PPH 2006; 12(4): 181-182
DOI: 10.1055/s-2006-926993
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Pflegerische Sprache - Spiegelbild der Wirklichkeit?

H. Schädle-Deininger
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Publication Date:
09 August 2006 (online)

„Die Sprache ist ein Instrument, dessen Federn man nicht überanstrengen darf.” (Antoine des Rivarol)
Die Psychiatrie und die psychiatrische Pflege sind auf Sprechen und somit auf die Sprache besonders angewiesen. Die Sprache hat oft Mittlerfunktion zwischen den Beteiligten, ob Betroffener, soziales Umfeld oder professioneller Helfer. Der Umgang mit Worten zur Verständigung weist auf Einstellungen und Haltungen hin, die den psychisch kranken Menschen und sein Umfeld als Experten in Sachen seelische Gesundheit und Krankheit einschließen.

Seit längerer Zeit fällt mir in Gesprächen und Diskussionen mit Kollegen, in Gremien und Arbeitsgruppen, im Unterricht oder auch in der Praxis vor Ort eine Verwirrung auf, die die pflegerische (Fach-)Sprache betrifft. Es scheint so, dass die Sprache in der Pflege technischer und auch wieder wertender wird. Diese Wahrnehmungen und Beobachtungen will ich im Folgenden punktuell und zugespitzt beleuchten und zur Diskussion anregen. Es wäre schön, wenn sich Leserinnen und Leser dazu zu Wort melden!

Eine erfahrene Krankenschwester in einem Wohnheim erklärte mir, dass die Diskrepanz zwischen der abgehobenen Pflegeforschung, Pflegewissenschaft und der (pflegerischen) Praxis immer größer werde, Worthülsen und Schlagworte hätten Konjunktur. Mir fiel sofort ein Vortrag ein, den ich im letzten Jahr auf einer Tagung in Berlin gehört habe. Hier ein kleiner Einblick[1]: „Ein Therapeut, der den Mangel an atmosphärischer Sprache beklagte, hat seine Kritik gerade auch im Hinblick auf das Vordringen der ökonomischen Sprache in den psychiatrischen Einrichtungen geäußert. Wir alle kennen diese ‚neue ökonomische Sprache’. Zu den Schlagworten dieser so genannten ‚new economic speech’ gehören im Umfeld der Psychiatrie etwa folgende Begriffe: Platz- bzw. Bettenzahlen, Kopf- und Fallpauschalen, Case-Management, Planbetten, Ist-Soll-Belegung [usw.], direkte und indirekte Leistungen, Einrichtungsträger, Anbieter, Flexibilität, Ressourcen, Allokation (Zuordnung von Bedarf und Ressourcen) […]”. Der Referent stellte fest, dass die insgesamt 90 bis 100 aufgezählten Worte mehrmals in nur zwei Tagen während Vorträgen auf einer Tagung gefallen sind und erklärte, dass man, wenn man diese ökonomischen Begriffe untersucht, leicht feststellen kann, dass in keinem dieser Begriffe eine intersubjektive Qualität vorkommt. In keinem Begriff sind Bedeutungen wie Erleben, Mitgefühl, WIR, Zusammen, Solidarität, Atmosphäre oder Ähnliches enthalten. „Intuitiv wissen wir, dass die Sprache der Ökonomie und die Sprache des Intersubjektiven nicht zusammen passen, weil hinter diesen Sprachen verschiedene kulturelle Praktiken stehen.”

„Worte seien überflüssig? Und wo brächte man unter, was zwischen den Zeilen steht?” (Stanislaw Jerzy Lec)
Beim Ausgangspunkt meiner Überlegungen geht es darum, dass es nicht egal ist, wenn wir Sprache benutzen, welche Sprache wir benutzen und wie wir uns ausdrücken. Sprache verrät auch immer einen Teil der Wirklichkeiten eines Berufes, sei es durch eine knappe Sprache bei wenig Zeit, sei es durch die Wortwahl bei Distanzierung und Gedankenlosigkeit oder durch unhinterfragte Begrifflichkeiten und Redewendungen. Die Notwendigkeit, sich im beruflichen Zusammenhang in einer präzisen sprachlichen Form verständlich zu machen, bezweifelt - so denke ich - niemand. Denn Sprache ist ein Mittel zum Austausch von Informationen, zur Beschreibung von Beobachtungen oder auch zur Verständigung der Beteiligten. Sprache kann aufbauend, aber auch verletzend sein, unverständlich oder verbindend, klar oder undeutlich. Die Wortwahl und der Grad der Verbindlichkeit spielen dabei eine entscheidende Rolle, ob der Andere mich und meine Sprache akzeptieren und verstehen kann, auch im beruflichen Kontext, gerade im psychosozialen Aufgabenfeld. Um diesem Problem näher zu kommen, habe ich ein paar Aspekte gesammelt. Die kritischen Feststellungen und Anmerkungen der Kolleginnen und Kollegen in der Praxis lassen sich in den folgenden sechs Punkten zusammenfassen:

