Suchttherapie 2006; 7(4): 141-142
DOI: 10.1055/s-2006-927285
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie nahe kommt die Forschungsrealität dem Wunsch, kausale Beziehungen zwischen Substanzkonsum und Tod herzustellen?

How Close are Desire and Reality in Establishing Causal Relationships in Research on Substance Use and MortalityL. Kraus1 , A. Uhl2
  • 1IFT Institut für Therapieforschung München, Deutschland
  • 2AlkoholKoordinations- und Informationsstelle (AKIS) des Anton-Proksch-Instituts und Ludwig-Boltzmann-Institut für Suchtforschung (LBISucht), Wien, Österreich
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Publication Date:
12 December 2006 (online)

In der öffentlichen Diskussion über die Schädlichkeit und Gefährlichkeit psychoaktiver Substanzen spielen quantitative Maße, mit denen zum Ausdruck gebracht wird, wie viele Todesfälle durch Substanzkonsum verursacht werden oder wie viele Lebensjahre durch vorzeitigen Tod im Zusammenhang mit Substanzkonsum verloren gegangen sind, eine herausragende Rolle. Der Umstand, dass die Anzahl der Personen, die im Zusammenhang mit dem Missbrauch von illegalen Drogen zu Tode gekommen sind („Drogentote”), jährlich von der Drogenbeauftragten der deutschen Bundesregierung oder vom österreichischen Gesundheitsministerium veröffentlicht wird, macht die Bedeutung, die diesen Zahlen zugemessen wird, offensichtlich. Nimmt die Zahl der Drogentoten im Vergleich zum Vorjahr zu, so wird dies meist unmittelbar als Zunahme des „Drogenproblems” interpretiert, worauf entsprechend reagiert werden muss. Nimmt diese Zahl hingegen ab, gilt die eingeschlagene Drogenpolitik als bestätigt, deren erklärtes Ziel ja die Reduktion des illegalen Drogenkonsums und der damit verbundenen negativen Folgen ist. Leider stehen im Umgang mit den Zahlen zur drogenbedingten Mortalität oft mediale und politische Aspekte deutlich stärker im Vordergrund als das Erkenntnisinteresse.

Die Interpretation der Anzahl substanzbedingter Todesfälle als Indikator für das Ausmaß der Probleme durch Substanzmissbrauch und Sucht erscheint den meisten Leuten unmittelbar plausibel. Sie gehen implizit davon aus, dass all diese Todesfälle hätten verhindert werden können, wenn es gelungen wäre, die betreffenden Personen am Konsum dieser Substanzen zu hindern. Dass diese direkte kausale Interpretation der Zahl drogenbedingter Todesfälle wissenschaftstheoretisch höchst problematisch ist, ist den wenigsten Personen, die diese Zahlen verwenden, bewusst. Experten hingegen ist durchweg klar, dass die Anzahl der substanzassoziierten Krankheits- oder Todesfälle nicht mit der Anzahl substanzverursachter Krankheits- oder Todesfälle gleichzusetzen ist. Zur korrekten Bestimmung der substanzverursachten Fälle muss man abschätzen, wie viele Fälle bei Abwesenheit der verursachenden Exposition durch die betreffende Substanz nicht aufgetreten wären. Im konkreten Fall eines individuellen Todes wird das Dilemma offensichtlich: Es ist grundsätzlich unmöglich, im Einzelfall zu beurteilen, was passiert wäre, wenn die betreffende Person die Substanz nicht genommen hätte.

Dies gilt sowohl für mittelbare Folgekrankheiten des Substanzmissbrauchs als auch für unmittelbare Folgen, wie Überdosierungen und andere Unfälle. Die Frage nämlich, ob ein Autounfall unter Alkoholeinfluss auch dann aufgetreten wäre, wenn derselbe Fahrer die gleiche Situation ohne Alkoholisierung erlebt hätte, oder ob ein Drogenabhängiger keinen Suizid begangen hätte, wenn er keine Drogen genommen hätte, lässt sich nicht beantworten. Personen können eben nicht unter gleichzeitig stattfindenden kontrollierten Bedingungen mit sich selbst verglichen werden. Das der Kausalitätsbestimmung in der Epidemiologie zugrunde liegende Modell wird von Rothman und Greenland [1] daher als kontrafaktisch bezeichnet. Konkret geht es darum, Bedingungen oder Experimente zu konstruieren, die dem Modell des kontrafaktischen Gedankenexperiments möglichst nahe kommen, und darauf aufbauend adäquate Durchschnitts- bzw. Wahrscheinlichkeitsaussagen abzuleiten. Mit diesen Annäherungen an das praktisch unerreichbare Ideal des Kausalitätsnachweises ist eine Reihe von Problemen verbunden, die in den hier vorliegenden Beiträgen einer kritischen Betrachtung unterzogen werden.

