieler komplizierter Figuren, das mache ich in der Tangolehrerausbildung. Aber in der Leiberfahrung geht es mir eher darum, die Blockierungen zu spüren, sie in die Wahrnehmung zu bringen, zu explorieren. Dann kann im Tanz auch Freude aufbrechen, weil die Blockade in Bewegung kommt und sich spielerisch auflöst. Musik und Tanz erlauben einen sofortigen Zugang zu den Gefühlen - und das Gute ist: Man muss sie nicht erst in Sprache bringen, um sie zu bearbeiten!

In der klassischen Tanztherapie geht es ja darum, sich selbst im Tanz, in der gestaltenden Improvisation zum Ausdruck zu bringen. Der Tango ist im Vergleich dazu ja eher ein disziplinierter Tanz mit sehr klaren Figuren. Wie kann denn da „spielerisch” an Blockaden gearbeitet werden, wie du sagst?

Dazu muss ich ein wenig ausholen über einige Merkmale des argentinischen Tangos. Einerseits ist der Tanz sehr strukturiert, andererseits ist er aber auch aus Elementen gebaut, die man beliebig miteinander verbinden kann. Gut verstanden und getanzt ist er pure Improvisation. Und so ähnelt Tango einer Sprache: Darin liegt sein Potenzial an Kreativität. Tango ist ein improvisierter Tanz und wenn man ihn nicht „wie ein Papagei” lernt, sondern sich bewusst macht, dass die Elemente beliebig miteinander verbunden werden können, wie in einer Sprache, dann fängt die führende Person an, den Tango so zu gestalten, dass sie keine „Figuren” mehr tanzt. Sie kann dann individuell improvisieren und Elemente verbinden, so wie man Worte beliebig miteinander verbinden kann, mit einer gewissen freien Syntax und nuancierten Lexik. Dieses System zu vermitteln, statt Figuren zu „dreschen”, erlaubt, dass man dem Schüler oder der Schülerin den Geist öffnet, statt ihn „einzuschließen” in Strukturen, die den Geist begrenzen. Dabei ist es besonders wichtig, dass sie verbindende Elemente in ihren Tanz mit integrieren.

Wenn man das Paar sensibilisiert und den Geist öffnet, werden Kreativität und Improvisationsfähigkeit sich exponentiell entwickeln, sodass eine individuelle Interpretation entsteht. Das fordert von der geführten Rolle eine hohe Kunst, sich einzulassen und sich der Führung hinzugeben. Dann steht das Spielerische im Vordergrund und beide können die Improvisation als Poesie des Tanzes freudig zelebrieren. Das lustvolle Tanzen nach einer bestimmten Musik erfordert von beiden, sich gegenseitig zuzuhören, Empathiefähigkeit, Koordinationsvermögen und Sensibilität.

Das klingt schon nach einer „Meisterschaft des Spielerischen”.

Ja, das was ich gerade erklärt habe, gilt für Leute, die einen langen Weg im Tangotanzen zurückgelegt haben. In der therapeutischen Arbeit dagegen, da die Leute im Allgemeinen wenig Tanzerfahrung haben, sind die Schwerpunkte in der Arbeit ganz andere.

Das Spielerische kann durch kleine nichtverbale Übungen realisiert werden, zu zweit oder in der Gruppe - z. B. Begegnungsspiele: Die Partner versuchen, sich ernst zu begegnen oder den anderen durch eine ablehnende Hand auf Distanz zu halten oder Ablehnung zu äußern, nur nonverbal mit dem Körper. Man kann die Gruppe mit Musik auffordern, spielerisch das Gegenüber zu verführen, und das Gegenüber soll darauf mit Bejahung oder Ablehnung reagieren usw. Vieles kann spielerisch durch adäquate Methodenwahl exploriert werden. Die wichtigsten Lebensthemen kommen unweigerlich an die Oberfläche. Im Tanz können die Teilnehmer sie nicht verbergen.

Ist dann Aufdeckung der Muster das Hauptziel?

Ja, zum Teil. Es geht aber auch um Wahrnehmung. „Wahrnehmen, was ist” - das ermöglicht der Tango. Alle Themen, die mit Polaritäten zu tun haben, - Nähe-Distanz, männlich-weiblich, Abstand nehmen oder „Krallen” des anderen. Wenn ein Paar tanzt, dann wird sofort für beide wahrnehmbar, was gerade Thema bei ihnen ist.

Also der Unterschied zur Tanztherapie liegt darin, dass der Tango eher zur Sensibilisierung der Wahrnehmung genutzt wird und nicht sosehr als Ausdruckstanz?

