Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2005; 15 - A6
DOI: 10.1055/s-2005-917864

Rekonditionierung bei fortgeschrittenem Lungenkarzinom mit Knochen- und Hirnmetastasen? Neuromuskuläre Elektrostimulation als (passive) Trainingsmöglichkeit – ein Fallbericht

R Crevenna 1, M Stieger 1, MY Keilani 1, K Pieber 1, C Zöch 1, V Fialka-Moser 1
  • 1Univ. Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation der MUW, Wien

Fragestellung: Die großen Fortschritte auf dem Gebiet der palliativen Onkologie, welche zwar weniger mit einer Prognoseverbesserung als mit einer Verlängerung der Überlebenszeit der Patienten einhergehen, bedingen, dass besonders hohes Augenmerk auf die (Über-)lebensqualität dieser Patienten zu legen ist. Patienten mit fortgeschrittenen, fernmetastasierten Karzinomerkrankungen zeigen häufig eine ausgeprägte Beeinträchtigung der motorischen Grundeigenschaften „Kraft“ und „Ausdauer“ mit daraus resultierender zunehmender Abhängigkeit in den täglichen Verrichtungen und Beeinträchtigung der (Über-)lebensqualität. Gerade die Steigerung der „Kraft“ mit der Folge einer erhöhten Selbständigkeit ist Anliegen vieler dieser Patienten, die den in der onkologischen Rehabilitation tätigen Arzt aufsuchen. In dieser Falldarstellung wird über die erfolgreiche Rekonditionierung einer Patientin mittels neuromuskulärer Elektrostimulation (NMES) berichtet.

Methode: Präsentiert wird die Kasuistik einer 47-jährigen Lungenkarzinompatientin (NSCLC) mit stark fortgeschrittener Erkrankung, welche aufgrund einer zunehmenden Muskelschwäche (v.a. bei Streckung in Hüft- und Kniegelenken) eine Trainingstherapie in Anspruch nehmen wollte. Die Patientin konnte zum Zeitpunkt der Erstvorstellung zwar ihrem Beruf als Umwelttechnikerin stundenweise nachgehen, wurde aber durch die ausgeprägte muskuläre Schwäche in ihren (beruflichen und privaten) täglichen Verrichtungen zunehmend einschränkt. Neben frustranen Versuchen einer chemotherapeutischen Behandlung der Grunderkrankung waren aus der Anamnese der Patientin weiters stereotaktische Operationen und eine Ganzhirnbestrahlung wegen zerebraler und zerebellärer Sekundaria, sowie ossäre Metastasen im Bereich des Achsenskeletts mit pathologischer Impressionsfraktur (TH3) bekannt. Die Klinik der Patientin wurde durch rezidivierende Pleura- und Perikardergüsse, Thrombosen und eine stattgehabte Pulmonalembolie zusätzlich erschwert.

Das fortgeschrittene Krankheitsbild der Patientin mit Hirnmetastasen (erhöhte Krampfneigung bei Hyperventilation im Rahmen eines aktiven Ausdauertrainings) und Knochenmetastasen (erhöhte Gefahr pathologischer Frakturen vor allem bei aktivem Krafttraining) führten aufgrund der dadurch vorhandenen potentiellen iatrogenen Gefährdung zu einer kritischen Bewertung der Möglichkeit einer aktiven Trainingstherapie. Deshalb wurde mit dem vorrangigen Ziel der Steigerung der motorisch Grundeigenschaft „Kraft“ eine ambulante NMES an unserer Abteilung eingeleitet, wobei die Gluteal- und Oberschenkelstreckmuskulatur (pro Therapieeinheit jeweils 30 Minuten pro Muskelgruppe) beider Beine via Oberflächenelektroden fünfmal wöchentlich über einen Zeitraum von vier Wochen stimuliert wurde. Im Rahmen dieser NMES wurde ein biphasischer Schwellstrom („Kraftprotokoll“ eines gängigen Geräteherstellers) appliziert. Vor und nach der Therapieserie wurde die Lebensqualität der Patientin mittels SF-36 Health Survey evaluiert. Da aus obengenannten Gründen sowohl eine Ergometrie (Gefahr des epileptischen Anfalls) als auch eine Dynamometrie (Gefahr der pathologischen Fraktur) kontraindiziert waren, wurden als relativ „schonendere“ funktionelle Tests der „6-minute walk“ (sechsminütiger Gehtest) und der „Timed up and go“ (Aufsteh- und Gehtest) durchgeführt.

Ergebnis: Neben einer im ärztlichen Kontrollgespräch angegebenen deutlichen Zunahme von Kraft und Ausdauer (!) zeigte die Patientin nach Abschluss der Therapieserie in beiden funktionellen Tests eine Verbesserung („6-minute walk“ von 420 auf 603 Meter, „Timed up and go“ von 6 auf 5 Sekunden). Diese Leistungssteigerung wurde von einer ebenso deutlichen Verbesserung der Lebensqualitätsdomänen „Körperliche Leistungsfähigkeit“, Körperliche Rollenfunktion“, „Emotionale Rollenfunktion“, „Mentale Gesundheit“, „Körperliche Schmerzen“, „Vitalität“ und „Allgemeiner Gesundheitszustand“ begleitet. Lediglich für die Domäne „Soziale Kompetenz“ wurde nach der Therapieserie ein schlechterer Wert angegeben, was auf gezieltes Nachfragen jedoch auf therapiebedingte (Zeitaufwand!) zusätzliche „Ausfälle“ in Freizeit und Beruf zurückzuführen war. Der Patientin wurde nach Abschluss dieser Therapieserie aufgrund des hervorragenden Therapieerfolges die weitere Fortführung der NMES angeraten und aus Gründen der Kosten- und Zeiteffizienz ein Heimtherapiegerät rezeptiert.

Diskussion: Diese Falldarstellung weist darauf hin, dass bei Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung und Sekundaria, die ein aktives Training verbieten, (passives) Training mittels NMES eine sinnvolle Ergänzung zur Rekonditionierung und Verbesserung der (Über-)lebensqualität darstellen kann.