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DOI: 10.1055/s-2005-921119
Notfallmedizin - ein interdisziplinäres Fach im Auf- und Umbruch
Emergency Medicine - Set Off and Change of an Interdisciplinary DisciplinePublikationsverlauf
Publikationsdatum:
16. Dezember 2005 (online)
Das vorliegende Heft der ains - zugleich das letzte Heft, das unter meiner Gesamtredaktion entstanden ist - befasst sich schwerpunktmäßig mit der Notfallmedizin. Notfallmedizin als interdisziplinäres Fach - das ist scheinbar ein Widerspruch in sich. Bei näherer Betrachtung klärt sich dieser Widerspruch jedoch schnell auf. Die Notfallmedizin befasst sich mit der Behandlung von Notfällen; Notfälle im engeren Wortsinn sind plötzliche Ereignisse jeglicher Art, die zu einer unmittelbaren Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit des Patienten führen und sofortiges, zielgerichtetes Eingreifen erfordern. Damit ist die Notfallmedizin ein deutlich erkennbares Fach zwischen den Fächern, das wie folgt definiert werden kann:
Notfallmedizin ist der Teil der Akutmedizin, der von dazu ausgebildeten Ärzten aller Fachdisziplinen - vornehmlich den Notärzten - querschnittlich zu bewältigen ist; ihre Grenze liegt dort, wo darüber hinausgehende Maßnahmen nur von Spezialisten eines Fachgebiets zu erbringen sind.
So gehört die systemische Lysetherapie des Myokardinfarkts zum Tätigkeitsprofil des Notarztes, während eine Koronarintervention einen Kardiologen erfordert. Ebenso muss jeder Notarzt in der Lage sein, eine Thoraxdrainage einzubringen, während die Thorakotomie dem Chirurgen vorbehalten ist.
Dringlichkeit und Interdisziplinarität sind die wesentlichen Merkmale der Notfallmedizin. Notfallmedizin ist dringliche Medizin, weil ihr Gegenstand die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Vitalfunktionen des Patienten und dessen Schutz vor gravierenden Folgeschäden ist. Sie ist interdisziplinäre Medizin, weil ihr Spektrum die vital bedrohlichen Störungen aller Fachgebiete umfasst und die Behandlung dieser Störungen nicht durch Spezialisten eines eigenen Faches, sondern grundsätzlich durch alle geeigneten Ärzte erfolgt.
In der Notfallmedizin ist der Generalist mit speziellen Fähigkeiten [1] gefordert, der die notwendige Übersicht über die Notfälle aller Fachgebiete ebenso besitzt wie die Fähigkeit, die Vitalfunktionen unter den jeweiligen Umständen zu sichern.
Der Anästhesist wird dieser Anforderung in besonderem Maße gerecht, ohne dass dies Ärzten anderer Fachgebiete abzusprechen ist. Der Anästhesist wird jedoch in seiner täglichen Arbeit mit Notfällen aller Fachgebiete konfrontiert, und die Sicherung der Vitalfunktionen gehört zu seinen regelmäßigen - und nicht nur gelegentlichen - klinischen Aufgaben.
Notfallmedizin ist Individualmedizin - aber nur bis zu dem Punkt, wo bei einer Vielzahl von Patienten durch die Behandlung des Einzelnen die Prognose anderer unverhältnismäßig verschlechtert würde. Dann ist die Grenze zur Katastrophenmedizin erreicht, die unter dem Druck unzureichender Ressourcen nicht mehr die bestmögliche Versorgung des Einzelnen, sondern die aller Betroffenen anstreben muss. Notfallmedizin und Katastrophenmedizin sind eng miteinander verbunden, und beide können in ein präklinisches und innerklinisches Arbeitsfeld unterteilt werden. Die präklinische Notfallmedizin - auch als Rettungsmedizin bezeichnet - ist gegenüber der klinischen Notfallmedizin durch spezielle einsatztaktische und persönliche Anforderungen in Ausbildung und Belastbarkeit usw. gekennzeichnet, die sich im Bereich der Katastrophenmedizin noch verschärfen und zu denen der spezifische logistische Aspekt hinzutritt.
