Gesundheitswesen 2006; 68(12): 739-746
DOI: 10.1055/s-2006-927326
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Egalitäre und individualistische Gerechtigkeitsvorstellungen zur gesundheitlichen Versorgung: Ergebnisse einer Befragung von Patienten und Studenten

Egalitarian and Individualistic Perceptions of Fairness in Health Care Provision: Results from a Survey of Patients and StudentsB. Bayerl1, 2 , A. Mielck1
  • 1GSF - Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, Institut für Gesundheitsökonomie und Management im Gesundheitswesen, Neuherberg
  • 2Ludwig-Maximilians-Universität, Institut für Soziologie, München
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Publication Date:
03 January 2007 (online)

Zusammenfassung

Ziel der Studie: Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, welche Vorschläge zur Reform des Gesundheitssystems von welchen Versicherten akzeptiert werden. Dabei werden zwei Gerechtigkeitsvorstellungen gegenüber gestellt: Die „Egalitaristen” betonen das Ziel, die finanziellen Belastungen so gleich wie möglich zu verteilen und die Versorgungsangebote allen Versicherten in gleicher Weise anzubieten. Die „Individualisten” treten dafür ein, dass die gesundheitliche Versorgung so weit wie möglich von der individuellen Zahlungsbereitschaft und vom eigenen Gesundheitsverhalten des Versicherten abhängig ist. In der Arbeit wird untersucht, welche Versicherten der einen oder der anderen Zielsetzung zustimmen. Methodik: Mithilfe eines standardisierten Fragebogens wurden 343 zufällig ausgewählte Personen (175 ältere Patienten und 168 Studenten) im September 2003 schriftlich befragt. Zur Erfassung einer egalitären sind vier und zur Erfassung einer individuellen Auffassung sind fünf Fragen verwendet worden. Dabei kamen auch Vignetten zum Einsatz. Mit dieser Methode lässt sich untersuchen, welchen Einfluss das folgende „Framing” hat: Ist die Entscheidung für eine egalitaristische oder individuelle Zielsetzung davon abhängig, ob dabei an eine bestimmte Zielperson gedacht wird (z. B. einen reicheren oder ärmeren Versicherten). Ergebnisse: Die Analysen zeigen, dass die egalitäre Vorstellung vor allem bei den folgenden Patienten zu finden ist: Obere Altersgruppe, GKV-versichert, hohe Arzneimitteleinnahme, häufiger Arztbesuch. In der Gruppe der Studenten ist sie auch bei denjenigen besonders häufig, die selten Sport treiben. Die individualistische Vorstellung ist vor allem bei den folgenden Patienten zu finden: Männlich, obere Bildungsgruppe, erwerbstätig, PKV-versichert, sportlich aktiv, Nichtraucher; bei den Studenten zeigen sich ganz ähnliche Zusammenhänge. Deutlich wird auch, dass die Vignetten das Antwortverhalten stark beeinflussen. Diskussion: Die Zustimmung zu oder Ablehnung von Reformvorschlägen wird offenbar wesentlich durch die persönlichen Merkmale der Versicherten geprägt. Die Akzeptanz der Reformen wird wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, diese unterschiedlichen Sichtweisen der Versicherten zu integrieren.

Abstract

Objective: This study focuses on the following question: How are health care reform proposals accepted by different groups of insured persons? Two perceptions of justice or fairness are compared. The “egalitarian view” states that the financial burden should be distributed as equally as possible across all insured persons and that health care should be offered to all insured persons in the same way. The “individualistic view” states that health care should be provided according to the individual’s willingness to pay for it, and also according to the individual health behaviour. Methods: In 2003, a standardised questionnaire was answered by a random sample of 343 persons (175 elderly patients and 168 students). The egalitarian view was assessed by four questions and the individualistic view by five questions. The questionnaire included vignettes. Based on this method it is possible to assess if an answer depends on the “frame” that is presented as an example (framing the question as: thinking of a poor or a wealthy person). Results: A bivariate analyses show that the egalitarian view is mostly present in the following groups of patients: higher age group, insured in a Statutory Sickness fund, high medication, many physician visits. Concerning students, this view is also associated with low physical activity. The individualistic view can be found mostly in the following groups of patients: male, insured in a private health insurance, higher educational level, employed, high physical activity, non-smoker. Concerning students, very similar associations can be seen. These results are largely confirmed by multivariate analyses. It can also be seen that the answers are strongly influenced by the vignettes. Discussion: The insured persons seem to approve or disapprove of health care reform proposals according to their personal characteristics. The overall acceptance of health care reforms will largely depend on the ability to integrate these different perspectives.

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Dr. Andreas Mielck

GSF Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, Institut für Gesundheitsökonomie und Management im Gesundheitswesen

Ingolstädter Landstraße 1

85758 Neuherberg

Email: mielck@gsf.de

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