Gesundheitswesen 2007; 69: S61
DOI: 10.1055/s-2006-927354
Epilog

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Epilog

J. Donhauser1
  • 1Gesundheitsamt im Landratsamt Neuburg-Schrobenhausen
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Publication Date:
14 February 2007 (online)

Die Meldepflicht für „mißgestaltete usw. Neugeborene“ erlebte auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft eine erstaunliche Kontinuität:

Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ war das Fehlen der nötigen Distanz zu den menschenverachtenden Praktiken wohl noch weit verbreitet, wie ein Schreiben der Regierung von Oberbayern vom 11.12.1945 verdeutlicht:

„[...] Betreff: Meldepflicht für mißgestaltete usw. Neugeborene.

Laut Min. E. Nr. 5346b 1 vom 30.11.45 bleibt die Meldepflicht für mißgestaltete usw. Neugeborene laut RdErl. d. Reichsministers des Innern vom 18.08.1939 Nr. IV b 3088/39 - 1079 bis auf weiteres aufrecht erhalten . [...]” [423]

Natürlich wurde Ende 1945 kein Kind mehr in „Fachabteilungen“ ermordet (wenngleich in der Außenstelle Irsee der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren noch im Juni 1945 Patienten zu Tode gespritzt worden waren). [424]

Es kam den damals Verantwortlichen im damaligen Bayr. Innenministerium jedoch nicht in den Sinn, sich die Mühe zu machen, die Verfahrensweise bezüglich der Mitteilungen über neugeborene Kinder mit Behinderungen neu zu organisieren, um sich vom unseligen nazistischen Vorgehen zu distanzieren.

Das Bemühen des öffentlichen Gesundheitswesens, Kinder mit wesentlichen Behinderungen möglichst frühzeitig zur Vermittlung von Hilfen in Erfahrung zu bringen, ist an und für sich nicht anrüchig.

Die Tatsache, dass es sich bei dem damaligen Erlass um einen streng vertraulichen, weder im Ministerialblatt des RMdI noch im Reichsgesundheitsblatt veröffentlichten Geheimerlass handelte, der als Grundlage für die Erfassung zum Massenmord an behinderten Kindern diente, störte die damals Verantwortlichen nicht im Geringsten.

Man ging wohl davon aus, dass alle Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern auch nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes noch immer von der normativen Kraft des Faktischen überzeugt waren und sich zur Ausführung eines nationalsozialistischen Geheimerlasses auch jetzt noch verpflichtet fühlten.

Ein gutes halbes Jahr nach Kriegsende war in der Presse bereits mehrfach über Morde in den Heil- und Pflegeanstalten berichtet worden.

Den Mitarbeitern der Medizinalabteilung des bayrischen Staatsministeriums des Innern war dies vermutlich ohnehin bekannt.

Es mussten nach der Kapitulation vom 8.5.1945 noch nahezu fünf Jahre ins Land gehen, bis das bayrische Innenministerium am 18.4.1950 den alten Runderlass mit der verschleiernden Formulierung aufhob:

Der alte Runderlass sei „[...] als durch die Verhältnisse überholt anzusehen und nicht mehr anzuwenden.” [425]

Das Gedankengut der Rassenhygiene hielt sich noch bis weit in die 60er-Jahre hinein - ohne natürlich diesen mittlerweile verpönten Begriff zu verwenden -, wie zum Beispiel das Kapitel „Quantitative und qualitative Bevölkerungspolitik” im Lehrbuch für Amtsärzte „Das Öffentliche Gesundheitswesen. Band IV”, aus dem Jahre 1962 deutlich erkennen lässt. [426]