Der in manchen Ländern erkennbare Trend zu einem eigenständigen Fachgebiet „Notfallmedizin” hat zwar positive Aspekte, aber auch überdeutliche Nachteile. So sehr der Notfallpatient professionelle Hilfe erwarten darf, so sehr steht der „Nur-Notarzt” in der Gefahr, den Kontakt zu den eigentlichen Stamm- und Mutterfächern zu verlieren. Der unmittelbar ziel- und sehr kurzfristig orientierte therapeutische Ansatz kann nur zu leicht zur Verengung des Gesichtsfeldes und darüber hinaus zur Verrohung führen - durch Einbettung in andere patientennahe Tätigkeiten wird dem entgegengewirkt. Gerade dem Anästhesisten wird rasch bewusst, dass die präklinische Notfallmedizin - ebenso wie die Intensivmedizin - mehr als eine approbationsgebundene Tätigkeit ist. Sie ist eine ärztliche Aufgabe im vollen Wortsinn, die zu hoher Berufszufriedenheit führen kann. „Sei, was du bist” - dieser Satz gilt auch hier.
Wo steht die Notfallmedizin in unserem Lande, und wohin geht ihr Weg? Zwar droht mancherorts eine Verknappung an geeigneten Notärzten, aber noch ist unser System nicht wirklich bedroht. Ein hoher Stand ist erreicht, den es zu sichern gilt - und es sind neue und hoffnungsvolle Perspektiven erkennbar, die in diesem Heft exemplarisch aufgezeigt werden. Dies beginnt mit zunächst abstrakt scheinenden wissenschaftlichen Aspekten im Beitrag von Zander et al. zum Volumenersatz - ohne solche Denkansätze ist jedoch kein zielgerichteter Fortschritt möglich. Die Arbeit von Hilbert et al. zum Versorgungsalgorithmus polytraumatisierter Patienten belegt, wie der technische Fortschritt die Abläufe am Patienten konkret verändert. Ob die präklinische Abschätzung des Herzzeitvolumens (siehe Knobloch et al.) einen ähnlichen Stellenwert erreichen wird, darf dagegen bezweifelt werden. Aber auch hier sind Indikationen, z. B. beim Sekundärtransport von Intensivpatienten, denkbar. Bei aller Technik dürfen grundlegende klinische Aspekte wie Anamnese und körperliche Untersuchung nicht in Vergessenheit geraten, worauf die Fallberichte von Genzwürker et al. und Mende et al. eindringlich hinweisen. Ein weiteres manifestes Problem ist die Qualitätssicherung der notfallmedizinischen Versorgung. Dieser Aspekt wird in der kritischen Würdigung von Traumascores durch Kulla et al. wie auch im Beitrag von Schnoor et al. beleuchtet, der sich mit der Einsatzcharakteristik wiederholter Notarzteinsätze befasst. Sowohl in dieser Untersuchung wie auch in vielen vergleichbaren Beiträgen wird das zahlenmäßige Übergewicht der nicht-chirurgischen Notarzteinsätze bei tatsächlichen oder vermeintlichen Notfallsituationen eindrucksvoll belegt. Dass der Notarzt dabei immer mehr zum rund um die Uhr verfügbaren Hausarzt wird, ist eine Tatsache, die nicht nur beklagt werden soll. Neben ökonomischen Aspekten - hier sei nur die Deckung der Basiskosten genannt - weitet eine solche Tätigkeit sehr wohl den (not)ärztlichen Horizont. Unspektakulär-unheroische Einsätze sind nicht minderwertig, sondern ehrenwert, denn auch bei diesen Einsätzen wartet ein Patient auf Hilfe - auch wenn es sich nicht um eine Vitalbedrohung handelt. Notfallmedizin und Notarzt dürfen sich für solche Einsätze nicht zu schade sein. Darüber hinaus ist es eine ärztliche Herausforderung, sich auch präklinisch einmal mit einer Patientenverfügung auseinander zu setzen. Diese sind, wie Gerth et al. belegen, nicht so selten und werden von den Notärzten überwiegend in eine individuelle Abwägung einbezogen, jedoch nur von wenigen strikt abgelehnt oder uneingeschränkt befolgt.
Die Notfallmedizin als interdisziplinäres Fach im Auf- und Umbruch - eine schöne und hoffnungsvolle Perspektive, die auch weiterhin das volle Engagement aller Beteiligten erfordert. Dazu zählen nicht nur die Notärzte, sondern die niedergelassene Kollegenschaft ebenso wie die Kliniker an der Schnittstelle Notfallaufnahme und in der stationären Versorgung, die Rettungsassistenten und -sanitäter ebenso wie die universitäre Lehre und Forschung oder die Rettungsschulen. Die nächste Herausforderung kommt bestimmt - sowohl am Patienten wie beim lebenslangen Lernen, was die gerade überarbeiteten Reanimationsrichtlinien erneut zeigen.
Literatur
- 1 Adams H A. Notfallmedizin - Kernkompetenz des Anästhesisten. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2000; 35 485-486
Prof. Dr. med. H. A. Adams
Zentrum Anästhesiologie
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eMail: adams.ha@mh.hannover.de