Gesundheitswesen 2006; 68(6): 383-391
DOI: 10.1055/s-2006-926897
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bevölkerungsbezogene Etablierung präventiv wirksamer Nahrungs- und Lebensmittelzusätze: Barrieren und Widerstände

Effective Prevention Through Nutritional and Food Additives: Barriers and ResistanceR. Lux1 , U. Walter1
  • 1Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung, Stiftungslehrstuhl an der Abt. Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover
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Publication Date:
07 July 2006 (online)

Zusammenfassung

Die bevölkerungsweiten und individuellen präventiven Potenziale von Nahrungs- und Lebensmittelergänzungen mit Substanzen wie Vitaminen und Spurenelementen sind in der internationalen Literatur allgemein akzeptiert. Die Iodierung und Fluoridierung standen und stehen dabei im Mittelpunkt der Bemühungen. Auch die Anreicherung von Lebensmitteln mit Folsäure ist ein Ziel auf dem Weg einer zumindest teilpopulationsbezogenen Prophylaxe. Bislang werden die theoretischen Möglichkeiten jedoch nicht hinreichend genutzt, vielmehr sind sowohl bei der Umsetzung als auch bei der Implementierung anhaltend Barrieren zu überwinden und noch immer Widerstände zu erfahren. Interviews mit entscheidenden Akteuren und aktiven Laienvertretern verdeutlichen neben einer Literatur- und Medienrecherche das Ausmaß der teilweise seit Jahrzehnten bestehenden Auseinandersetzungen. Die vorliegende Studie basiert auf einer strukturellen Analyse. Sie zeigt die unterschiedlichen Argumentationen sowie förderliche und hemmende Faktoren für eine bevölkerungsweite, zielgruppenspezifische bzw. individuelle Prävention auf. Die dargestellten Mechanismen ließen sich auch auf andere Public-Health-relevante Herausforderungen übertragen.

Abstract

The population-wide and individual preventive potentials of nutritional and food additives such as vitamins and trace elements are generally accepted in the international literature. Iodisation and fluoridation were and are a main focus of activity. The enrichment of food with folic acid is also partly population-related. Until now, however, the theoretical possibilities of nutritional supplementations have not been fully exploited. Various barriers and resistances arise in programme development and implementation. Interviews with key stakeholders and community groups can clarify decade-long discussions in the literature and the media. The study on hand is based on a structural analysis. It shows the various arguments as well as beneficial and impeding factors for a population-wide prevention programme, for specific target groups and individuals. The findings of this research could also be applied to other Public Health challenges.

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3 Zu Recht wird von Fluoridbefürwortern wiederholt auf diesen Unterschied hingewiesen. Die vereinfachende Bezeichnung Fluor bei Fluoridgegnern ist für die Befürworter häufig ein Indiz für die mangelhafte Kompetenz der Gegnerschaft. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass ein Großteil der älteren Fachpublikationen den Ausdruck Fluor verwendet, neuere Fluorid befürwortende, populärwissenschaftliche Literatur gerne von Fluor spricht, der Lebensmittelhandel sich dieser Bezeichnung bedient („Iodsalz mit Fluor”), Fluorid unterstützende Organisationen den Begriff in ihrem Namen tragen (z. B. Fluor- und Jodkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW)) und niemand den simplifizierenden Terminus Iod kritisiert.

9 Aus humantoxikologischer Sicht gewinnt der Eintrag von Fluoriden in die Umwelt durch die Verbrennung von fluorhaltiger Kohle in China einschließlich der daraus resultierenden Fluoroseformen wieder an Aktualität.

10 Beilage zu: Deutsches Ärzteblatt, Deutsche Apotheker-Zeitung, Deutsche Dentistische Wochenschrift, Deutsche Drogistenschaft, Der Heilpraktiker, Fachblatt für den Reformhausfachmann, Deutsches Tierärzteblatt, Zahnärztliche Mitteilungen.

Prof. Dr. Ulla Walter

Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung, Stiftungslehrstuhl an der Abt. Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung

Medizinische Hochschule Hannover

30625 Hannover

Email: walter.ulla@mh-hannover.de

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