Genau: die Wahrnehmung der Themen, die da sind, die Sensibilisierung und das Üben, wie ich mich auf meinen Partner bzw. meine Partnerin einlasse.

Sag doch bitte noch ein wenig mehr über die paartherapeutische Arbeit mithilfe des Tangos.

Der Tango bringt die Leute genau an den Punkt, wo sie gerade sind. Sei es, wie sie sich gegenüber ihrem Partner verhalten, gegenüber anderen Teilnehmern oder auch gegenüber Autoritäten. Ihre Beziehungsgeschichte kann beleuchtet werden und funktionelle Übungen laden in Musterveränderungen ein. Die Beziehung des Paares zu Raum und Zeit lässt sich gut daran erkennen, wie sie die Raumgestaltung oder bestimmte rhythmische Übungen bewältigen. Aber es gibt auch andere Aspekte, wie etwa das Rollenverhalten. Defizite und Stärken eines Teilnehmers können festgestellt werden und ich ermutige, mit Qualitäten zu experimentieren, die noch weniger vertraut sind.

Wie gesagt, es geht um Bewusstwerdung dessen, was da ist und das spielerische Experimentieren mit dem, was defizitär oder unvertraut ist. Nehmen wir das Beispiel „Orientierung”. Wenn jemand ständig desorientiert ist - und Tango ist sehr an der Orientierung ausgerichtet, durch die Regelung und Aufforderung möglichst links zu drehen oder die Lücken im Raum auszufüllen. Man kann überprüfen, wie es mit der Orientierung in der Partnerschaft aussieht, etwa wie gut die Partner einander orientierende Signale geben. Das Thema der Orientierung steht auch in Bezug auf die Beziehung beider zu Raum und Zeit und zu ihren Lebenszielen: Wie werden in der Organisation des Tanzes im Saal Ziele verfolgt? Welche Hinweise liefert dies ihnen über ihre Lebensziele? Man kann etwa erkennen, ob eine Person eher von außen gesteuert ist als von innen.

Ein anderes Thema ist, welche Beziehung zurzeit beobachtet wird: Wenn jemand sich ständig hetzt, wird das im Tanz sofort deutlich. Sie können Schwierigkeiten haben, Ruhe und Muße, Zentrierung zu erleben.

Tango ist eigentlich ein Instrument, um die Feinabstimmung des Paares …

… zu explorieren. Ich sagte ja schon, dass ich es wichtig finde, dass die Partner beide Rollen lernen, das Führen und das Geführtwerden. Das erlaubt zu erfahren, wie sich die unterschiedliche energetische Qualität der beiden Rollen anfühlt. So wird es möglich, bewusst die Polaritäten in uns zu integrieren, statt dass die Qualität einer bestimmten Rolle, die man selbst nie erlebt hat - und sich nicht erlaubt hat, nur auf den Partner projiziert wird. Die Beherrschung beider Rollen erlaubt Kreativität und Sinnlichkeit, zumal die Lust am Führen und der Genuss, das Geführtwerden zuzulassen, die Erfahrung bestimmen. Sich einfach einzulassen, kann ein Gefühl der Glückseligkeit bedeuten. Aber die Fähigkeit, beide Rollen zu tanzen, hat noch zusätzlich einen emanzipatorischen Aspekt. Die Rollenidentität beider Partner wird erweitert, wenn sie beides ohne Krampf beherrschen. Die Identität insgesamt wird komplexer. Empathie und Solidarität im Umgang mit dem anderen wird gefördert. So hat die Erfahrung im Tango Beispielcharakter für den Umgang im Alltag. Viele der Paare, mit denen ich arbeite, berichten, dass sie im „Tanz des Alltags” anders miteinander umgehen.

Was sind denn typische Paarthemen, die sich im Tanz widerspiegeln?

Oh, es sind viele. Nehmen wir als Beispiel ein Paar, bei dem der eine ständig meckert und unzufrieden ist. Dann zeigt sich das Thema „Schuldzuweisung” im Tanz. Wie handeln die Partner Schuld aus? Es gibt Paare, die vermitteln das Bild: „Kein Problem, das kriegen wir schon hin!” Andere verharren in der gegenseitigen Anklage: „Du, du, du …!” Die Muster werden herausgefordert, das Thema Dominanz wird sehr schnell erkennbar. Das muss nicht die führende Person sein! Wenn die Signale des Führenden nicht gut erkennbar sind, dann übernimmt der Geführte die Führung oder blockiert alle Impulse der Führung. Der andere fühlt sich dann vielleicht übersehen, missbraucht, gar missachtet, empfindet Ärger. Aber es ist eigentlich eine Konfrontation: Er war in seiner Führung nicht klar genug! Tango ist ein Geschehen, das die Mikroabstimmung der Partner offen legt - und Unklarheit in den Signalen oder ein Kampf um Dominanz kann diese Abstimmung stören.