Im einfachsten Fall werden Zuweisungen von Ursachen zu Todesfällen direkt vorgenommen, indem individuelle Todesfälle als durch eine bestimmte Substanz verursacht klassifiziert werden. Die in diesem Zusammenhang unvermeidbare monokausale Ursachenzuschreibung erfordert eindeutige Definitionen. Außerdem ist sie häufig unbefriedigend, weil es oft nicht sinnvoll möglich ist, eine multifaktorielle Verursachung zugunsten einer einzigen Ursache zu vernachlässigen, und weil man daher mit unterschiedlichen Strategien zu recht unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann. Besonders offensichtlich werden diese Probleme in Zusammenhang mit der „Drogentodesstatistik”. Die Europäische Drogenbeobachtungsstelle bemüht sich in diesem Zusammenhang um eine einheitliche länderübergreifende Definitions- und Registrierungspraxis für Drogenopfer. Der Beitrag von Martin Busch macht deutlich, dass dieser Zugang, selbst wenn alle Zuschreibungsprobleme gelöst werden, ausschließlich für den Fall von Todesfällen im Zusammenhang mit akuten Überdosierungen und substanzbedingten Unfällen zweckmäßig ist.

Bei multiplen Bedingungszusammenhängen und in Fällen, bei denen ein klinisches Symptom mehrere Ursachen haben kann oder bei denen die Latenzzeit zwischen den Ursachen und dem Auftreten des Ereignisses lang ist, sind direkte Kausalzuordnungen nicht möglich [2]. In diesen Fällen benötigt man ein Maß, das die Wahrscheinlichkeit angibt, mit der ein Todesfall durch eine bestimmte Substanz verursacht wird. Für die Praxis ergeben sich daraus eine Reihe von Problemen, die im Beitrag von Gerhard Gmel und Jürgen Rehm sehr anschaulich beschrieben werden. Hier werden die methodischen Grundlagen von Gesundheitsmaßen und Problemen bei der Berechnung der für diese Maße benötigten ätiologischen Fraktionen, d. h. den auf einen bestimmten Faktor kausal zurückgehenden Anteil an den Todesfällen, dargestellt.

Infolge des großen Stellenwerts dieser Statistiken für Medien und Politik ergibt sich ein starker Druck auf die Wissenschaftler, die Sache nicht zu kompliziert zu sehen, da Komplexität die Forschung aufwändig und teuer macht. Damit wird häufig von zu deutlichen Relativierungen der Ergebnisse Abstand genommen, weil jede Relativierung den praktischen Wert der Ergebnisse verringert. Das begünstigt wissenschaftliche Publikationen, in denen kompetente Forscher die auftretenden Probleme so vorsichtig erwähnen und kommentieren, dass dem Durchschnittsleser die Brisanz der Probleme nicht nahegebracht wird. Mit dieser behutsamen Strategie vermeidet man als Forscher die Gefahr, das Fundament der eigenen Arbeit kurzfristig zu untergraben, verhindert aber gleichzeitig, dass die Probleme in der Forschergemeinschaft offensiv diskutiert werden und die Forschungsstrategien konsequent optimiert werden. Erkenntnisfortschritt ist nur möglich, wenn untaugliche Zugänge offen als solche gekennzeichnet und sinnvollen Ansätzen gegenübergestellt werden, wenn Inadäquates konsequent aus dem Kanon der akzeptierten Methoden gestrichen wird und wenn die ohnehin ständig knapper werdenden Ressourcen auf sinnvolle und Erfolg versprechende Projekte konzentriert werden. Unser bewusst provokant formulierter eigener Beitrag in diesem Heft ist in diesem Sinne als Versuch zu sehen, die fachliche Diskussion in der Disziplin konstruktiv zu intensivieren.

Literatur

  • 1 Rothman K J, Greenland S. Modern epidemiology. 2nd edition. Philadelphia; Lippincott, Williams & Wilkins 1998
  • 2 Ezzati M, Lopez A, Rodgers A. et al .Comparative quantification of health risks: global and regional burden of disease due to selected major risk factors. Geneva; WHO 2004

Ludwig Kraus

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