Die Diskrepanz zwischen theoretischen Ansätzen und praktischer Umsetzung wird immer größer. Die Bücher, die zu einer gemeinsamen Pflegesprache führen sollen, werden zahlreicher. Gleichzeitig nimmt in der Praxis die Anzahl der professionell ausgebildeten Pflegekräfte ab. Die Fachsprache der Pflege ist künstlich, manchmal fast banal und wirkt statisch. Die Pflege ist ein Beruf, der beispielsweise Technik, Zuwendung und Kontakt/Beziehung in Einklang bringen muss. Es lässt sich sicher darüber streiten, ob die tägliche Berufsausübung dadurch professioneller wird, dass sich die Fachsprache verbessert.

Und doch äußern die Berufskollegen ebenso klar, dass es in jedem Beruf eine Sprache geben muss, welche die Inhalte und das Handeln des Berufes (der Pflege) klar und eindeutig bezeichnen kann, sichtbar macht, zu anderen Berufen abgrenzt und dass mit Hilfe dieser (Fach-)Wörter kommuniziert werden kann.

Den Unmut über die augenblicklich herrschende Gläubigkeit hinsichtlich der pflegerischen Fachsprache bringt eine Kollegin folgendermaßen zum Ausdruck: „Was bringt mir die Klassifikation der Pflegephänomene[2]? Wenn ich beispielsweise dort unter dem nachfolgenden Phänomen lese ‚Heißes Wetter ist eine Art von Wetter mit den spezifischen Merkmalen: externe Temperatur, viel höher als die des menschlichen Körpers, beeinflusst das Leben und die Entwicklung von Menschen’ oder unter dem Phänomen Mensch: ‚Mensch ist eine Art eines Pflegephänomens mit den spezifischen Merkmalen: menschliche Eigenschaften und Qualitäten innerhalb des Anwendungsbereiches der Pflege’, von Definitionen wie ‚Glückliche Ehe’, ‚Aufrichtigkeit’ usw. ganz zu schweigen. Sind das nicht Allgemeinplätze oder selbstverständliches allgemeines Wissen, Phänomene, die nichts mit professioneller Pflege zu tun haben? Brauchen wir solche banale pflegerische Fachterminologie, soll alles, was mit Normalität zu tun hat, pflegerisch eingeordnet oder gar pathologisiert werden?”

Ein weiterer Kollege warf in die Debatte, dass die pflegerische Alltagssprache viele Redewendungen benutzt, und dass diese unreflektierte Übereinkunftssprache erst einmal abgeschafft werden müsse, weil sie den einzelnen kranken Menschen diskriminiere oder ihm unhinterfragt etwas unterstellt. Er nennt Beispiele wie „Patientengut”, „Drehtürpsychiatrie”, „ich geh mal schnell in Zimmer XY und mache den Patienten fertig und klatsche ihn mit Franzbranntwein ab”, „Herr Müller muss zur Ruhe kommen, ich gebe ihm die Medikation und mache ihn platt”, „wenn Sie entlassen werden, wenden Sie sich bitte an die PSKB”, usw.

„Die einzige Sprache, die jeder versteht, ist die Sprache des menschlichen Gesichts.” (Ernst Bloch)
Wenn Pflege, zumal die psychiatrische Pflege die Alltagssprache zur Verständigung bewusst anwendet, widerspricht das einigen Kriterien einer standardisierten Fachsprache, beispielsweise der Kontextunabhängigkeit. Das meint, dass ein Fachbegriff immer auch ohne Kenntnis von Zusammenhängen verständlich sein soll. Der Wunsch der Berufsgruppe eine pflegerisch-professionelle Sprache und Pflegewissenschaftssprache zu pflegen ist ein berechtigtes Anliegen und eine Gratwanderung.