Ein anderes Beispiel: wenn einer sich ständig entschuldigt, auch für das, was der andere macht. Konfliktvermeidung oder ständiges Harmonisieren zerstören die Spannung zwischen den Partnern, aus der der Tango seine Kraft bezieht. Es ist eine Unmenge an Themen, die hochkommt. Viele der Schwierigkeiten haben damit zu tun: Wie gehen wir mit Konflikten um?

Ja, wie genau stimmt Ihr Euch eigentlich miteinander ab, nicht wahr? Dabei denke ich noch an ein weiteres Thema: Tango gilt ja auch als sehr erotischer Tanz.

Ja, wenn es gelingt, die Differenz der Partner gut abgestimmt zu balancieren, dann erleben sich beide Partner als sehr lebendig, kraftvoll und eben erotisch. Erotik bzw. Sinnlichkeit ist ein ganz wichtiges Kapitel im Tango, das macht diesen Tanz so attraktiv für die vereinsamte Gesellschaft von heute. Er kann in wenigen Sekunden eine spielerische, freudige, energievolle Kraft in uns wecken. Im Tanz ist das Spiel der Verführung ständig präsent, wenn das Gegenüber mitspielt. Es kann soweit gehen, dass man im Tanz mit einem Fremden ein Gefühl der Verliebtheit erlebt, das nach dem Tanz verschwindet. Der Vulkan, der in uns brodelt, kann geweckt werden, kann gar explosionsartige Phänomene auslösen!

Eine hohe Intensität!

Uralte frühkindliche Erfahrungen werden wachgerufen durch die sehr enge Haltung, die man einnimmt, archaische Gefühle. Sie werden auch durch die Nähe in uns geweckt. Man kann womöglich das Herzklopfen des Partners hören, wie in der nahen Beziehung zwischen Mutter und Baby.

All die Themen, die im Tango deutlich werden - wie werden die anschließend bearbeitet?

Die Themen können auf unterschiedliche Weise aufgearbeitet werden. Der Tanz ist der Auslöser. Zum einen ist es natürlich möglich, die Themen zu besprechen. Doch lieber mache ich die Bearbeitung nonverbal, bringe es wieder in den Tanz hinein: ausprobieren, wiederholen, neue Erfahrungen mit einem alten Thema machen. Aber es ist auch möglich, wenn man an lebensgeschichtlich hoch bedeutsame Themen kommt, diese dann in einer psychotherapeutischen Sitzung zu bearbeiten, z. B. gestalttherapeutisch.

Welche Frage hätte ich dir noch stellen sollen? Was möchtest du abschließend noch sagen?

Da gibt es noch ein Thema! Ich würde noch gern über Krise sprechen und über Tango als Weg, sie zu gestalten. Ich komme dazu noch einmal auf meine Erfahrungen mit den vielen verschiedenen Kulturen zurück. In Argentinien und Uruguay haben Themen der Heimatlosigkeit die Kultur der Bevölkerung geprägt. Die Menschen haben im Tango ein Medium gefunden für die seelische Verarbeitung ihrer Krisen - Lebenskrisen, Identitätskrisen, Krisen in Beziehungen oder Familien usw. Das Gefühl der Bodenlosigkeit ist ein typisches Thema in Krisenzeiten. Das gilt auch heute bei uns in Europa. Arbeitslosigkeit, Ausgrenzungen, Kriege oder oft belastend erlebte Multikulturalität rufen die Sehnsucht nach Geborgenheit, Sicherheit in uns hervor. Der Tango hat etwas sehr Bodenständiges in sich. Die Musik bietet viele Nuancen der Gefühle und somit kathartische und nährende Qualitäten, zumal die Tangomusik oft von Musikern komponiert wurde, die sich selber in Krisen befanden. Das was in ihrer Musik schwingt, weckt in uns ähnliche Gefühle, ein „psychisches Echo”, so als ob unser Leid, unsere Bedürfnisse, Fantasien, Kraft, aber auch unsere Freude ein „Sprachrohr” gefunden hätten. Wir erkennen uns in der Musik und können die Sehnsucht, die Melancholie, das Kraftvolle, auch das Feurige und Freudige in ihr ausleben, genauso wie das sinnlich-laszive Moment der Musik. Dieses Potenzial der Musik wird in uns auf einem anderen Kanal interpretiert, nämlich im Tanz.

Danke, ja, das war wirklich noch ein wichtiger Aspekt. Ich bedanke mich sehr herzlich für das Gespräch.

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