Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2005; 15 - A59
DOI: 10.1055/s-2005-917917

Quantifizierung sensomotorischer Trainingseffekte mittels Posturographie

R Schwesig 1, A Lauenroth 1, K Hottenrott 1
  • 1Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Sportwissenschaft, Halle

Hintergrund:

Die Messung und Objektivierung sensomotorischer Leistungsmerk- male ist sehr aufwendig und schwierig, da es sich beim sensomotorischen System um ein komplexes, multimodal beeinflusstes und multilokuläres System handelt (Scherer, 1997; Runge, 2002; Quante, 2002). Vor dem Hintergrund des hohen Stellenwertes des sensomotorischen Trainings in Prävention, Therapie und Rehabilitation sowie in Ermangelung valider, reliabler und praktikabler Assessments zur Diagnostik der sensomotorischen Leistungsfähigkeit ist es dringend erforderlich, derartige Verfahren zu entwickeln und zu evaluieren (Werle & Zimber, 1999).

Fragestellung:

Ziel dieser Untersuchung war es, ein neues posturographisches Messsystem, das Interaktive Balancesystem (IBS), auf seine interne Validität hinsichtlich der Parametrisierung der posturalen Subsysteme mittels Fourier-Analyse zu prüfen.

Methode: Anhand von drei Fall-Kontroll-Studien (F 1 [0,03–0,1Hz]: Sehbehinderte (n=88); F 2–4 [(0,1–0,5Hz): Cochlear-Implant Patienten (n=57); F 7–8 [über 1Hz]: Parkinson- und Kleinhirnpatienten (n=60)) und einer artifiziell induzierten Störung der Somatosensorik (F 5–6 [0,5–1,0Hz]: Kälteapplikation (n=88)) wurde die frequenzanalytische (FFT) Repräsentation der einzelnen posturalen Subsysteme (F1: visuell; F 2–4: peripher-vestibulär; F 5–6: somatosensorisch; F 7–8: zentral, cerebellär) quasiexperimentell mittels des IBS überprüft. Das IBS erfasst differenziert auf vier Kraftmessplattformen vertikale Kräfte im Vorfuß– und Rückfußbereich und setzt diese in Beziehung zueinander. Die Untersuchung beinhaltet acht Messungen in standardisierten Testpositionen mit und ohne bzw. reduzierter visueller, peripher-vestibulärer oder somatosensorischer Kontrolle. Die Analyse der posturalen Subsysteme erfolgt mittels Frequenzanalyse (FFT).

Ergebnis: Die Sehbehinderten wiesen in allen posturographischen Parametern bessere Testleistungen auf, wobei insbesondere der signifikante Unterschied (p=0.025) im Frequenzbereich F 1 hervorzuheben ist. Dagegen offenbarten die CI-Patienten, mit Ausnahme der Fersenbelastung, im Vergleich zu den Hörgesunden in allen Parametern Nachteile hinsichtlich der Haltungsregulation als Ausdruck einer tendenziell größeren Instabilität. Bemerkenswert sind die signifikanten Mittelwertunterschiede im Frequenzband F 2–4 (p=0.017), wobei der Frequenzbereich F 3 die größte peripher-vestibuläre Sensitivität zu haben scheint. Der durch die Kälteapplikation an der Fußsohle induzierte Stabilitätsverlust ging einher mit einer erhöhten Aktivität der posturalen Subsysteme. Mit Ausnahme der Frequenzbereiche F 2 und F 3 veränderten sich alle Frequenzparameter signifikant, wobei die größten Veränderungen in den Frequenzbereichen F 7 und F 8 zu beobachten waren. Die Varianzanalyse (M. Parkinsonpatienten vs. Kontrollgruppe) zeigte, dass, unabhängig von der Testposition, in den Parametern F 1 (Effektstärke: 19.7%) und WDI (Effektstärke: 20.5%) die größten Unterschiede zwischen beiden Kollektiven bestehen. Die cerebelläre Problematik manifestierte sich im Frequenzbereich F 8.

Diskussion:

Auf der Basis der Frequenzbereiche der Fourier-Analyse scheint es möglich zu sein, valide und reliable Rückschlüsse bezüglich der posturalen Subsysteme zu ziehen. Übereinstimmend mit Kohen-Raz (1996) und Oppenheim et al. (1999) können auch Veränderungen im Bereich des somatosensorischen Systems auf einen Frequenzbereich (F 5–6) fokussiert werden. Eine Störung im somatosensorischen System tangiert zwar die Frequenzbereiche F 1 und F 7–8 signifikant, was aufgrund der Komplexität dieses Systems auch nicht überrascht. Jedoch waren signifikante Veränderungen im Frequenzbereich F 5–6 nur bei expliziter somatosensorischer Einflussnahme zu beobachten. Der Frequenzbereich F 1 repräsentiert neben dem visuellen System auch das nigrostriatale System.

Schlussfolgerung:

Die Zuordnung der Frequenzbereiche der Fourier-Analyse zu den posturalen Subsystemen stellt einen wichtigen Schritt zur Quantifizierung sensomotorischer Trainingseffekte dar. Sie sollte jedoch keinesfalls als endgültig betrachtet werden. U.U. sind einzelne Frequenzbereiche auch als Indikatoren für mehrere Systeme in Betracht zu ziehen, was in weiteren Untersuchungen abzuklären ist.

Literatur:

Kohen-Raz, R. (1996). Learning Disabilities and Postural Control (2. Aufl.). London: Freund Pubblishing House.

Oppenheim, U., Kohen-Raz, R., Alex, D., Kohen-Raz, A. & Azarya, M. (1999). Postural Characteristics of Diabetic Neuropathy. Diabetes Care 22 (2), 328–332.

Quante, M. (2002). Die Messung sensomotorischer Leistungsmerkmale: Verständnis des Systems über Erfassung von Teilaspekten?. Osteologie 11 (1), 7–9.

Runge, M. (2002). Sturzrisiko-Assessment: Diagnostik der neuromuskulären Regulation als notwendiger Bestandteil der Osteoporosediagnostik. Osteologie 11 (1), 10–17.

Scherer, H. (1997). Das Gleichgewicht. Berlin, Heidelberg, New York: Springer.