Im Alltag - so nehme ich wahr - kommen die im Text bereits aufgeführten Klassifikationen für die Pflegepraxis als Erscheinung von einem anderen Stern an. Das messbare pflegerische Handeln wird in der angewandten Fachsprache eher versachlicht, starr und fragmentiert. Das bedeutet, dass den weniger messbaren Aspekten wie Interaktion, Zuwendung und Kommunikation in diesem Zusammenhang eine zweitrangige Bedeutung zukommt. Anders ausgedrückt: Durch eine versachlichte Sprache wird der Mensch eher zum Objekt. Der Mensch wird auf seine Funktionsfähigkeit und sein Angepasstsein reduziert, es kommen weniger die annehmenden, fürsorglichen und kommunikativen Bedürfnisse zum Tragen, die Sprache wird weitgehend funktionalisiert. Es wäre auch zu fragen, ob die doch sehr gegensätzlichen Ansätze der Pflegetheoretikerinnen in den USA auch in diesen Zusammenhang zu bringen sind, sozusagen als Gegenpole, weil die Pflege sowohl sachliches als auch verstehendes, fürsorgliches Handeln benötigt. (Beispielsweise die eher an der quantitativen Pflegeforschung und Pflegediagnosen beteiligten, im Gegensatz zu den eher in den philosophischen Ansätzen angesiedelten). Es wäre weiter zu fragen, ob es notwendig ist, immer wieder neue Wortschöpfungen für pflegerische Wahrnehmungen, Erkenntnisse und Einschätzungen einzuführen und zu glauben, dass sich damit die Praxis verändern würde? Kann es sein, dass die Pflege zwar quantitativ messbare Seiten hat, das überwiegende Handeln jedoch nur qualitativ zum Tragen kommen kann? Wäre es denkbar, dass im täglichen Umgang beispielsweise doch subjektive Merkmale wie die eigene Biographie, die eigene Persönlichkeit und die des Gegenübers oder positive wie negative Erfahrungen in der Pflege eine größere Rolle spielen als harte Fakten und dass dem auch in den angewandten Instrumenten und in der pflegerischen Sprache mehr Gewicht beigemessen werden sollte? Welch hohes Maß an Genauigkeit, Fantasie und Einfühlungsvermögen wird vorausgesetzt, erkennen zu können, wie Nähe und Distanz, Entlastung und Anforderung, Individualität und Anpassung, Schutz und Konfrontation zu bemessen sind? Wenn psychiatrisch-pflegerische Hilfen auf die Bedürfnisse des einzelnen Menschen und sein soziales Umfeld ausgerichtet sind, erfordert dies ein Umdenken auch im Hinblick auf Instrumente, Forschungsansätze und berufliche Sprache. Respekt und gegenseitige Wahrnehmung als empirische Basis der psychiatrischen Pflege macht Fachleute zu Lernenden, die Erfahrungen von Betroffenen und Angehörigen einbeziehen.

„Die Köpfe gleichen einander, aber die Gedanken in ihnen sind nicht gleich.” (Sprichwort aus Ghana)
Das ist gut so. Dem sollte auch im Hinblick auf Fachsprache, Einheitssprache und Sprachkommunikation Rechnung getragen werden. Vor diesem Hintergrund lässt es sich möglicherweise leichter auf gleicher Augenhöhe begegnen sowohl mit dem einzelnen Patienten und seinen Angehörigen als auch mit anderen Berufsgruppen. Das bedeutet im pflegerischen Alltag Anteilnahme zeigen und sich auch bei knapper werdenden Zeitressourcen auf den einzelnen Menschen einzulassen und sich ihm zuzuwenden. Und trotzdem gilt es Wege zu finden, Pflege als Beruf zu beschreiben, zu beforschen, zu lehren und die Wirkung von Pflege zu evaluieren. Die Balance zwischen Pluralität beim Denken, die Raum für Fantasie sowie Kreativität bietet und gleichzeitig mit einer gezielten Sprache Sachverhalte konkret zu benennen, muss zum Wohle von psychisch kranken Menschen Ziel sein. Vor diesem Hintergrund muss die Auseinandersetzung über den Sinn und Unsinn der praktizierten pflegerischen Fachsprache geführt werden. Dazu wünsche ich uns Mut und einen weitsichtigen Blick!

1 Debus, Stephan: Über die diktierte Verdrängung des Zwischenmenschlichen aus unseren Köpfen - Vortrag bei der Tagung „Ökonomie ohne Menschen? - Zur Verteidigung der Kultur des Sozialen” in Berlin vom 15. - 17. September 2005, zitiert aus Sozialpsychiatrische Informationen 4/2005 Seite 48 ff., Psychiatrie Verlag Bonn

2 International Council of Nurses (ICN): ICNP - Internationale Klassifikation für die Pflegepraxis, Verlag Hans Huber Bern, 2003