Fortschr Neurol Psychiatr 2005; 73 - A5
DOI: 10.1055/s-2005-918091

Histrionische Frauen und narzisstische Männer – Rollenstereotypien oder geschlechtsbedingte Unterschiede bei Persönlichkeitsstörungen

SC Herpertz 1
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Rostock

Im klinischen Alltag gehen in die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen geschlechtsspezifische Rollenerwartungen in erheblichem Maße ein. Dies gilt insbesondere für die sozial besonders negativ sanktionierten Persönlichkeitsstörungen des DSM IV Clusters B. So wird die histrionische Persönlichkeitsstörung intuitiv dem weiblichen Geschlecht, die narzisstische Persönlichkeitsstörung dem männlichen Geschlecht zugeordnet. Empirische Studien zur Geschlechtsverteilung von Persönlichkeitsstörungen können den klinisch verbreiteten diagnostischen Bias größtenteils nicht bestätigen sondern legen nahe, dass sich in den Diagnosen seit Jahrhunderten tradierte gesellschaftliche Vorstellungen abbilden, die sich trotz zunehmender Auflösung geschlechtsspezifischer Rollenstereotypien bis in die Gegenwart halten. Tatsächliche geschlechtsbedingte Unterschiede finden sich am ehesten bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung und der Borderline-Persönlichkeitsstörung und sind Ausdruck eines komplexen Bedingungsgefüges, in das nicht nur gelernte, sondern auch biologisch gebahnte Unterschiede in Verhaltensmustern eingehen. So können genetische Faktoren, wie die x-chromosomal lokalisierte Monoaminooxidase-Aktivität und die Bedeutung von Testosteron für Dominanzverhalten und Aggressivität, den Geschlechtsunterschied bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung zumindest teilweise begründen. Der Beitrag zielt darauf ab, empirisch begründete Geschlechtsunterschiede gegenüber Rollenzuweisungen, die die Geschlechterdemokratie missachten, abzugrenzen.